komm mops komm …

Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 10. Oktober um 22:06 UhrAm 1. August des heurigen Jahres hätte Ernst Jandl seinen 100. Geburtstag feiern können, wenn er nicht am 9. Juni des Jahres 2000 gestorben wäre. Sein Vermächtnis jedoch lebt in uns weiter. Sein Verständnis von Dichtkunst war wegweisend und ist es immer noch. Sein Umgang mit Sprache inspiriert nach wie vor zu immer wieder neuen, eigenen Versuchen, die Wirklichkeit hinter dem Hörbaren zu entschleiern. Und dazu, auf dem Weg solcher Ent-deckung in bislang unerforschte Dimensionen vorzudringen. Denn alles, was uns gesagt, erzählt und wie auch immer vorgeführt wird, hat viel mehr als nur die eine Be-deutung, die wir ihm viel zu schnell zuzuweisen gelernt haben – und gelehrt worden sind. Allein schon “ottos mops” öffnet da ungeahnt neue Wege …

komm mops komm“… alle, die es hören oder lesen, wissen, dass sie es ebenfalls können, weil sie sofort erkennen, wie es gemacht ist, und dann beginnen wirklich einige, und meist sind es Kinder, dieses Gedicht nachzumachen, aber in Wirklichkeit machen sie es gar nicht nach, sondern sie haben nur entdeckt, wie man so ein Gedicht machen kann, und dann machen sie es, und es wird ihr eigenes Gedicht daraus … Einmal habe ich kurz nacheinander neun Gedichte geschrieben, in denen nur das e vorkommt; das ist leicht, denn Wörter, in denen nur e vorkommt, gibt es in unserer Sprache viel zahlreicher als Wörter, in denen nur a oder u vorkommt … Jetzt weiss also jeder, wie so ein Gedicht gemacht wird, und jeder kann es nun selber versuchen, und es werden sehr viele neue Gedichte entstehen, schöne Gedichte. Ob aber irgendwem noch ein Gedicht mit o gelingen wird, nachdem es «ottos mops» bereits gibt, kann ich wirklich nicht sagen. Doch ich glaube: eher nicht …”

komm mops kommNun ja, unter uns selbst Dichtenden, da wäre ich mir nicht so sicher. Mir zum Beispiel fällt daraufhin gleich ein Herr “Doktor Kohn” ein, der sich wegen seines “Motors voll Rost sorgt“, aber auch “Holz holt”, “Gold lobt” und bei dem dessen Freund “Gordon noch wohnt”, der wiederum ein “Troll” ist und mit dem er “oft toll tobt”. Doch daraus ein “richtiges” Gedicht zu machen, das ist wohl noch einmal etwas ganz anderes … In dem legendären Dokumentarfilm “Entschuldigen sie wenn ich jandle” (aus der Zeit, als die Videos noch laufen lernten) sagt Ernst Jandl: “Ich will, dass meine Sprechgedichte auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus weiter ertönen.” 

Daran solls gewiss nicht scheitern! Ich glaube ja, dass Ernst Jandl hier, sowohl in seinen Gedanken zu “ottos mops” und dessen anregende Wirkung speziell auf Kinder, als auch in seinem filmisch festgehaltenen Vortrag von “lauter”, dessen Bildwirkung aus verschiedenen Schriftgrößen er eingangs erklärt, zwei Seiten ein und desselben “Geheimnisses” offenlegt, das im Grunde keines ist: Gedichte wollen (und sollen) ganzheitlich erlebt, sollen mit allen Sinnen gespürt und unter Einbeziehung des gesamten Menschseins (und nicht bloß mit dem Kopf, in dem ein ganzes Bücherregal voller Bedeutungen herumsteht) zelebriert werden

komm mops kommzum

vom kochen zum knotz
vom schlafen zum werk
vom stehen zum sitz
vom dasein zum ich

vom liegen zum sein
vom lesen zum wir
vom reden zum du
vom schauen zum ich

vom bleiben zum da
vom gehen zum heim
vom spüren zum will
vom leben zum

 

Weiterjandln – so heißt übrigens ein Geburtstagsfest, das die Salzburger Autor*innengruppe dem Großmeister des Sprechgedichts ganz im Sinn seines Vermächtnisses am 28. Oktober (Beginn 18:00 Uhr) in der Stadtgalerie Lehen ausrichtet: “Mit Gedichten natürlich. Mit Texten, dich nicht still halten, die sich vom Papier lösen, sich umkreisen, umschlingen, verzwiebeln, die flibschen und frachzen und flurren, die freuphorisch frummen, dichterdächtig, denkvoll, angelustet weiterzujandln.”

 

 

Listening to You

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 12. September – “Listening to You” ist zuallererst ein Thema, das die Besonderheit der Radiosituation verkörpert. Erleben wir uns dabei doch einerseits als Erzählende, andererseits als Zuhörer*innen des uns jeweils Dargebrachten – je nach dem, ob wir gerade eine Sendung machen oder eine solche als Publikum zu uns nehmen, auf uns wirken lassen, einfach gesagt anhören. In beiden Fällen geschieht (merklich und/oder unmerklich) einiges in unserer Innenwelt, das uns zu ganz neuen Sichtweisen der Wirklichkeit herausfordern kann. Der BBC-Pionier John Peel hat diese gewaltige Kraft – ein Alleinstellungsmerkmal des Mediums Radio – einmal so beschrieben: “It allows the imagination of the listener to flourish.” Doch das ist nur ein Aspekt unserer Betrachtungen rund ums “Hören”.

Listening to YouEin anderer ist die Herkunft unseres diesmaligen Sendungstitels. Der stammt nämlich aus der Rock-Oper “Tommy” von The Who – genauer gesagt aus dem für die persönliche Entwicklung ihres Protagonisten wesentlichen Schlüsselsong, und zwar “See Me, Feel Me – Listening To You”, der zudem das Finale des wegweisenden Werks bildet – hier in der filmischen Umsetzung aus dem Jahr 1975:

See me, feel me
Touch me, heal me

Listening to you, I get the music
Gazing at you, I get the heat
Following you, I climb the mountain
I get excitement at your feet

Listening to YouRight behind you, I see the millions
On you, I see the glory
From you, I get opinions
From you, I get the story

Womit wir bei einer weiteren Inspirationsquelle angelangt wären, der Ausstellung 8 Milliarden, kuratiert von Andrea Lacher-Bryk, aus deren Installation “Silentium?” diesmal die Fotos zum Artikel (mit freundlicher Genehmigung) herkommen. Zwischen “the deaf, dumb and blind kid” (Tommy) und den Allzuvielen gar nicht mehr Vorstellbaren hier auf unserem Planeten gibt es ein Bedürfnis, einen Drang, eine Notwendigkeit, nämlich Kommunikation im Sinn einer dialogischen Verbindung jenseits des breitwandigen Massengeplärrs, das uns allerorten umtost, des multimedialen Dauertinnitus, der uns rund um die Uhr bemarktschreiert, des pseudofröhlichen Unterhaltungslärms, der uns von außen wie von innen bedrängt und belästigt und der nur einem einzigen Zweck zu dienen scheint – uns von jeglicher Resonanz mit Menschen, mit Tätigkeiten und so auch letztendlich mit uns selbst abzulenken. “Denken ist Zwiesprache mit sich selbst. So hat Hannah Arendt das beschrieben.

“Sich selbst spüren” wäre dabei allerdings Voraussetzung.

Listening to YouDenn die weiteren Aspekte des Begriffs “Listening” – oder eben “zuhören”, jemand oder etwas “anhören”, auf jemand oder etwas “hören” im Sinn von “aufmerken”, “beachten”, also “achtsam sein” und überhaupt “wahrnehmen” – gehen weit über die gebräuchlichen Beschreibungen des Hörvorgangs hinaus: Trommelfell, Hammer, Amboß, Dingdingbummbumm! Vielmehr dringt die Vielheit der Bedeutungsschattierungen tief in die Bereiche des wesensmäßigen Hörens, des Hörens als Haltung, als innere Einstellung, man könnte auch sagen “des Hörend Seins” vor – und berührt dort so gleichnishafte Darstellungen wie das Jesuswort “Wer Ohren hat zu hören, der höre …” Lassen wir uns von der Vielschichtigkeit der möglichen daraus entstehenden Zusammenhänge zu neuartigen Wahrnehmungen inspirieren, die nicht “auf den ersten Blick” zu verstehen sind, sondern die uns eine Geschichte erzählen, die sich uns erst im Dialog (auch jenseits der Worte) erschließt.

Mit allen (anderen) Sinnen hören also …

 

nicht mehr und noch nicht

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. Juli — Halten wir noch einmal inne auf unserem Weg – durch den Sommer, durch das Jahr, durch unser Leben. Wir sind nicht mehr dort, wo wir waren UND wir sind noch nicht da, wo wir sein werden. Wir sind da dazwischen UND wir sind unterwegs. Diese Sichtweise zieht sich wie ein wiederkehrendes Motiv von Anfang an durch unsere Radioarbeit. So hieß schon eine der ersten gemeinsamen Sendungen “inzwischen unterwegs” und ganz offenbar beschäftigen wir uns nach wie vor sehr mit diesem Thema. Die Verwandlung der Vergangenheit in ein Zukünftiges findet in unserer Gegenwart statt. Ebenso wie das Verdauen dessen, was auf uns zukommt, in ein Vertrauen auf das, was von uns ausgeht, mündet. Wir sind nicht nur vorhanden, wir sind definitiv da.

nicht mehr und noch nichtWenn einer sagt
Was du da machst
hat doch keinen Sinn
Sag: Es hat meinen Sinn
Und wenn einer sagt
Was du da machst
ist der letzte Dreck
Sag: Es ist mein Dreck

Wenn einer sagt 
Du glaubst wohl, der Mensch
lebt von Luft und Liebe
Wenn einer sagt, Du glaubst
man lebt von Luft und Liebe
Sag: Wovon denn sonst?

Der Krieg zwischen Phantasie und Realität geht zu Ende: Video von Kreisky.

 

nicht mehr und noch nichtDenn sie bedingen einander. Aus Phantasie wird Realität. Und aus Realität Phantasie. Das ist die Wirklichkeit. Wie Essen. Und Schlafen. Und aus Träumen erwachen. Träume sind Teil der Realität wie Einatmen und Ausatmen. Wie Essen und Scheißen. Wie froh sein und traurig sein. Mit beidem leben lernen als der, der ich bin. Mit allen anderen, die ich auch bin. Mit meinen Kindern UND mit meinen Eltern. Mit Wut und Mitgefühl. Mit Liebe. Mit Hass. Mit Sterben und Überleben. Mitmenschen. Wer ich bin? Die Verwandlung. Die Auflösung UND das Gestaltwerden. Das Entweder-Oder UND die Überwindung des Entweder-Oder in ein sich ständig veränderndes Sowohl-Als-Auch.

Vielleicht weil es
Dich nur als den Einen gibt
Hinter dem das Viele liegt
Bist du fürchterlich verängstigt
Aber Norbert, nevermind
Solang sich deine Situation
In meine Richtung neigt

Ja, Panik kommt auf, wenn wir uns selbst nicht spüren. Aber Andreas, nevermind

 

nicht mehr und noch nichtUnlängst erzählte mir der Kollege MC Randy Andy begeistert vom neuen Film “Austroschwarz”, der seit einiger Zeit im DAS KINO läuft. Das nahm ich zum Anlass, mich ein wenig tiefer hinter die Hintergründe der etwas vielschichtigeren Lebens-Reise von Mwita Mataro hinein zu begeben. Und dort begegneten mir wiederum andere Aspekte des nie enden wollenden Unterwegsseins im Dazwischen, die jedoch auch alle immer das eine widerspiegeln: Wir sind nicht mehr dort, wo wir herkommen UND wir sind noch nicht da, wo wir hinwollen. Jedenfalls dann, wenn wir auch dorthin wollen, wo wir im Grunde unseres Wesens immer schon sind. In der Begegnung mit uns selbst ist die Heimat, die wir suchenes ist die Heimat, die wir kennen. Abgesehen davon sind wir alle heimatlos. Das Anerkennen, wie sehr wir vertrieben, umgetrieben sind, ermächtigt uns zu Wanderern zwischen den Welten.

Erst wenn der Vorwurf gemacht
und das Opfersein anerkannt ist
Erst wenn die Geschichte erzählt
und ihre Wahrheit verstanden ist
Erst wenn das Ungeheuerliche gesagt
und so auf die Welt gekommen sein wird

Dann kann Frieden sein
 zwischen mir und mir

Norbert K.Hund – Symbiosetod

 

Triptychon zur Traurigkeit

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. März“Und, wie fühlst du dich jetzt nach diesen Übungen?”, fragt der freundliche Arzt aus dem Internet. Mir fällt spontan eine Antwort heraus: “Ich habe Angst. Angst vor meinen Schmerzen. Und Angst vor meiner Traurigkeit.” Da schau her. Das heutige Sendungsthema ist eines der schwierigsten und unzugänglichsten von all den Gefühlskonglomeraten, die wir bislang in unseren Perlentauchereien untersucht haben. Eine Herausforderung, die sich aber auch zunehmend aufdrängt. Seit einiger Zeit kommen mir nämlich vermehrt Menschen unter, die eine geradezu traurigkeitsvermeidende Überlebensstrategie zu verfolgen scheinen. Die also alles, was sie in diesen Gefühlszustand versetzen könnte, von vorn herein von sich fernhalten. Die vielleicht, so wie ich, Angst davor haben?

Triptychon zur Traurigkeit 1Traurigkeit ist wie ein Schleier. Ich hab mal versucht, mir etwas zugleich so ungreifbares wie auch massives vorzustellen wie “bleiernen Nebel” (der sich über die Seele legt oder so ähnlich). Ein sich beinah unmerklich ausbreitendes Gespinst, das in uns eindringt und uns von allen Seiten umgibt, sich in weiterer Folge zu einer immer undurchdringlicheren Barriere verdichtet, die uns von dort, wo wir unser Lebendigsein spüren würden, regelrecht abtrennt. Da kommen mir Bilder von Betonbunkern und Kernkraftwerken in den Sinn, von eingesperrtem Lebenwollen, das bei jedem Versuch, nach außen durchzudringen, an seinem Gefangensein scheitert. Da steht eine Wand zwischen mir und der Welt, zwischen ich und du, zwischen einem traurigen Kind und der unendlichen Landschaft seiner Träume. Das ist wie damals, als du mich nicht verstandennicht gesehen, nicht gespürt, nicht wahrgenommenhast. Es fühlt sich heute noch so an, wenn ich enttäuscht bin. Oder ist es “nur” ein Flashback?

Triptychon zur Traurigkeit 2Traurigkeit erzählt Geschichten. Natürlich nicht gerade dann, wenn wir in ihr versinken. Doch sobald wir uns wieder lebendig fühlen, können wir ganz ohne Zwang zuhören. Als ich gestern in den ziemlich genialen Dokumentarfilm “Was tun” geraten bin, hat sich mir so eine Geschichte geradezu elementar ereignet, dass ich wieder ganz neu neugierig auf das unendliche Land hinter meiner Traurigkeit geworden bin. Der Film behandelt die Situation von Sexarbeiterinnen in den Bordellen von Bangladesh, an und für sich ein zutiefst trauriges Thema, und mir fiel auf, dass ich dabei nichts von dem empfand, was ich sonst als das traurige Gefühl bei mir kenne. Ich wunderte mich darüber – und ging innerlich auf die Suche. Kurz darauf begegnete mir Redoy, den Regisseur Michael Kranz als “meinen besten Freund” und “mein bengalisches Herz” bezeichnet – und ich erkannte mich selbst. In einer heftigen Erschütterung von zugleich Weinen und Lachen endlich wieder ganz.

Triptychon zur Traurigkeit 3Traurigkeit kann eine Spur sein. Dorthin, wo sich Räume auftun und neue Wege eröffnen. Neu insofern, als sie vielleicht schon lang nicht mehr betreten worden sind. Weil wir gelernt haben, sie zu vermeiden. Weil wir überlebt haben (und das ist definitiv ein Grund zum Feiern). Nichtsdestoweniger sind es unsere Wege, auf denen wir als glückliche Kinder im Sonnenschein unserer Neugier herumtrubeln und dabei auch die Abenteuer des Waldes und der Finsternis entdecken und bestehen. Es kommt nur darauf an (und zwar scheißegal wie alt wir sind), neugierig zu bleiben und sich schon auch mal überraschen zu lassen. Oder wollt ihr die totale Langeweile? Den schleichenden Erstickungstod durch immer dieselbe Reiz-Reaktions-Routine? Den Schleier der Traurigkeit anheben, die Geschichte dahinter verstehen wollen, der Spur ihres Rätsels folgen und das Geheimnis ergründen. Mit sich selbst auf Du – das ist ein guter Anfang für das Frage-und-Antwort-Spiel mit der Welt da draußen.

Lust auf mehr? Einfach mittauchen und gut zu hören.

 

Wer du bist

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. Februar – Auf die Frage, wie sie als hochsensible Kunstschaffende die immer zudringlicheren Nachrichten von der immer noch schrecklicheren Weltlage überhaupt aushalte, gab Laurie Anderson darüber Auskunft, wie sie von einem buddhistischen Mönch gelernt hatte, alle tiefen Gefühlsregungen (also auch das Leid und den Schrecken) so zu empfinden, dass sie diese zwar voll und ganz mitfühlen, aber als “von ihrem Ich getrennt” wahrnehmen könne. Und auf diesem Weg seien sogar die sprachlosmachendsten Katastrophen zu verkraften. Nun könnte man diese Aussage als nicht unübliche Nebenwirkung fernöstlicher Meditationspraxis abtun und gschwind darüber hinweg gehudelt zum Tagesgeschäft übergehen. Doch die Frage nach dem “Ich” fragt weiter Wer?

Wer du bistWir haben uns bereits im Artarium “Botschafter aus anderen Welten” darüber Gedanken gemacht. Und wir werden dem in der Sendung heute ein paar Gedanken, Gefühle sowie Stimmungsassoziationen folgen lassen: “Wer oder was ist dieses Ich, von dem wir üblicherweise glauben, dass wir es sind? Und – kunnst dir vielleicht vorstellen, dass alles ganz anders … ?” Ausgehend von Peter Gabriels Einschätzung, das Wesen eines wirklich gelungenen Kunstwerks bestehe aus der richtigen Mischung zwischen Verhülltem und Hergezeigtem, könnten wir unser Ich ja auch als ein von uns selbst erschaffenes und jeder neuen Situation entsprechend ausgestaltetes Kunstwerk oder eben Kunnstwerk begreifen. Die Persönlichkeit, eine Frage des Auftritts. Es geht einfach darum, sich darauf einzulassen, dieses Ich einmal nicht als abgeschlossene Einheit, vollkommen fertiggestellt und schicksalhaft unhinterfragbar zu erleben, sondern vielmehr als ein ziemlich lustiges Spielzimmer unendlicher Möglichkeiten.

Wer du bistEine andere Erscheinungsform (ein anderer Aggregatzustand) des inneren Wesenskerns zeigt sich in Momenten absoluter Resonanz wie zum Beispiel in der Liebe, wenn uns jemand bedingungslos bejaht. Oder im sich eins fühlen mit allem ohne dass es dafür irgendwelcher Worte bedarf. Alles in mir weiß dann ohne Rest um den Sinn des Lebens. Bin das ich? Die Frage stellt sich in den Augenblicken des Einsseins nicht mehr, denn das, was da plötzlich um alles weiß, ist so selbstverständlich das, was es ist, dass es ihm gar nicht in den Sinn käme, sich von irgendwem oder irgendwas zu unterscheiden. Ha! Das Ich, wie wir es alltagsgebräuchlich verstehen, wohnt hinter Grenzen. Es besteht geradezu aus ihnen. Denn das, was Ich ist, endet dort, wo Nicht-Ich beginnt. Und umgekehrt. Definition heißt ja auch (von lat. definitio) Abgrenzung. Jetzt kommen wir allerdings an den Punkt, wo gefragt werden muss, inwieweit ein so aufgefasstes Ich sich nicht in einem Gefängnis befindet, unverrückbar umgrenzt

Wer du bistWenn wir uns überlegen wollen, wie verrückt jemand ist, der die Grenzen des eigenen Ichs überschreitet und durchlässig macht, erweitert oder auflöst, dann sollten wir zunächst nachschauen, welcher Zustand des Ichs an sich zuerst da war, egal was wir gewohnt sind oder für “normal” halten. Entsteht das “Ich” erst durch Grenzen oder ist es schon vorher da? Das Grenzenlose, das mich lebt – und das ich bin. Fein.

Rainer Maria Rilke hat das mit den Definitionen so formuliert:

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.

 

Museum der Träume

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 13. Dezember“We believe dreaming is one of the most important means through which we can envision and transform the collective world that lies between us.” Dieses Zitat von der unbedingt empfehlenswerten Seite “Museum Of Dreams” möge uns als Motto für unser eigenes “Museum” dienen – denn damit meinen wir eben keinerlei Aufbewahrungsanstalt für aus der Gesamtschau gefallene Artefakte, mit denen die Bezahlbetreiber derselben eine gewollte Version von Geschichte(n) erzählen. Wir wollen uns stattdessen einem unvorhersagbaren Musentanz aussetzen, um all den Gestalten, die uns heimsuchen, mitsamt ihren und unseren Geschichten und Gefühlen ein genauso offenes Ende zu erlauben wie nach dem Erwachen aus jedem Besuch am Tummelplatz der Träume.

Museum der Träume 1 (Sethembile Msezane Freedom Day)Ob wir das absichtlich tun oder es einfach nur so daherbehaupten, weil wir sind wer wir sind – das soll offen bleiben. Einst sagte ein Reisender: “Ich bin es und ich bin es nicht. Geblendet vom Scheinwerferlicht seh ich mich selber nicht.” – Und was siehst du? Darum handelt sichs. Wie es die Selbstbeschreibung des Museum Of Dreams ausdrückt: “We focus on the way dreams can serve as a medium for articulating the things we have trouble expressing – the experiences, feelings and ideas that we struggle to voice to ourselves and each other. There is an urgent need to find ways to incorporate this not-yet-conscious material into our shared social imaginaries – to identify and integrate what Toni Morrison once named the ‘unspeakable things unspoken’. Among other things, dreaming serves as a means to narrate and work through that which has been rendered silent – marginalized either by exclusion or repression.” Das inspiriert uns – und dem fühlen wir uns auch verwandt.

Museum der Träume 2 (C. G. Jung)Das Träumen findet in einer bemerkenswerten Begegnungszone statt. In der Traumwelt gehen verschiedenartige Welten ineinander über, indem unsere Phantasie (sozusagen im kontrollfreien Betrieb) ganze Erlebniswelten aus Bewusstem wie Unbewusstem zu hochsymbolischen (und oft sehr seltsamen) Episoden verschmilzt. Doch wer arbeitet, erschafft und gestaltet das alles? Wer ist unser Unterbewusstsein, wenn nicht wir selbst? Das Träumen ist ein besonderer Zustand und eng verwandt mit psychedelischer Extase und künstlerischer Schaffenslust. Und wie die Poesie (wenn sie nicht bloße Behübschung ist) kann das Träumen himmelhochjauchzend oder abgrundstrudeleinschlürfend oder auch beides zugleich werden. Wenn wir uns ihm oder ihr überlassen, dann ist das Ergebnis nie vorhersehbar. Was allerdings im Umgang mit jener “anderen Welt”, die hier “zu Tage tritt”, durchaus hilfreich sein kann, ist ein fortwährendes Erforschen und Erlernen von allen möglichen Techniken, Traditionen, Ritualen und Erkenntnissen aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten der Menschheit. Sei es die Kunst, sei es die Philosophie, seien es irgendwelche Religionen (die man erst ihrer Konfessionalität entkleiden muss) oder traumdeutende Psychotherapie mit Märchen und Mythen.

Museum der Träume 3 (Little Nemo)Ich bin niemand. Und wer bist du? In einer Artariumsendung mit dem Titel “Scenes from a Night’s Dream” kam der gleichnamige Genesis-Song vor, der sich auf die Comicreihe “Little Nemo in Slumberland” von Winsor McCay bezieht. Dort erlebt ein kleiner Junge allnächtens die sonderbarsten und bizarrsten Abenteuer im Traum. Sein Name bedeutet kleiner Niemand und das scheint mir ein augenfälliger Zusammenhang mit der ausufernden Intensität seiner Traumreisen zu sein. Denn beim Träumen bist du niemand, und zwar in dem Sinn, dass das Du, das du sonst (im Wachzustand) bist oder darstellst oder zu sein glaubst, nicht mehr kontrollieren kann, was oder wie oder wovon du träumst. Die alles entscheidende Macht deines sonstüblichen Du ist also auf Urlaub. Und vielleicht hat es sie in der wirklicheren Wirklichkeit, aus der uns der Traum erzählt, sowieso nie gegeben

Little Nemo rubbed his eyes and got out of bed,
Trying hard to piece together a broken dream.
His visions lifelike and full of imagination
It′s strange to think they came from such a tiny head.

Dragons breathing fire, but friendly.
Mushrooms tall as houses.
Giant Nymphs and goblins playing,
Scenes from a night’s dream, poor Little Nemo!

Eating all kinds of food so close to bedtime
They always made him have these nightmares, it seemed.

Helped young Washington in the garden,
Cut the cherry tree down.
Now we all know that′s not history,
Scenes from a night’s dream, poor Little Nemo!

„Nemo, get out of bed!“
„Don’t tell me stories, I don′t want to know!“
„Come on you sleepy head, we′re waiting to go!“

Once he went to the ‚Carnival of Nations′
Dancing with the princess through the night.

Found themselves on a moving platform
Ten ton weights above them,
Seeking audience with King Morpheus.
Scenes from a night’s dream, poor little Nemo!

„Nemo, get out of bed!“
„Don′t tell me stories, I don’t want to know!“
„Come on you sleepy head, we′re waiting to go!“

Wir sind ein geiles Museum.

 

Hinter den Spiegel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. Mai – Der Spiegel scheint eine letzte Grenze zu sein. Und er kann viel bedeuten: Wie wir uns selbst sehen. Wie andere uns wahrnehmen. Wie wir gelernt haben, uns selbst zu begreifen. Aber der Spiegel ist tückisch, zeigt er uns doch alles spiegelverkehrt. Und nicht nur das, unser Gehirn glaubt, aus den einzelnen Eindrücken des Spiegelbilds eine allgemeingültige Aussage über unsere Wesensart hochrechnen zu müssen. Und bald stecken wir fest – in einem Selbstbild, das nur noch wenig mit dem zu tun hat, wer wir eigentlich sind. Dieses Phänomen lässt sich bei einem Besuch im Spiegelkabinett recht einleuchtend nachvollziehen. Oder beim Versuch, der Zahnärztin ohne hinzuzeigen zu erklären, wo es weh tut. Doch, wie gesagt, Spiegelungen betreffen nicht nur unser äußeres Abbild.

Hinter den SpiegelWir widmen uns in dieser Sendung verschiedensten Versuchen, die wahrnehmbare Wirklichkeit so zu verändern, dass ein Betreten von Räumen jenseits der gewohnten Vorstellungswelt möglich wird. So formuliert der Künstler Alexander Schreilechner: “Spiegelbilder von dreidimensionalen Objekten ….. lassen Objekte und Zeichnungen magisch, lebendig und in einem völlig neuen Licht erscheinen.”

Das Abenteuer, in uns selbst neue Welten zu erschaffen, enthebt uns nicht nur aus der frustrierenden Mühsal, einzig und allein in der immer bevölkerteren Außenwelt um unseren Platz zum Leben zu kämpfen. Viel mehr noch befähigt es uns endlich auch dazu, die unendlichen Räume unseres inneren Seins nach unseren Bedürfnissen zu gestalten und die dabei hinderlichen Täuschungen (Fehleinschätzungen und Lügen), die von außen in uns hinein gespiegelt wurden, umfassend unschädlich zu machen.

Hinter den SpiegelDas klingt doch zu schön, um wahr zu sein. Ist es aber, auch wenn alle auf uns einprasselnden Unkenrufe, Fernsehwerbungen und schlechten Gewissensbisse immer und immer wieder das genaue Gegenteil behaupten. Man kann sich im Labyrinth der Spiegelwelt so sehr verirren, dass man durchaus nicht wieder “nachhause” findet. Doch hinterfragen wir an diesem Punkt einmal das uns innewohnende Welt- und auch Selbstbild. Auf welches Abenteuer sollen wir uns auf keinen Fall einlassen? Auf uns selbst und die unendlichen Möglichkeiten unserer Entwicklung? Oder auf das andere, das (ich sage das hier einmal frei heraus) keines ist. Oder was soll an einem sklavischen Dasein als Befehlsempfänger vererbter Verhaltensweisen mit einem minimalen Spielraum für Veränderung überhaupt abenteuerlich sein? So etwas riecht nach Langeweile und zunehmender Depression, nach gähnender Leere genau dort, wo eine Frage nach dem Sinn gestellt werden könnte. Geh bitte! Und noch eins: Wer spricht denn da in deinen, meinen, unseren Gedanken? Wer soll das sein, der/die uns Angst macht vor uns selbst? Es ist das Wesen des Abenteuers, ein Wagnis einzugehen, sich auf das Schreckliche wie auf das Schöne einzulassen, ohne den Ausgang vorher zu kennen.

Hinter den SpiegelMancherlei Methoden, Techniken und Kunst-Kniffe können uns dabei helfen, die Einschränkungen des alltagsüblichen Bewusstseins zu überwinden und sozusagen hinter den Spiegel vorzudringen. Nicht immer ist es ratsam, diese allein und ohne gute Begleitung anzuwenden. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, haben wir auf dieser Reise einen Weggefährten aus der Welt der inneren Entdeckungen mit an Bord, der es uns ermöglichen wird, zwischen den Zerrbildern und Projektionen eine dritte Perspektive zu etablieren. Die Methode der triangulären Peilung wird hier im Gespräch und in der Sendungsgestaltung zur eigenen Positionsbestimmung im oft undurchdringlichen Dickicht innerseelischer Störsignale angewandt. Über diese Metapher hinaus freuen wir uns ganz allgemein auf “einen frischen Wind” sowie auf jedwede Einlassung, die unser neuer Mitnachtfahrer Matteo aus dem unendlichen Unverfügbaren mitbringen wird. Das Abenteuer dieser Sendung kann beginnen

Wir sind ein geiles Institut

 

Auf der Fährte des …

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. März – Und wieder einmal verbinden wir zweierlei. Unsere gemeinsame Fahrt auf der Fährte des Lebens und das, was wir neuerdings unter unendlichen Möglichkeitsformen als interessante Spuren erschnuppern. Es gibt eine neue Ausstellung inmitten all der bekannten, oft schon verblassten und im “Wind Of Change” verwehten Fundstücke vergangener Expeditionen. “Nein, zurück wollen wir reisen zum Ursprung der Sprache, zu den Quellen der Musik und den Wurzeln der Bilder und Träume.” Machen wir uns also auf den Weg – zu uns selbst und zu dem, was uns Menschen verbindet. Wir zeigen euch, was uns auf dieser Reise begegnet und was wir für lebenswertvoll erachten. Wir stellen unsere Eindrücke als dreistündigen Hörfilm in eure Seelenlandschaft

Auf der Fährte des ...Einige der Entdeckungen, die wir unterwegs gemacht haben, wollen wir euch zur näheren Betrachtung anempfehlen, zumal sie auch in uns so einiges an Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungserweiterung über uns selbst und die Welt, in der wir leben, zum Vorschein bringen. Hier sei zuallererst ein Lied von Robert Herbe mit dem Titel “Das Festival ist abgesagt” erwähnt. Haben wir überhaupt auch nur ansatzweise verstanden, was die Zeit der Lähmung während der Corona-Pandemie in unseren Leben angerichtet hat – und wie sehr uns ihre psychischen Spätfolgen immer noch beeinträchtigen? Die unmittelbare Darstellung des Kultur-Lockdowns aus der Sicht des engagierten Lichtbildners erreicht uns heute wie in einer Zeitkapsel konserviert und ermöglicht so eine nachträgliche Neuberechnung unserer tatsächlichen Position. Chapeau! Wir leben und bewegen uns einerseits in uns selbst, entwickeln uns dabei hoffentlich weiter, befinden uns andererseits aber im Austausch mit der Außenwelt.

Auf der Fährte des ...Eine Annäherung an all das, was “da draußen vor sich geht” (und was sich eben auch in den Menschen abspielt) bietet “Agries Meres” von Yannis Paxevanis, mit dem der mannigfach ausgezeichnete Dokumentarfilm AGORA II von Yorgos Avgeropoulos beginnt, hier auf Deutsch (in der ARD-Mediathek):

Wenn die Lüge zur schönen Wahrheit wird
Wenn die Farben in Schwarz versinken
Wenn der Frühling sich wie Winter anfühlt
Wenn das Feuer nicht mehr wärmt

Hart sind die Zeiten

Weitere Annäherungen daran, wie die inneren Bewegungen mit den Zuständen um uns her in Verbindung stehen, stellen noch andere (mehr als nur) Musikprojekte vor: Sampling the World von Arthur Henry, ein ambitionierter Versuch, mit Bildern und Sounds das Gemeinsame von Menschen mit dem Lebensgefühl in ihren jeweiligen Heimatorten einzufangen – und wiederzugeben. Unlängst erschien ein Video mit dem Titel “I remix the people of KYIV” und versetzte uns auf die Fährte seiner Arbeiten, die bezeugen, dass “da draußen” viel mehr Einfühlsame umgehen als wir glauben …

Auf der Fährte des ...So wie auch Yevgeniy Breyger, aus dessen Buch “Frieden ohne Krieg” wir in dieser Nachtfahrt das Gedicht “Streu.Obst” zweistimmig vortragen werden. Unsere Begegnung mit ihm bei seiner Lesung im Literaturhaus hat einen längst überfälligen Kontakt von erlittenen Schrecklichkeiten mit einer tiefen Gefühlswahrnehmung für das Lebendigsein geschlossen. Etwas, wonach wir schon immer und immer wieder suchen, findet sich auf der Fährte des … Alles? Nichts? Lebens? Peter Gabriel hat es in “Live and let live” so formuliert: “Just how much does it have to hurt before you let go the pain? Just how deep does it have to be before you yearn to be free again?” Der Begriff “Forgiveness” muss auf jeden Fall noch näher untersucht werden, was so wie hier damit gemeint ist und inwieweit er sich als Schlüssel zur Befreiung vom erlebten Unrecht eignet (wir werden dem in einem Artarium nachgehen). Eins ist deutlich wahrnehmbar: Es riecht verdächtig nach einem möglichen Ausweg aus der Spirale der Gewalt in und um uns.

Folgen wir dieser Fährte

Every wound can lock you away
You can walk or you can choose to remain
Everyday can pass you by
While you were holding the key

 

Verdrängungen

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Februar – Rainer Maria Rilke drückt es in seinem bekannten Buch Briefe an einen jungen Dichter folgendermaßen aus: “Vielleicht sind alle Drachen unseres Lebens Prinzessinnen, die nur darauf warten, uns einmal schön und mutig zu sehen. Vielleicht ist alles Schreckliche im Grunde das Hilflose, das nur von uns Hilfe will.” Und Peter Gabriel sagt in seinem Song Darkness über jenes Abgespaltene in uns, das einerseits wunderbares Leben verspricht – das zu spüren uns andererseits mit Todesangst erfüllt: “The monster I was so afraid of lies curled up on the floor, is curled up on the floor just like a baby boy. I cry until I laugh.” Verdrängungen aber sind so viel mehr als nur ein psychologisches Phänomen, das uns durch Herausfiltern und Ausblenden sich aufdrängender Überreizung schützt.

VerdrängungenWir kennen Verdrängung meist aus dem Zusammenhang unrühmlicher “Vergangenheitsvergewaltigung”, womit ein hierzulande verbreitetes “So tun, als ob nichts gewesen wäre” als Reaktion auf das Trauma des 2. Weltkriegs sowie aller damit einher gehenden Schrecklichkeiten des Nationalsozialismus beschrieben wird. Und als individuelle Antwort der Psyche auf Bedrohung, Verletzung und jede andere außergewöhnliche Belastung. Ganz Österreich, so könnte man daher sagen, ist eine posttraumatische Belastungsstörung. Und wir möchten da antworten: Ganz Österreich? Nein! Ein von unbeugsamen Kindern bevölkertes Radio hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten … Und so nähern wir uns dem magischen Vorhang, der uns von uns selbst trennt, während wir ganz weit hinten im Unbewussten wissen, dass wir mit dem, was wir nicht spüren können, schon immer verbunden sind und es auch immer sein werden. Es müssen andere Verdrängungen geschehen als die, die wir zu kennen glauben.

VerdrängungenEine andere Wirklichkeit dringt unmerklich ein und verdrängt wie von selbst die bisherige. So wie (ja, es muss wieder ein Scheißbeispiel her) ein anderer Stamm von Darmbakterien, der das Verdaute zu wohlgeformter Wurst verklärt, jene bisherigen verdrängt, die sich unförmiger bis hin zu formlos auf das auswirken, was wir stets unbemerkt verstoffzuwechseln trachten. Oder wie eine neue Luftmasse aus wärmeren Gefilden den schon viel zu lange im Talkessel gestauten Kaltluftsee einfach ob ihrer schieren Ausbreitung daraus hervor verdrängt. Diesen Bildern ist eins gemeinsam – sie verdeutlichen Vorgänge, die in unserer inneren Entwicklung genauso stattfinden wie rund um uns in der Natur. Warum also leiden wir wie die Zerrissenen am Nichtzusammenkommen mit uns selbst, wo doch überall, vom Klima bis ins Gedärm, alles so zueinander findet, wie es sein soll? Liegt es vielleicht daran (und Klima ist hier ein gutes Stichwort), dass wir durch menschliche Einwirkungen von unserer Natur (und der Natur im allgemeinen) entfremdet worden sind? Der gespaltene Mensch, ein Zivilisationskrüppel, der sich für den Rest seines Daseins nur noch mühsam auf den Krücken einer künstlichen Intelligenz durch die zerfallenden Landschaften seiner untergehenden Welt schleppt?

VerdrängungenVerdrängungen. Aus der Bedrängnis entspringt ein Drang. Ein dringendes Bedürfnis, all die sich fortwährend vordrängelnden Aufdringlichkeiten der Zivilisationskultur irgendwohin abzudrängen, wo sie uns nicht mehr beim Scheißen stören (will sagen beim Selbstwerden und Verdauen).

Was will uns der Dichter sagen?

Im Verdrängten liegt die Kraft

dring, drang, drung – Verdrängtes treibt uns um
steuert heimlich oder schläft bis zur Explosion
schützt zwar eine Zeit lang gut doch wird alsbald zu Gift
so drängt das Stillgemachte ohne Dringlichkeit
will wieder sprechen, singen und aus der Versenkung
heraus zurück zum Rest, der ja nur darauf wartet
die Ausgestoßenen in die Arme zu nehmen
dring, drang, drung – Verdrängtes treibt uns um

Verdrängungen eben ….. Gfrei di

 

Ein Kind ist kein Kübel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. JuniIst das nicht eine seltsame Vorstellung, ein Kind als eine Art leeres Gefäß zu begreifen, das man mit allerlei “Bildung” befüllen müsse, damit es als Erwachsener “richtig” funktioniert? Eine sehr einseitige Sichtweise. Denn wiewohl jedes Menschenkind im Verlauf seiner Entwicklung die unterschiedlichsten Künste erlernen kann, um später einmal gutes Essen zuzubereiten (um hier nur ein Beispiel zu nennen), so ist doch das Vollstopfen mit den unerfüllten Wünschen seiner Vorfahren gelinde gesagt grober Missbrauch. Ein Kind nimmt von Anfang an alles wahr, was da ist. Damit umzugehen lernt es ein Leben lang. Es irgendwie “abrichten” zu wollen, auf dass es willenlos “gehorcht”, das entlarvt vor allem die Absicht seiner “Erziehenden”, es “besitzen” zu wollen.

Ein Kind ist kein Kübel Hubert von Goisern erzählt von einer Fronleichnamsprozession auf dem Hallstätter See, zu der er mit seinen Kindern zusammen in einem Boot hinfuhr. Plötzlich wendete sich die Aufmerksamkeit der Leute auf den “berühmten” Musiker und es wurde ihm so unangenehm, dass er sich lieber wieder zurückgezogen hätte. Sein Sohn hingegen, der das Geschehen gern weiter beobachten wollte, schrie den Vater im Verlauf des nun folgenden Interessenskonflikts lauthals an: “Du wolltest doch immer berühmt sein, und jetzt ist dir das auch nicht recht!” Diese so gnadenlos offen zum Ausdruck gebrachte und, wie er sagt kompromisslose Wahrheit (die ihm zunächst einfach nur peinlich war), versteht Hubert von Goisern mittlerweile als wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Lebendigkeit. Als “Mitteilung”, die ihn zugleich auf dem Boden der Tatsachen hält und eben auch befreit, bereichert und zu neuen Einsichten inspiriert. Erlösende Selbsterkenntnis aus dem Mund eines Kindes kann die Welt verwandeln.

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn es uns überraschend aus dem Schatten heraus anfällt und uns das vernichtende Urteil “nicht mit uns selbst überein zu stimmen” ins Gesicht schmeißt? Halten wir dem stand? Halten wir das aus? Wofür halten wir uns? Unsere Kinder (und damit sind auch unsere inneren gemeint) haben das Recht, zornig zu sein, verzweifelt, wütend und kompliziert. Und wir haben genau zwei Möglichkeiten: Kommen wir in Bewegung oder erstarren wir vor Angst. Entwickeln wir uns weiter oder verharren wir im erreichten Stillstand. Es gibt wirklich nur zwei Richtungen. Zum Leben – oder zum Tod. Solang wir aber leben, warum sollten wir dem, was unsere Zukunft ist, den Tod auferlegen, den wir selbst verdrängen, etwa weil wir ihn nicht wahrhaben wollen? Vielleicht ist ja “das vernichtende Urteil”, das da in uns steckt und das unsere Kinder unbefangener ausdrücken können als wir selbst, ein “vermeintlich vernichtendes” und wir sind verfangen in einem Gespinst aus falschen Vorstellungen vom Leben?

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn diese Vorstellungen in uns zusammenbrechen, wenn “die Welt, wie wir sie kennen” plötzlich aufhört zu existieren – was dann? Können wir scheitern? Können wir danach, damit weiter leben? Arno Gruen übersetzt aus John Colliers 1947 erschienenem Buch Indians of the Americas: “Der Indianer hatte das Ziel, ein volles Leben – trotz materieller Not – zu haben – und dies aus einer tiefen Unsicherheit heraus, welche er in seiner Weisheit gar nicht aufgeben wollte. Diese Unsicherheit wohnte nicht im Inneren seiner Seele oder in seinem gesellschaftlichen Leben. Sie entstand durch Kriege, Stürme und Krankheiten. Seine Bräuche und der kreative Umgang halfen ihm, äußere Unsicherheit in einen Zustand nach innen gerichteter Sicherheit zu verwandeln. Die weißen Invasoren kamen, es gab Krieg und die Unsicherheiten der Indianer nahmen zu. Aber ihr Gleichmut brach nie zusammen.

Freunde … das Leben ist lebenswert