Ein Kind ist kein Kübel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. JuniIst das nicht eine seltsame Vorstellung, ein Kind als eine Art leeres Gefäß zu begreifen, das man mit allerlei “Bildung” befüllen müsse, damit es als Erwachsener “richtig” funktioniert? Eine sehr einseitige Sichtweise. Denn wiewohl jedes Menschenkind im Verlauf seiner Entwicklung die unterschiedlichsten Künste erlernen kann, um später einmal gutes Essen zuzubereiten (um hier nur ein Beispiel zu nennen), so ist doch das Vollstopfen mit den unerfüllten Wünschen seiner Vorfahren gelinde gesagt grober Missbrauch. Ein Kind nimmt von Anfang an alles wahr, was da ist. Damit umzugehen lernt es ein Leben lang. Es irgendwie “abrichten” zu wollen, auf dass es willenlos “gehorcht”, das entlarvt vor allem die Absicht seiner “Erziehenden”, es “besitzen” zu wollen.

Ein Kind ist kein Kübel Hubert von Goisern erzählt von einer Fronleichnamsprozession auf dem Hallstätter See, zu der er mit seinen Kindern zusammen in einem Boot hinfuhr. Plötzlich wendete sich die Aufmerksamkeit der Leute auf den “berühmten” Musiker und es wurde ihm so unangenehm, dass er sich lieber wieder zurückgezogen hätte. Sein Sohn hingegen, der das Geschehen gern weiter beobachten wollte, schrie den Vater im Verlauf des nun folgenden Interessenskonflikts lauthals an: “Du wolltest doch immer berühmt sein, und jetzt ist dir das auch nicht recht!” Diese so gnadenlos offen zum Ausdruck gebrachte und, wie er sagt kompromisslose Wahrheit (die ihm zunächst einfach nur peinlich war), versteht Hubert von Goisern mittlerweile als wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Lebendigkeit. Als “Mitteilung”, die ihn zugleich auf dem Boden der Tatsachen hält und eben auch befreit, bereichert und zu neuen Einsichten inspiriert. Erlösende Selbsterkenntnis aus dem Mund eines Kindes kann die Welt verwandeln.

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn es uns überraschend aus dem Schatten heraus anfällt und uns das vernichtende Urteil “nicht mit uns selbst überein zu stimmen” ins Gesicht schmeißt? Halten wir dem stand? Halten wir das aus? Wofür halten wir uns? Unsere Kinder (und damit sind auch unsere inneren gemeint) haben das Recht, zornig zu sein, verzweifelt, wütend und kompliziert. Und wir haben genau zwei Möglichkeiten: Kommen wir in Bewegung oder erstarren wir vor Angst. Entwickeln wir uns weiter oder verharren wir im erreichten Stillstand. Es gibt wirklich nur zwei Richtungen. Zum Leben – oder zum Tod. Solang wir aber leben, warum sollten wir dem, was unsere Zukunft ist, den Tod auferlegen, den wir selbst verdrängen, etwa weil wir ihn nicht wahrhaben wollen? Vielleicht ist ja “das vernichtende Urteil”, das da in uns steckt und das unsere Kinder unbefangener ausdrücken können als wir selbst, ein “vermeintlich vernichtendes” und wir sind verfangen in einem Gespinst aus falschen Vorstellungen vom Leben?

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn diese Vorstellungen in uns zusammenbrechen, wenn “die Welt, wie wir sie kennen” plötzlich aufhört zu existieren – was dann? Können wir scheitern? Können wir danach, damit weiter leben? Arno Gruen übersetzt aus John Colliers 1947 erschienenem Buch Indians of the Americas: “Der Indianer hatte das Ziel, ein volles Leben – trotz materieller Not – zu haben – und dies aus einer tiefen Unsicherheit heraus, welche er in seiner Weisheit gar nicht aufgeben wollte. Diese Unsicherheit wohnte nicht im Inneren seiner Seele oder in seinem gesellschaftlichen Leben. Sie entstand durch Kriege, Stürme und Krankheiten. Seine Bräuche und der kreative Umgang halfen ihm, äußere Unsicherheit in einen Zustand nach innen gerichteter Sicherheit zu verwandeln. Die weißen Invasoren kamen, es gab Krieg und die Unsicherheiten der Indianer nahmen zu. Aber ihr Gleichmut brach nie zusammen.

Freunde … das Leben ist lebenswert

 

Maibam Oida

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 5. MaiWir vorverlegen uns diesmal um eine Woche, weil die Radiofabrik zum Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai 2023 eine “Lange Nacht der Pflege” der Pflegestützpunkt-Redaktion von Radio Helsinki übernimmt/ausstrahlt. Da stellen wir keinen Bam auf – das werden wir auf jeden Fall unterstützen. Abgesehen davon – Maibam oder mei Bam? Oder hängt das nicht eh alles unentwirrbar zusammen mit der allgemeinen Selbstermächtigung des Frühlings? “Des is mei Bam”, rief ich aus, als ich ihm unlängst wieder begegnete. Ich hatte ihn nämlich in den 60ern (da waren wir beide noch sehr klein) gemeinsam mit meinem Vater aus einer entlegenen Fichtenplantage befreit und ihn danach in den Garten meiner Tante verpflanzt. Dort steht er noch heute: Lebendiges Trotz alledem.

Maibam Oida KirchenturmOb Bam, Bimbam oder Maibam – wir spüren jener Lebenskraft nach, die allfrühlinglich das Wachsen, Werden und Wiederauferstehen in der Natur (auch in der Natur des Menschen!) bewirkt. Und jenen Kräften, die dem Austrieb entgegen wirken und die uns vom fröhlichen Erigieren himmliger Fruchtbarkeitssymbole abzubringen trachten. Das wird ein Reigen der widersprüchlichen Gefühlszustände, jedoch mit Betonung auf dem Kraftvollen, das eher nicht in äußerlichem Protz besteht (hihi), viel mehr in innerer Bewegung. Oder – was macht das Gras wachsen? Was genau? Eben. Und in diesem Sinn einer Hinwendung zum Kern der Kulturgeschicht’ kannvom Penis bis zum Glockenturm – alles vorkommen, was zu einer ordentlichen Emanzipation von den erfundenen Beherrschvereinen taugt. Hoch die internationale Maibamfeier und Freundschaft dem Frühlingserwachen! Keine noch so perfekte Weltausbeutung kann das Leben an sich zerstören. Doch sie kann es für uns unerträglich machen – und dagegen gilt es nicht enden wollend anzusenden – was wir hiermit wieder tun.

Maibam Oida ÖtscherpenisIm Freien Radio – was ja schon insofern sympathisch ist, als es demokratische Entscheidungen ermöglicht, die sich einer falsch verstandenen Sprachhygiene (“Dirty Words”) verweigern und uns so genügend Freiraum für den legendären Schwanz aus der “Alt-Wiener Futoper” bereitstellen. Es geht hier um Lebenskraft, auch im Widerstand gegen die drohende Auslöschung. Und angesichts des schon bald bevorstehenden 100. Geburtstags von Ernst Jandl müssen wir uns mit aller Entschiedenheit seiner eigenen Forderung anschließen: “Ich will, dass meine Sprechgedichte weiter ertönen, auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus.” Dabei meinte er die “kurze Dauer” seiner Lebenszeit. Entschuldigen sie hin oder her – es muss weiter gejandelt werden! Wesentliches auch jenseits des “kommerziellen Mainstream” wieder beleben – und bewahren, das ist unser subjektives Interesse. Ähnlich gestaltete derlei Brita Steinwendtner

Maibam Oida PhantasieDie Welt der Kunst, Musik, Literatur bietet sich darüber hinaus zur freien Entnahme in Gestalt einer inneren Zeitreise an. Du wanderst durch dein Leben und nimmst, je nachdem, was dich gerade anspricht, etwas aus den Regalen der unendlichen Möglichkeit, eine Geschichte, ein Lied, eine Lesung, ein Gedicht, ein Stück, ein Bild, ein Erlebnis … Und du nimmst es in dich auf, spiegelst dich darin, erkennst dich selbst wieder in etwas, das jemand ganz anderer vor langer Zeit, oder erst unlängst, aufgenommen, aufgeschrieben, aufgezeichnet hat. Ziemlich zufällig und ohne vorherigen Plan entdeckst du deine Welt in der Welt vieler Welten und wirst dadurch immer reicher an Erfahrung, die du mit ihnen allen teilst. Du hast Gefühle (sind es deine oder sind es ihre?) und willst sie ausdrücken (so wie die anderen oder so, wie es für dich stimmig ist?). Du sprichst vom Zauber der Verwandlung und vollführst (ist es dir bewusst oder ereignet es sich einfach so?) magische Phantasie. Denn in der Imagination steckt schon die Magie. Und in der Vorstellungswelt der Vielen, wie auch in deiner eigenen, warten längst viele Ausdrucksformensprungbereit wie die Knospen der Bäume im Frühling.

Alles was du siehst gehört dir.