Über artarium

Seit Herbst 07 "das etwas andere Kunnst-Biotop" in der Radiofabrik und seit Anfang 09 daselbst "im Schatten der Mozartkugel" als Artarium unterwegs. Immer auf der Suche nach neuen Gästen, Themen und Gestaltungsformen... Hochfrequenter Wortwetz- und Mundwerksmeister zwischen Live-Unmoderation und Poesie-Performance. Psychodelikate Audiocollagenkunst, stimmungsexzessive Hörweltendramaturgie, subversiver Seelenstriptease, unverzichtbares Urgewürz und... In diesem Unsinn zeig ich euch hier einen tieferen! Ab- und hintergründige Neu- und Nettigkeiten aus der wundersamen Welt des Artarium, seinen Gästinnen und Hörerichen. Kunnst mi eigntlich gern ham. So do mi - i di a! Bussal...

Navigating by the Stars

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. FebruarWir spielen heute das ganze Album “Navigating by the Stars” von Justin Sullivan, dem wir über die Jahre schon in vielerlei verschiedenen Facetten seines Schaffens begegnet sind. Zunächst einmal in seiner bekanntesten Erscheinungsform als Sänger und Texter von New Model Army oder im Anagramm ihrer selbst Raw Melody Men. Sodann auch gemeinsam mit Joolz Denby als Teil des Trios Red Sky Coven, das Musik mit Geschichten und Gedichten verknüpft. Und nicht zuletzt als genauso feinsinniger wie gefühlvoller Kulturkritiker, der uns bei generellen Gedanken zum Wesen des Zuhörens befruchtete. Also wenn sich jemand schon so oft und auf vielfältige Weise in unseren Sendungsthemen und Musikauswahlen bemerkbar gemacht hat – dann bitte auch sein erstes Soloalbum!

Justin Sullivan - Navigating by the StarsDoch einmal abgesehen von der reinen Vollständigkeit des lyrischen Kosmos gibt es ein paar weitere Gründe, weshalb wir Navigating by the Stars für höchst hörenswert erachten und es euch daher auch unbedingt ans Herz legen wollen. Ich zum Beispiel mag keine in die Jahre gekommenen Poseure, die wie ständig wiederauferstehende Folklorezombies eine einstmals eingeschlagene Stilrichtung zum Blödspaß und Kassengeklingel des Publikums bis zum Erbrechen wieder und wieder wiederholen. Das hört (und spürt) sich für mich an wie tagein tagaus das Immergleiche essen und dabei nicht einmal merken, dass es längst fad schmeckt. Justin Sullivan dagegen ist ein Künstler, dessen Gefühlswelt und Ausdrucksform sich seiner Lebenserfahrung gemäß verändert, ohne dass seine Person dabei nicht mehr zu erkennen wäre. Das ist durchaus etwas Erwähnenswertes in diesen Zeiten gestaltloser Beliebigkeit um des Geldes Marktes Erfolges willen. Ihn beschäftigen die Themen, die das Leben in seine Welt spült, mit zunehmendem Alter anders als früher und das hört man auch.

Schon auf früheren Alben von New Model Army finden sich einige ruhige, nach innen gekehrte Balladen, die von Endlichkeit und Verwandlung erzählen, wie zum Beispiel das zutiefst berührende “Marrakesh”. Oder das ganz stille Lied “Nothing Touches”, in dem eine zunehmende Gefühllosigkeit und das gleichzeitig vorhandene Bedürfnis nach unmittelbarer Berührung dargestellt werden. Jetzt zum Vergleich “Sentry” aus Navigating by the Stars, das die andauernde Ambivalenz von einerseits Sinnsuche und andererseits Zusammenhanglosigkeit in Gestalt des einsamen Soldaten zeigt:

I’ve seen so much more than I wanted to see
The flies all swarming round in the blistering heat
Layer upon layer here of the same old curse
The red blood draining until the blood red earth
In the end we tell the stories just the same
And only the names are changed

Dass wir mit diesen Gefühlen nicht am Grund des Abgrunds aufschlagen (und gibt es in der Bodenlosigkeit überhaupt so etwas), das vermittelt uns auf vielfältige Weise (im Text, in der Musik, in der Stimmung, im Arrangement) das in unseren Augen und Ohren Meisterstück dieses Albums “Green”. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Übergangs von einer Welt in die nächste, von einer Gefühlsbefindlichkeit in die Erweiterung derselben und von einem Bewusstseinszustand in einen anderen (um hier nur einige zu nennen). Nie war Fliegen beim Zuhören selbstverständlicher

Tonight again I′ll dream I’m walking across the room in the moonlight
I′ll throw the windows open wide
Smell the falling dew outside
I’ll climb out onto the roof
Close my eyes
And I’ll begin to fly

 

Verdrängungen

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Februar – Rainer Maria Rilke drückt es in seinem bekannten Buch Briefe an einen jungen Dichter folgendermaßen aus: “Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im Grunde das Hilflose, das nur von uns Hilfe will.” Und Peter Gabriel sagt in seinem Song Darkness über jenes Abgespaltene in uns, das einerseits wunderbares Leben verspricht – das zu spüren uns andererseits mit Todesangst erfüllt: “The monster I was so afraid of lies curled up on the floor, is curled up on the floor just like a baby boy. I cry until I laugh.” Verdrängungen aber sind so viel mehr als nur ein psychologisches Phänomen, das uns durch Herausfiltern und Ausblenden sich aufdrängender Überreizung schützt.

VerdrängungenWir kennen Verdrängung meist aus dem Zusammenhang unrühmlicher “Vergangenheitsvergewaltigung”, womit ein hierzulande verbreitetes “So tun, als ob nichts gewesen wäre” als Reaktion auf das Trauma des 2. Weltkriegs sowie aller damit einher gehenden Schrecklichkeiten des Nationalsozialismus beschrieben wird. Und als individuelle Antwort der Psyche auf Bedrohung, Verletzung und jede andere außergewöhnliche Belastung. Ganz Österreich, so könnte man daher sagen, ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Und wir möchten da antworten: Ganz Österreich? Nein! Ein von unbeugsamen Kindern bevölkertes Radio hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten … Und so nähern wir uns dem magischen Vorhang, der uns von uns selbst trennt, während wir ganz weit hinten im Unbewussten wissen, dass wir mit dem, was wir nicht spüren können, schon immer verbunden sind und es auch immer sein werden. Es müssen andere Verdrängungen geschehen als die, die wir zu kennen glauben.

VerdrängungenEine andere Wirklichkeit dringt unmerklich ein und verdrängt wie von selbst die bisherige. So wie (ja, es muss wieder ein Scheißbeispiel her) ein anderer Stamm von Darmbakterien, der das Verdaute zu wohlgeformter Wurst verklärt, jene bisherigen verdrängt, die sich unförmiger bis hin zu formlos auf das auswirken, was wir stets unbemerkt verstoffzuwechseln trachten. Oder wie eine neue Luftmasse aus wärmeren Gefilden den schon viel zu lange im Talkessel gestauten Kaltluftsee einfach ob ihrer schieren Ausbreitung daraus hervor verdrängt. Diesen Bildern ist eins gemeinsam – sie verdeutlichen Vorgänge, die in unserer inneren Entwicklung genauso stattfinden wie rund um uns in der Natur. Warum also leiden wir wie die Zerrissenen am Nichtzusammenkommen mit uns selbst, wo doch überall, vom Klima bis ins Gedärm, alles so zueinander findet, wie es sein soll? Liegt es vielleicht daran (und Klima ist hier ein gutes Stichwort), dass wir durch menschliche Einwirkungen von unserer Natur (und der Natur im allgemeinen) entfremdet worden sind? Der gespaltene Mensch, ein Zivilisationskrüppel, der sich für den Rest seines Daseins nur noch mühsam auf den Krücken einer künstlichen Intelligenz durch die zerfallenden Landschaften seiner untergehenden Welt schleppt?

VerdrängungenVerdrängungen. Aus der Bedrängnis entspringt ein Drang. Ein dringendes Bedürfnis, all die sich fortwährend vordrängelnden Aufdringlichkeiten der Zivilisationskultur irgendwohin abzudrängen, wo sie uns nicht mehr beim Scheißen stören (will sagen beim Selbstwerden und Verdauen).

Was will uns der Dichter sagen?

Im Verdrängten liegt die Kraft

dring, drang, drung – Verdrängtes treibt uns um
steuert heimlich oder schläft bis zur Explosion
schützt zwar eine Zeit lang gut doch wird alsbald zu Gift
so drängt das Stillgemachte ohne Dringlichkeit
will wieder sprechen, singen und aus der Versenkung
heraus zurück zum Rest, der ja nur darauf wartet
die Ausgestoßenen in die Arme zu nehmen
dring, drang, drung – Verdrängtes treibt uns um

Verdrängungen eben ….. Gfrei di

 

Leoparden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. Januar – Warum eröffne ich die heutige Sendung mit einem Joseph-Goebbels-Zitat? Wo es doch eigentlich um mein ganz persönliches Begleitwesen gehen soll – den Leoparden. Das hat viel mit dessen Vielgestaltigkeit in meinem Leben zu tun, taucht er oder sie (und manchmal sind es auch viele) doch oft als Beschützer, als Weggefährte, als Ideenspenderund als zutiefst beruhigende Erinnerung an meine Lebendigkeit auf. Meine ursprüngliche Wesensart, die jahrzehntelang unter traumatischen Verrenkungen verschüttet vor sich hin schwelte, in der zugemüllten Umgebung von Familienangehörigen, die durch ihren Glauben an den Nazischwachsinn geradezu lebensgefährlich waren für jedes lebenwollende Kind (wie ich eines war – und nach wie vor bin). So reimt sich das

Panther sind eben auch LeopardenDer Panther, den Rilke in seinem Gedicht so meisterlich beschreibt, ist übrigens ebenfalls ein Leopard. Das wusste ich mit ungefähr sieben Jahren noch nicht. Damals verliebte ich mich in einen der 3 Jungs aus der Comicserie Roy Tiger, nämlich Khamar, der mit seinem Begleittier Sheeta (einem schwarzen Panther) nicht nur irgendwie kommunizieren konnte, sondern von ihm sogar aus realen Gefahren gerettet wurde. Sowas wollte ich auch, und zwar dermaßen, dass ich mir von meiner Mutter zu Ostern nichts anderes wünschte, als eine Begegnung mit diesem Typen, egal ob in Salzburg oder in Indien. Ihre Antwort war niederschmetternd und versetzte mein Verständnis von Phantasie und Realität (und ihr sich wechselseitig bedingendes Verhältnis) für lange Zeit in einen unlösbaren Konflikt. Ich erhielt am Ostermorgen einen Brief von Khamar, allerdings in ihrer Handschrift, die ich sogleich erkannte. Das allein schon war eine Beleidigung.

Der Inhalt des Briefs jedoch zerstörte meine Welt. Mein Angebeteter teilte mir darin mit, dass ein Treffen mit mir unmöglich sei, und zwar mit folgender Begründung: “Mich gibt es nur in deiner Phantasie, nicht aber in der Wirklichkeit.” In der Handschrift meiner Mutter wohlgemerkt. Damals verließ ich sie innerlich für immer und kam auch später nur noch in manchen Bestandteilen wieder zu ihr zurück, soweit dies für mein Überleben eben notwendig war. Heute zerknurren mir meine Leoparden diese Angst, die mich so lang davon abgelenkt hat, mich selbst wieder als Ganzes zu erleben.

Was das jetzt wiederum mit Wolfgang Niedecken zu tun hat? Einmal abgesehen von den Leoparden-Assoziationen, die sein meisterliches Bob-Dylan-auf-Kölsch-Album “Leopardefell” bei mir hervorruft, ist er ein Bruder im Geist, was das Verbearbeiten von traumatischem “Nicht-mehr-miteinander-reden-können” oder “Einander-nicht-mehr-erreichen” anbelangt. In seiner Autobiographie “Für ’ne Moment” beschreibt er beeindruckend, wie schleichend das Schweigen zwischen ihm und seinem Vater ausbricht. Bei “Diskretion” aber beginnt jemand in mir erkennend zu schnuppern

Verdammp lang her   …   Den Text von BAP auf Kölsch und Hochdeutsch gibts hier.

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

Auf in ein neues Jahr

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 12. Januar – Nachdem wir im letzten Jahr bis zur Wintersonnenwende vorgedrungen sind, jener finstersten aller Nächte, in der das Licht des Lebens zum einen verschluckt zu werden droht und zum anderen doch in seltener Klarheit vom Grund allen Seins hervor glitzert, wenden wir uns jetzt dem neuen, noch ungestalteten Jahr zu. Dem wohnt, und das ist wohl bei jedem Neuanfang so, “ein Zauber inne, der uns beschützt und der uns hilft zu leben”. So steht es geschrieben, jedenfalls bei Hermann Hesse, und dem wohnt überhaubst einiges an Wahrheit inne, liebe romantische Rebellen und alle Menschen, die hier zuhören. “Out of the Dark – Into the Light”, das ist so ein Seelenthema zwischen Weihnachten und Neujahr – und weit darüber hinaus in vielerlei Lebensaspekten.

Auf in ein neues JahrSchon bei der Auswahl einer entsprechenden Bebilderung kamen die beiden gleichzeitig vorhandenen Aspekte der noch nicht Gestalt gewordenen, doch bereits erkennbaren Eigenheit dieses gerade erst begonnenen Jahres zur Geltung. Dazu drängte sich die gespiegelte Perspektive von feststehenden Bäumen durch bewegtes Wasser auf, Lichtspiel zahlloser möglicher Formen hinter all dem, was im Augenblick zu erscheinen scheint. Und genauso ergeht es uns auch bei der Auswahl der verschiedenen Hörbeiträge – ganz egal ob da am Fenster eine Kuh vorbeifliegt oder ob das in dem Fall Socken sind – es spielt diesmal vieles mit unserer Wahrnehmung und mit unseren Gewohnheiten, deren Befreiung aus dem unverspielt Eingekasterlten oftmals erst im surrealen Moment gelingt. Dies sollte uns aber keine Angst vor dem Verlust jeglicher Orientierung machen, zumal die ja ohnehin aus ganz anderen Erfahrungen des “am Leben Seins” gespeist wird …

Auf in ein neues JahrNatürlich wird uns dieser Übergang von einem alten in ein neues Jahr mit unseren bisherigen Erlebnissen sowie mit dem, was wir uns wünschen und demgemäß vorhaben, konfrontieren. Und es wäre kein organischer Übergang, wenn nicht auch der Titel unserer letzten Nachtfahrt zusammen mit dem Titel der nunmehrigen einen sinnstiftenden Satz bilden könnte: “Durch die Nacht … auf in ein neues Jahr.” Vorbehaltlich dessen, was nicht in unserer Macht liegt. Das Unverfügbare ist eben unverfügbar – doch wo es beginnt und wo es endet (und ob überhaupt) – das bleibt offen. Und so schöpfen wir aus aus unseren gemeinsamen Radioabenteuern und werfen unsere Entwürfe für etwas Neues voll vewegenen Vertrauens in die Welt. Dieses noch Unbekannte, jedoch in der Rückschau auch immer schon Vorhergewusste ist unser Selbstdarleben im Zwischenreich der Gestaltwerdung. Wir balancieren auf einem schmalen Grat zwischen dem Geplanten und dem sich Ereignenden, über ein Meer aus Bewusstem und Unbewusstem und aus fortwährend vom einen ins andere Übergehendem. Und wir lernen die Kunst, dies sowohl zu steuern als auch geschehen zu lassen, ohne dabei zu verzweifeln oder den Verstand zu verlieren

Auf in ein neues JahrZu abgründig? Nun, wir sehen dem neuen Jahr, in das wir uns auch mit euch gemeinsam aufmachen, voller Zuversicht entgegen, dass es so gut und schön wird, wie wir es vorhaben. Es gibt keinen Unterschied zwischen Abgrund und Glückseligkeit, bloß zwei Seiten ein und desselben. Wir sind sowieso damit beschäftigt, die Welt zu reparieren, und das ist das beste Jahresmotto, das uns bislang untergekommen ist. In diesem Sinn wird es auch heuer wieder genug Platz für die widersprüchlichsten Stimmungen in unserem Radiotum geben, und wir laden euch ein, dieselben gemeinsam mit uns zu durchwandern, sie euch anzuverwandeln – und dadurch besser zu verdauen, was uns allen vollkommen zu Recht schwer im Magen liegt. Auf ein fröhliches Scheißen, möchte man da sagen. Und wer schon einmal tagelang an Verstopfung gelitten hat oder die Lebensgeschichte von Martin Luther kennt, der kann nachempfinden, was das alles mit Erlösung zu tun hat. Allen anderen wünschen wir ein erfahrungsreiches

Ach Herrgott, jetzt zeig doch mal bitte den verschissenen Hasen!

 

Tarot Suite (Mike Batt & Friends)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JanuarDas neue Artariumjahr beginnt mit einem ganzen Album, nämlich ­“Tarot Suite” von Mike Batt & Friends. Und was für Friends da versammelt sind: Neben dem London Symphony Orchestra treten da etwa Rory Gallagher, Roger Chapman, Mel Collins und natürlich der Meister selbst (an den Keyboards) auf. Umso erstaunlicher, dass dieses grandiose Konzeptalbum aus dem Jahr 1979 in der Musikwelt weitgehend unbeachtet geblieben ist, was sich an diesem Artikel/Thread beispielhaft nachvollziehen lässt. Woran auch immer das liegen mag (wahrscheinlich ein sehr multifaktorielles Geschehen), wir erachten “Tarot Suite” für ein sträflich unterschätztes Meisterwerk der Musikgeschichte. Hier begegnen sich Klassik und Rockmusik in einer seltenen Synthese, gehen geradezu ineinander auf.

Mike Batt and Friends - Tarot SuiteDazu kommt noch die vielschichtige Konzeptarbeit, die jedes einzelne Musikstück mit mehreren Aspekten der “Großen Arkana” (Tarotkarten) verknüpft. Dies wurde im Artwork des Albums (wie zu jener Zeit nicht unüblich) hingebungsvoll erläutert – und stellt doch nur eine von vielen Ebenen der ganzen Geschichte dar (was bei der Komplexität der darin verhandelten Themen verständlich ist). Mir ist dieses epische Werk zu Beginn der 80er Jahre durch einen Zufall begegnet, als ich es nämlich  in einem Lokal hörte und sogleich davon fasziniert war. Es war “aufs erste Hinhören” so viel Verschiedenartiges auf einmal wahrzunehmen, dass ich mir diese im wahrsten Wortsinn symphonische Dichtung unbedingt besorgen musste, um sie einerseits allein und andrerseits mit kunstsinnigen Freunden gemeinsam wieder und wieder anzuhören, mir die vielen darin versteckten Geschichten sozusagen Schicht um Schicht zu erschließen. Das ging dann soweit, dass wir vier Unzertrennlichen eines Nachts in Begleitung dieses Soundtracks für Seelenreisende rundum illuminiert ins Steinerne Theater pilgerten.

Gerade im Salzburg der 70er Jahre, wo der scheinbar für alle Zeiten einbalsamierte karajanoide Kanon das einzig wahre und ewiggültige Kunstverständnis nachgerade flächendeckend (bis in unsere Herzen und Hirne) verbreitete und es mit Zähnen und Klauen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigtegerade in dem Kontext war symphonische Musik, die zum Beispiel völlig selbstverständlich eine E-Gitarre als Soloinstrument im Orchester verwendete, schon eine ordentliche Offenbarung. Und dann erst der Inhalt: Eine Erzählung für eine emanzipatorischen Entwicklung.

Vieles davon wird in dem rockigen Titel “Imbecile” erkennbar, der die Tarotkarten des Narren sowie des Magiers zu einem Zwiegespräch versammelt, das an seinem Ende in ein friedvolles Verständnis des jeweils Anderen übergeht und so eine Perspektive des Wandels erzeugt. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verwandelt sich in ein Wir. Das, was uns – in allem was uns trennt – gemein ist, tritt als das hervor, was wir gemeinsam sind. Diese letzte Strophe – meisterlich dargeboten von Roger Chapman – soll uns hier textlich auf die inhaltlichen Ebenen einstimmen:

 

“We both are right”, said the sorcerer
“And both of us are wrong
For though we walk this road we don’t know where it leads
We only know it’s long

You have something to learn from me
And I can learn from you
You with your jokes and simple plans
And me with my tricks and sleight of hands
Together we could get through

Imbeciles, we are dancing down a darkened road
Though the stars are out, not one of us knows the way
Imbeciles up ahead of us and millions more behind
And we’re laughing and smiling
That’s why I say we’re all of us Imbeciles”

 

Karajan wouldn’t have liked it.

 

תיקון עולם

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. DezemberTikun Olam, was etwa soviel bedeutet wie “die Welt reparieren”, ist mein neuer Lieblingsbegriff. Und weil er aus der jüdischen Kultur kommt, ist das auch die Gelegenheit, einen Titel in hebräischer Schrift zu verwenden. Dies allerdings liksbündig:                                           תיקון עולם    Und ab da wirds anspruchsvoll. Wir reparieren uns eine Welt oder Wilkommen beim Gehirnhälftentraining. Der Begriff Tikun Olam vermittelt nämlich ein weites Spektrum an Bedeutungen, und da sollte man schon selbst ein bisserl auf die Suche gehenWir verdichten das, was wir dabei empfinden, in ein nach vielen Seiten mögliches Jahresmotto, mit dem wir zudem noch ein Statement zum Wert des Judentums für unsere eigene Kulturwahrnehmung verknüpfen. Womöglich auch eine Geschichte.

תיקון עולם (Tikkun Olam)Als ich 10 Jahre alt war, lebte ich eine Zeit lang in den USA und besuchte dort auch die Schule sowie in den Ferien das übliche Summercamp. Eines Tages betraten einige Mitkinder, die sich zu einer Art “Gang” zusammengeballt hatten, unsere Hütte, beschimpften mich als “Kraut” oder eben “Scheißnazi” und wollten mir in den Koffer brunzen. Denen stellte sich David, ein kleiner jüdischer Bub, entgegen. Und indem er sagte, dass ich sein Freund sei und er mich beschützen würde, stellten sich immer mehr andere Kids mit ihm auf meine Seite, so dass die Möchtegernmobster schließlich kleinlaut wieder abgehaut sind. Versteht ihr? Der kleine David hat mir die Welt repariert. Und diese Lichtgeschichte ist mehr als nur eine Randnotiz. Sie ist das Evangelium schlechthin (wenn wir einen Begriff wie “Gute Neuigkeit” wirklich erfassen und jeden Menschen als möglichen Erlöser – für sich selbst wie auch für andere – verstehen wollen). Und das tun wir. Weihnachten hin, Wintersonnwend her. Die Ironie der Geschichte oder der diese Geschichte erst so richtig abrundende Treppenwitz des Universums ist ja, dass ich erst 50 Jahre später die Naziverstrickungen meiner Vorfahren entdeckte. Und genau da taucht dieses תיקון עולם als ein übergreifendes Lebensmotto wieder auf.

Apropos Weihnachten, wie habt ihr das diesmal so erlebt? Schön schrecklich oder eher schrecklich schön? Mich quält ja gerade zu dieser Jahreszeit der inflationäre Gebrauch von Weihnachtsklischees für die vorgebliche “Normalbevölkerung” im Fernsehprogramm. Weihnachtsbezogene “Unterhaltung für die ganze Familie” ist für mich, bei allem Verständnis für die Lebenssituation einzelner Menschen, eine fortwährende Beleidigung meines Geistes. Und da hat mir heuer – mittendrin – der löbliche Fernsehsender arte “die Welt repariert”. Mit dem Film “Der Schneeleopard”.

In diesem Sinn wünschen wir es uns allen.                                              תיקון עולם

 

Schreib das auf …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. Dezember – Es begann damit, dass ich vor einiger Zeit abgründige Ängste und Sorgen in meinem Denken entdeckte, die aus den Umständen und Erfahrungen meines Lebens nicht hinreichend erklärbar waren. Es kam mir so vor, als fände in mir mehr als nur mein eigener Krieg statt, als ließen mich unentrinnbare Urteile eines unsichtbaren Weltgerichts nicht im Frieden mit mir leben. Um etwaige seit Generationen in die Geschichte meiner Familie eingravierte Schreckstarren von mir und meiner eigenen Erinnerung unterscheiden zu können, ging ich auf die Suche nach der Zeit, über die meine Verwandten mir gegenüber so beharrlich geschwiegen hatten. Dabei hat mir das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch (aus dem 1. Weltkrieg) mit dem Titel “Schreib das auf, Kisch!” sehr geholfen.

Schreib das auf - Postkarte 1912Denn “der rasende Reporter”, der 1908 die sogenannte Redl-Affäre aufdeckte und ein Wegbereiter des investigativen Journalismus in Österreich war, beschreibt darin die Zustände an der Balken/Serbien-Front 1914, wo zur selben Zeit auch mein Großvater im Einsatz war. Um mich selbst besser zu verstehen, wollte ich mehr darüber erfahren, was der dort alles erlebt hat – und worüber nach Ende des 1. Weltkriegs nicht gesprochen werden konnte, wiewohl es in der Gefühlswelt aller Beteiligten auf zerstörerische Weise fortwirkte. Hier liegt ein detailliertes literarisches Zeugnis aus der Hand eines journalistisch geschulten Beobachters vor, das nicht nur die Kampfhandlungen selbst sowie die Lebensumstände der Soldaten an der Front schildert, sondern auch die zunehmend verlogene Kriegspropaganda und deren Auswirkungen auf die Stimmungslage der kämpfenden Truppe kritisch reflektiert.

Wir gestalten eine Zeitreise in die persönliche Wahrnehmung des Einzelnen, der zwischen Kriegsgräueln und Friedenssehnsucht seine eigene Sicht auf die Welt bewahrt. Und wir schauen durch seine Augen auf eine geistesgestörte Hierarchie, die sowohl die eigenen Soldaten als auch die serbische Zivilbevölkerung ohne mit der Wimper zu zucken in die Zerstörung stürzt. Weiterführende Literatur über die Hintergründe dieser Wahnsinnigen haben wir auf Empfehlung eines Großmeisters der Geschichtsschreibung, Prof. Manfried Rauchensteiner, zudem mit einbezogen.

Bei aller äußeren Betrachtung einer “Welt voller Krieg” (in der Gegenwart wie in der Vergangenheit) soll hier die grundlegende Motivation dieser Untersuchung nochmals hervorgehoben werden: Es geht mir um meinen inneren Frieden mit dem, was meine Vorfahren gemacht und was sie erlitten haben, wovon ihre Ängste und Hoffnungen gespeist wurden – und was sich über Generationen hinweg in vielen von uns oftmals unbemerkt weiter auswirkt. Eine Welt voller Unrecht, Gewalt und Zerstörung, die wir offenbar in uns tragen und die in eine Welt voller Frieden verwandelt werden muss.

Den Hasen dieser Welt wünsch ich mehr als nur einen kurzen “Weihnachtsfrieden”.

Schreib das auf …

 

Gedichte durch die Dunkelheit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. DezemberRobert Gwisdek (auch als Käpt’n Peng bekannt) sagt in einem Interview: “Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen. Nicht, dass es einem hilft, dass man eines hört. Aber es kann einem helfen, eines zu schreiben.” Dies charakterisiert auch das Verhältnis von Dichtung und Dunkelheit im Leben jener beider Lyrikerinnen, denen wir uns heute zuwenden wollen. Christine Lavant und Hilde Domin haben auf verschiedene Weise sowohl persönliche Schicksalschläge als auch “die dunkelste Zeit unserer Geschichte” überstanden – und die dabei erlebte Dunkelheit hat ihre Gedichte geprägt. Eben dadurch üben sie eine ganz besondere Kraft auf uns aus.

Gedichte durch die DunkelheitChristine Lavant litt schon seit frühester Kindheit an schweren Krankheiten und bekam deshalb kaum nennenswerte Schulbildung mit auf ihren zähen Lebensweg, der immer auch ein Leidensweg war. Nichtsdestotrotz begann sie schon bald, inspiriert von Rainer Maria Rilke, selbst zu schreiben. Die Zeit des Nationalsozialismus, die für sie als chronisch kranke und an Depressionen leidende Frau im höchsten Maß lebensgefährlich war (durch die damals beschönigend “Euthanasie” genannte “Vernichtung unwerten Lebens”), überstand sie in radikalem Rückzug und empfand sich dabei als “zu völliger innerlicher Stummheit verurteilt”. Nach Ende des (heute beschönigend “Zweiter Weltkrieg” genannten) allgemeinen Vernichtungswahnsinns brach das Dichten nachgerade “aus allen Rändern” aus ihr heraus. Bestimmt nicht zufällig enthält ein Kindereuthanasie-Mahnmal in Leipzig diese ersten zwei Zeilen:

Das ist die Wiese Zittergras
und das der Weg Lebwohl,
dort haust der Hase Immerfraß
im roten Blumenkohl.

Die Rosenkugel Lügnichtso
fällt auf das Lilienschwert,
das Herzstillkräutlein Nirgendwo
wird überall begehrt.

Der Hahnenkamm geht durch den Tau,
das Katzensilber gleißt,
drin spiegelt sich die Nebelfrau,
die ihr Gewand zerreißt.

Der Mohnkopf schläfert alle ein,
bloß nicht das Zittergras,
das muss für alle ängstlich sein,
auch für ein Herz aus Glas.

Hilde Domin hingegen besuchte ein Mädchengymnasium und studierte anschließend Rechts-, Sozial- und Staatswissenschaften, bevor sie “in allerletzter Minute” über England in die Dominikanische Republik fliehen konnte (sie wäre sonst im Deutschen Reich zur Vernichtung als Jüdin vorgesehen gewesen). Schon im Jahr 1930 hatte sie “Mein Kampf” gelesen und war dadurch zur Überzeugung gelangt, “dass Hitler das, was er da geschrieben hatte, auch ausführen würde”. Sie begann erst mit Ende 30 im Exil zu schreiben, “als Alternative zum Selbstmord”, wie sie es später einmal sagte. Ihre Gedichte sind durch die Unsicherheit der zerbrechlichen Existenz inmitten von unvorhersehbaren Ereignissen geprägt und ringen dabei auf beeindruckende Weise um ein nächstes Vertrauen, das irgendwo unter, hinter, neben dem Zerstörten ist.

“Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.”

 

The Blue Notebooks

> Sendung – Artarium vom Sonntag, 10. Dezember – Heute stellen wir euch, ganz passend zur Jahreszeit, eine etwas sehr andere Musikwelt vor. Und zwar in Gestalt des ersten Albums, das Max Richter bei FatCat Records veröffentlicht hat. Warum wir ihn und seine Kompositionen als “etwas sehr anders” beschreiben, mag diese kleine Geschichte beleuchten: “Ich schickte FatCat mein Demo unter anderem, weil ich das erste Album von Sigur Rós gehört hatte, und es klang für mich wie Arvo Pärt mit Gitarren. Ich wusste also, ich würde dort gut aufgehoben sein.” Dabei handelt es sich um “The Blue Notebooks” (2004), dessen Entstehung von den Tagebüchern von Franz Kafka inspiriert ist, zu denen auch Denis Scheck Bemerkenswertes mitteilt. Eine Musikwelt, die eine starke Wirkung auf uns entfaltet, und darum geht es auch.

Max Richter - The Blue NotebooksIn dieser vordergründig klassisch anmutenden Orchestermusik sind vielfältige Einflüsse mit durchaus modernen Produktionstechniken zu einem Gesamtklangraum von hochwirksamer Qualität verbunden worden, der weit jenseits jedweder Vorstellung oder Erwartbarkeit im Bereich des noch nicht Gestalteten ansetzt. Eine bewegende Berührung im Ursuppentopf der Phantasie, aus dem beim Zuhören, eigentlich beim sich darauf einlassen und in eigene Schwingungen geraten, etwas “Neues” entstehen kann, und zwar in dem Sinn, dass man dieses womöglich schon länger in sich trägt, ihm jedoch bislang noch keine entsprechende Gestalt verliehen hat. Als ob auf geheimnisvolle Weise etwas von dem unbewussten Wissen, das in uns vor sich hin “schlummert”, dazu aufgerufen würde, sich endlich einmal unübersehbar auszuwirken. Was macht der Mann da mit uns? Passiert ihm das einfach – oder hat er eine Ahnung davon, was er da bewirkt? Dazu könnten wir auf den Titel “On the Nature of Daylight” eingehen, der inzwischen vielfach übernommen, verbearbeitet und wiederveröffentlicht wurde.

“What I wanted to try and do was to try and create something which had a sense of luminosity and brightness, but made from the darkest possible materials. So it’s almost like an alchemical, transmuting-base-metal-into-gold, process.” So beschreibt Max Richter die Arbeit mit diesem Stück in einem Interview. Und das erhellt sowohl seine Arbeits- als auch die Wirkweise seiner Musik. Hier ist offenbar kein oberflächlicher Reizbefriedigungskasperl aus der Werbungswundertütenwelt zugange – nein, hier erkennen wir Tiefgang sowie ein menschliches Verstehen von Zusammenhängen.

The Blue Notebooks …