Schämen

Neun Jahre lang haben Eltern in Lübbenow in Brandenburg ihre geistig behinderte Tochter vor der Welt versteckt. Offensichtlich durfte das Mädchen das Haus nicht verlassen, nicht draußen spielen, nicht in die Schule gehen. Sie ist dreizehn Jahre alt und jetzt im Krankenhaus, weil sie in einem schlechten Pflegezustand ist. Wie in solchen Fällen üblich, ist von den Behörden niemand zuständig gewesen. Eine Dreizehnjährige, die noch nie zur Schule ging – das soll niemandem aufgefallen sein. Obwohl in unseren Breiten die Metamorphose vom Menschen zum gläsernen Staatsbürger schon so weit fortgeschritten ist.

Das ist aber eigentlich nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass es noch immer Eltern gibt, die sich ihres behinderten Kindes so sehr schämen, dass sie es verstecken! Das war doch einmal! Das kann doch im 21. Jahrhundert nicht mehr sein! In Mitteleuropa! Mitten in der Zivilisation! Verstecken die ihre eigene Tochter!

Dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht in dem Maß anerkannt und akzeptiert werden, wie sie es werden sollten, ist mir klar. Sonst müsste ich mich ja nicht in der Lebenshilfe Salzburg engagieren. Aber dieses Weltbild, dass dir suggeriert: „Du musst dein behindertes Kind verstecken!“, habe ich für überwunden gehalten. Andererseits: Die rechten Wölfe heulen wieder lauter und dass aus deren Menschenbild Menschen mit Behinderung herausfallen, muss jedem klar sein. Die werden sich aber nicht mit Schämen und Verstecken begnügen, das muss auch jedem klar sein.

Für alle Organisationen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzen, heißt das: Am Ball bleiben! Nicht nachlassen! Auch wenn es sich in Lübbenow um einen Einzelfall handelt, es gibt noch viel zu tun.     

Michael Russ