Poesie und Eigenart

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. November – Du wachst plötzlich auf und befindest dich mitten in deinen ersten Lebenstagen. Was hast du erlebt? Wie fühlt es sich an, gerade eben erst neugeboren zu sein? Schön, wenn es für dich irgendwie schön war. Für mich war es schrecklich. Auf einmal krieg ich eine verstopfte Nase und bekomme keine Luft mehr. Und ich denke: “Ob ich das damals auch schon so überlebt hab?” Eigentlich wollte ich mich ja fragen, ob ich das damals auch schon so ähnlich erlebt habe, doch auf dem Weg zur Formulierung hat sich das Wort unmerklich verwandelt und ich muss lachen. Das ist keine bizarre Fehlleistung, das ist Poesie. Wer vermag zu sagen oder wie wollte man “definieren”, wodurch so ein sprichwörtlich verdichteter Augeblick” zustande kommt und wie man ihn fasst?

Poesie der EigenartDamit verhält es sich wohl so ähnlich wie mit Kochrezepten. Natürlich lässt sich minutiös beschreiben, was in einer Torte enthalten ist und wie sich welche Aromen zum erhofften Ergebnis verbinden sollen. Doch ob es dann auch so schmeckt, wie man es sich erwartet hätte? Worin genau besteht jene Qualität, die in Ausrufen wie “Das ist mit Liebe gemacht” gipfelt? Oder noch besser “Diese Torte ist ein Gedicht”? Das bloße Aneinanderreihen von Anweisungen (und wenn diese noch so korrekt befolgt werden) führt noch lange nicht zu einem Ergebnis, von dem man sagen könnte, dass es gut riecht, gut schmeckt, gut ausschaut oder sich überhaupt irgendwie (vorzugsweise gut) anfühlt. Es kommt mir so vor, als steckten wir in einer Welt von Kochrezepten fest. In einer Welt voller Menschen, die daran glauben, dass das richtigrum Runterradeln von Backanleitungen und (hier verlassen wir die Metapher) Verhaltensvorschriften der Sinn des Lebens sei. Das erachte ich allerdings für eine erhebliche Entgleisung dessen, was am Leben an sich lebenswert ist. Nämlich, dass es sich anfühlt. Dass es riecht, dass es schmeckt, dass es klingt, dass es leuchtet, dass es unterzugehen droht, dass es übersteht, dass es flüstert, dass es poltertund dass es sich reimt.

Poesie der EigenartWomit wir dann auch schon mitten drin wären – in dem, was wir hier so veranstalten und – indem wir es für uns selbst ausüben, allerohrs “zu Gespür bringen”. Nämlich unsere Textcollage “Radio ist Resonanz”, die wir für den 25. Geburtstag der Radiofabrik entwickelt haben – und die wir in dieser Sendung ganz neu überarbeitet und zweihasenstimmig vortragen werden. Live vor unserem unsichtbaren Publikum und fein garniert mit der wunderbaren Musik von Nils Petter Molvaer. Warum wir das tun? Weil es sich reimt. Und weil für uns schon das Proben Poesie erzeugt. “Der Begriff bedeutet im übertragenen Sinn eine bestimmte Qualität. So spricht man etwa von der Poesie eines Moments oder einem poetischen Film und meint damit, dass von dem Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, etwas Stilles, ähnlich wie bei einem Gedicht, das eine sich der Alltagssprache entziehende Wirkung entfaltet.”   (Wikipedia)

Poesie der EigenartDas eigenartige daran ist, dass sich diese Kunst unmittelbar auf einen übertragen kann. Dass sie einem “zu Herzen geht” wenn sie “von Herzen kommt”. So bedeutet eigenartig mehr “aus sich selbst heraus entwickelt” – und nicht “seltsam und verschroben” (obwohl der Sprachgebrauch dies in seiner oft abwertenden Tendenz nahelegt). Irgendwann habe ich angefangen, die verdrehte Weltsicht der Wertvorgaben wieder zurück auf die Füße zu stellen und zum Beispiel das Wort EigenArt nur noch so zu schreiben (und somit umzudenken) im Sinne von SelbstKunnst. Mit zwei N assoziiert sich das dann zu Möglichkeit. Und schon kann allerhand passieren, woran du nicht einmal im Traum zu glauben gewagt hast. Die erschreckende Erkenntnis, dass du nie das bekommen hast, was du von Anfang an gebraucht hättest. Nicht irgendeine Sache in einer bestimmten Situation, das wäre zu banal. Sondern gespürt zu werden, willkommen geheißen und bejaht, bestätigt. In all deiner Eigenart – in dem, wer, wie und was du bist. Und die unvorhergesehene Begegnung mit einem unbekannten Kind, auf das du instinktiv genau so reagieren kannst, wie damals nie auf dich reagiert worden ist. Resonanz zu erfahren, so erklärt das jedenfalls Hartmut Rosa, setzt eine grundlegende Antwortbereitschaft voraus.

Frequenz, Resonanz, Poesie.

 

Sowohl als auch mitunter

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. September – Eine Sendung, die der Ambivalenz gewidmet ist. Diesmal noch deutlicher als sonst eh schon meist. “Sowohl als auch” anstatt “entweder oder”, jedenfalls in der Anschauung der Welt, in der wir leben und die wir sind. Wir mögen das flirrende Zwischen im Ineinander von diesem und jenem. Viel seitig, viel fältig, viel schichtig. Viel gestaltig. “Es ist ein multifaktorielles Geschehen, das wir hier beobachten.” Ich erinnere mich in letzter Zeit gern an unsere anregenden Gespräche mit der Kulturanthropologin Elke Mader, die immer wieder bei diesem Satz innehielten, um eine Denkpause einzulegen. Das Luftholen im richtigen Moment, um noch weiter ausholen zu können. Mitunter wäre das lebensfreundlicher als dauernd irgendeiner “Richtigkeit” hintnach zu hecheln …

Sowohl als auch mitunter 1Genau wie bei diesem seltsamen Schild erschließt sich der tiefere Sinn erst bei näherer Betrachtung – oder aber erstmal auch nicht. So ist das mit der Unverfügbarkeit, und zwar von allem, was da ist, war – und sein wird. Willkommen im (in der Zwischenwelt mehrdeutigen) Gleichnis vom Vatermutterkind, unserer einstweiligen Utopie rund um die Uhr – und darüber hinaus. Bitte. Danke. Guten Nachmittag. Dem Paradoxen ist kein Naturgesetz heilig und zugleich jedes einzelne. Mehr als nur sowohl als auch. In diesem Sinn versammeln wir auch diesmal wieder Beiträge und Themen, die auf den ersten Blick (ihre Ohren werden Augen machen) nicht wirklich zusammen zu passen scheinen. Doch bei näherer Betrachtung (genau) werden sich durchaus Gemeinsamkeiten erschließen – und die sind eigentlich auch mehr als nur naheliegend. Das Lachen und das Weinen haben mehr gemeinsam als man glaubt. Im üblichen Vollzug des Alltags fällt das halt nicht so leicht auf. Wohingegen hier

Sowohl als auch mitunter 2Ein einfaches Beispiel soll Licht ins Dunkel bringen: Maria Muhar treibt mit ihren Satiren die zu beobachtende Wirklichkeit geradezu grenzenauflösend “über die Spitze hinaus”. Sie wird übrigens im Oktober in der ARGE auch live zu erleben sein, empfehlenswert! Wir lassen zwei Beiträge aus “Cat-Calling, sehr unangenehm” mit einer Lesung aus Andreas Woldrichs “Requiem für Mama” (in dem er seiner kürzlich verstorbenen Mutter gedenkt) zusammen treffen – und schauen, was sich daraus entwickelt. Wenn die von uns angestrebte Resonanz dieser beiden aufs erste doch sehr verschieden anmutenden Darbietungen zustande kommt, werden sich daraus zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit zu erkennen geben. Liebe und Tod, Bitter und Süß, Wahnsinn und Methode – es ist ohnehin schon längst alles in allem enthalten. Unsere Musikauswahl, unsere dazu mitgebrachten Texte und überhaupt unsere hoch ambivalente Grundhaltung bei diesem Sendungskonzept, all das sollte zum Erfolg dieses Experiments beitragen. Vor allem aber die Beschaffenheit des genannten Ausgangsmaterials, dem jeweils das Zugleich von Abgrund und Euphorie, also “sowohl als auch”, innewohnt …

Sowohl als auch mitunter 3Mischlingswesen Welpentier

Im Namen des Noned
willkommen im Land der Unfertigen Buntbedruckten
Hupfkasperln
Gleichschneckigen
und Sommerbrauen
Grüngestreifen
Vergießmeinnichtse
und Lebensüberdürstenden
Wolkenwelt-Weitentwürfe

Wunder
das Leben
inmitten von Schleim
Scherben und Schmerz

Chaos
Keine Ahnung
doch immer
aus dem Unten
von innen
überrascht

ein Nasenkitzeln
ein Lichtblinzeln
ein Fünkchen Gelächter

Die Eigenschaftswohnung
der Dauernhof am Großrotzner
das flutschernde Blechlein
Papiergoldmarie
Diplomnatur
und Stundium
Urherberts Ächzschutz
Pirateigentum Schundraub und Mutz

Unfertiges

Werdenleben

Übersteh mich nicht falsch

 

Salzenburger Fetzenspiele

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. AugustDie alljährliche Ambivalenz im Salzburger Festspielsommer mit all ihren Chancen und Risiken und vor allem Nebenwirkungen beschäftigt uns naturgemäß auch heuer. Ein Gefühlsbild unseres Befangenseins zwischen dem möglichen Theaterglück und dem rundum erschallendem Kommerzwahnsinn. Niemand, der in Salzburg lebt, bleibt von diesem “Sowohl als auch” unbetroffen, ganz gleich, wie bewusst oder unterbewusst dieser Einfluss auch sein mag. Und genau deshalb ist eine lyrische Darstellung wie diese geeignet, die widersprüchliche Gefühlsvielfalt in der Festspielstadt einzufangen – und wiederzugeben.” So steht es geschrieben im Begleittext zu unserer Collage “Ein fester Festspielflash”. Salzenburger Fetzenspiele. Ein Zuhörtheater in 3 Akten

Salzenburger Fetzenspiele 1 (Erster Akt)Der Tod spielt offenbar eine zentrale Rolle, die ganze Stadt ist Bühne und das Bühnenbild ist überaus barock. Auf den verwehenden Spuren von Thomas Bernhard jener “Friedhof der Wünsche und Phantasien”, in dem er sich als junger Salzburger immer ungern wahrgenommen hat. Eine einsame Seele zerschellt am Pompösen der beherrschaftlichen Duck-dich-Architektur und an der Monstrosität ihrer Ausstrahlung. Erst aus der Perspektive eines Ausländerkinds (oder eines anderen an Gewalt und Machtmissbrauch leidenden Menschen) wird die Wirklichkeit hinter dem künstlich schönen Schein erkennbar. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes vor einem Publikum, das finanziell über Leichen geht. Und noch eine Hightech-Spielstätte in den letzten freien Raum gequetscht. Und abgesperrt. Und abkassiert. Und ab dafür. “Schau rauf zum Himmel, diese Erde, sie ist gelb wie Stroh. Komm, lass sie uns verbrennen, ich will es so. Jetzt weißt du, wer ich bin. Herzlichen Glückwunsch

Salzenburger Fetzenspiele 2 (Zweiter Akt)“Deutsch Sprach sein Kunst. Sein ein Kunst-Sprach. Vaterland sein Kunst. Deutsch Sprach und Österreich Vaterland sein Kunst. Österreich sein ein Kunst-Land. Vater-Kunst-Land. Kunst-Vaterland. Salzenburger Fetzenspiele. Burgentheatern. Operan. Schuber und Brahmst. Schrammenmusik. Österreich sein ein Kunst-Land. Donau zu blau, zu blau, zu blau. Sein ein Kunst-Vaterland.

Viel Kunst heut nicht gut sein. Viel Kunst heut nicht viel gut sein. Sein viel Schmutzen. Kunst-Schmutzen. Sein viel viel Schmutzen. Viel viel Kunst-Schmutzen. Sein ich Kunst schutzen. Deutsch Sprach schutzen. Österreich Vaterland schutzen. Schutzen. Sein viel viel nicht Kunstler. Sein Kunst-Schmutzen. Sein Schmutzen. Schmutzenfinken. Schmutzenbacher. Pfui Gack.”             Entschuldigen sie, wenn ich jandle

Salzenburger Fetzenspiele 3 (Dritter Akt)Ein einigermaßen unorthodoxer Psychoanalytiker wurde unlängst gefragt, was in Jugendlichen so vor sich gehe, wenn sie auf “Sozialen” Medien dauernd mit Darstellungen zurechtgeschönter Idealfigur*inen zugeschüttet werden, die noch dazu auftreten, als hätten sie permanent Erfolg und umwerfend guten Sex. Er antwortete, dass es darauf zwei Reaktionen geben könne, nämlich entweder “Ich will auch so sein wie die” oder “Ich bring die alle um”. Nun wollen wir angespürs der recht ähnliche Auswüchse hervorbringenden Festspielsaison irgendwo zwischen Anpassung und Amoklauf in der Ambivalenz schweben bleiben – und die unendlichen Möglichkeiten des “Sowohl als auch” kultivieren. In diesem Sinn wählen wir nur Beiträge aus, die sowohl den kritischen Blick auf die Wirklichkeit nicht vermeiden, als auch kunstvoll der Phantasie der Verwandlung Raum bieten. Der bodenlose Bottich einer beinah leergefressenen Welt verwandelt sich in das kreative Vakuum des Neuerschaffens.

Bleib ba dir …

 

Flüchtiges Glück im Sonnenland

Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. JuliDas Sonnenland ist das, was uns in der sommerlichen Jahreszeit begegnet. Glücksmomente jedweder Beschaffenheit: Laue Nächte, Schatten unter Bäumen, Baden am Fluss, Nacktheit in der Natur, Vogelgezwitscher, Blumen, Freunde, Wind in den Haaren, Überraschendes und Vertrauen in einer warmen Welt. Beseligende Berührungen eines leichteren Lebens, die zwar befördert werden können, aber letztendlich nicht festzuhalten sind. Am Horizont ziehen die Wolken auf, die Stimmung schlägt plötzlich um, der Abschied naht – und an die Tür unserer Fröhlichkeit klopfen Sorge und Angst. Wir sind fließend und wälzen uns durch die Landschaft. Wir sind der Fluss und nehmen vieles in uns auf. Wir sind dauernd unterwegs, doch am Ende strömen wir unaufhaltsam ins Meer.

Flüchtiges Glück im Sonnenland“Mach es wie die Sonnenuhr – zähl die heiteren Stunden nur.” Für sich genommen steckt da durchaus was wahres drin. Andererseits ergibt erst das Zusammenspiel von Licht und Schatten eine Gesamtschau aufs große Ganze. Innehalten im Glück und doch um seine Vergänglichkeit wissen, das könnte uns frei machen vom anstrengenden Wegschauen und Verdrängen. Erst wenn wir die Freude wie auch die Traurigkeit in unserem Gefühlsleben stattfinden lassen, werden wir uns zu “ganzeren” Menschen entwickeln. (Naturgemäß lässt sich “ganz” nicht steigern – gemeint ist hier allerdings das Ideal von “Ganzheit”, das wahrscheinlich nie “ganz” erreicht werden kann, das es aber nichtsdestoweniger anzustreben gilt.) Wrdlbrmpfd. Jedenfalls wollen wir auf dieser Nachtreise quer durch den Gefühlegarten die Ambivalenz der Empfindungen rund ums Glück im Sonnenland und seine gleichzeitige Unverfügbarkeit darstellen. Eine Stimmungsdramaturgie aus Gedanken, Gesprächen, Musik und Literatur

Flüchtiges Glück im SonnenlandEin gutes Abendessen gemeinsam mit lieben Menschen und wir haben das Gefühl, rundherum satt zu sein. In so einem Augenblick voll Glück und Zufriedenheit kämen wir doch nie auf den Gedanken, dass schon bald wieder Hunger, Durst und der Drang zum Stoffwechselkabinett unser Dasein dominieren könnten. Und doch ist es so. Kein halbwegs vernünftiger Mensch käme auf die Idee, den Zustand der Erfüllung nach erfolgreich gehabtem Sex dauerhaft festhalten zu wollen. Und doch gibt es eine Menge unglaublicher Trotteln, die wie hirndrogensüchtige Halbaffen mit Wahlrecht und Führerschein durch die Welt orgeln und dabei genau das versuchen: “Augenblick, verweile doch, du bist so schön.” Je mehr du im Leben einzementierst, desto weniger kannst du dich bewegen. Je mehr du zu haben versuchst, desto weniger wirst du sein. “Ich bin ein harter, viereckiger Klumpen und meine einzige Aufgabe besteht darin, auf meinem Platz zu bleiben.” So denken die humanoiden Hohlziegel der Gesellschaft.

Flüchtiges Glück im SonnenlandVieles steckt vermeintlich fest im Fluss des Lebens. Und doch birgt das bewegte Wasser in sich schon die Veränderung der Verhältnisse. Es umfließt jedes Hindernis, spiegelt das Licht – und erschließt uns (wenn wir denn mitfließen) neue Wege. Die Lebenskunst, die uns das Hiersein als Menschen abverlangt, ist nicht zu unterschätzen: Jeden Moment möglichen Glücks auszukosten, als gäbe es nichts anderes auf der Welt – und ebenso davon auszugehen, ja zu wissen, dass er höchst vergänglich ist und sogar sehr schnell wieder verwehen kann. Dies scheint zunächst eine ziemlich schwierige Aufgabe zu sein (und wer hat überhaubt gesagt, dass es leicht sein wird?), für uns ist diese Herangehensweise jedoch der Wirklichkeit am entsprechendsten. Für andere ist gerade diese Haltung (das Miteinbeziehen beider Wahrnehmungen) um jeden Preis zu vermeiden. Da stellt sich doch die Frage, wer in diesem Fall den Preis bezahlen soll. Sie selbst? Die anderen? Die Natur? Der Stoascheißer Koarl?

Memento mori, Kasperltheater!

Und einen schönen Sommer …

 

Ein Kind ist kein Kübel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. JuniIst das nicht eine seltsame Vorstellung, ein Kind als eine Art leeres Gefäß zu begreifen, das man mit allerlei “Bildung” befüllen müsse, damit es als Erwachsener “richtig” funktioniert? Eine sehr einseitige Sichtweise. Denn wiewohl jedes Menschenkind im Verlauf seiner Entwicklung die unterschiedlichsten Künste erlernen kann, um später einmal gutes Essen zuzubereiten (um hier nur ein Beispiel zu nennen), so ist doch das Vollstopfen mit den unerfüllten Wünschen seiner Vorfahren gelinde gesagt grober Missbrauch. Ein Kind nimmt von Anfang an alles wahr, was da ist. Damit umzugehen lernt es ein Leben lang. Es irgendwie “abrichten” zu wollen, auf dass es willenlos “gehorcht”, das entlarvt vor allem die Absicht seiner “Erziehenden”, es “besitzen” zu wollen.

Ein Kind ist kein Kübel Hubert von Goisern erzählt von einer Fronleichnamsprozession auf dem Hallstätter See, zu der er mit seinen Kindern zusammen in einem Boot hinfuhr. Plötzlich wendete sich die Aufmerksamkeit der Leute auf den “berühmten” Musiker und es wurde ihm so unangenehm, dass er sich lieber wieder zurückgezogen hätte. Sein Sohn hingegen, der das Geschehen gern weiter beobachten wollte, schrie den Vater im Verlauf des nun folgenden Interessenskonflikts lauthals an: “Du wolltest doch immer berühmt sein, und jetzt ist dir das auch nicht recht!” Diese so gnadenlos offen zum Ausdruck gebrachte und, wie er sagt kompromisslose Wahrheit (die ihm zunächst einfach nur peinlich war), versteht Hubert von Goisern mittlerweile als wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Lebendigkeit. Als “Mitteilung”, die ihn zugleich auf dem Boden der Tatsachen hält und eben auch befreit, bereichert und zu neuen Einsichten inspiriert. Erlösende Selbsterkenntnis aus dem Mund eines Kindes kann die Welt verwandeln.

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn es uns überraschend aus dem Schatten heraus anfällt und uns das vernichtende Urteil “nicht mit uns selbst überein zu stimmen” ins Gesicht schmeißt? Halten wir dem stand? Halten wir das aus? Wofür halten wir uns? Unsere Kinder (und damit sind auch unsere inneren gemeint) haben das Recht, zornig zu sein, verzweifelt, wütend und kompliziert. Und wir haben genau zwei Möglichkeiten: Kommen wir in Bewegung oder erstarren wir vor Angst. Entwickeln wir uns weiter oder verharren wir im erreichten Stillstand. Es gibt wirklich nur zwei Richtungen. Zum Leben – oder zum Tod. Solang wir aber leben, warum sollten wir dem, was unsere Zukunft ist, den Tod auferlegen, den wir selbst verdrängen, etwa weil wir ihn nicht wahrhaben wollen? Vielleicht ist ja “das vernichtende Urteil”, das da in uns steckt und das unsere Kinder unbefangener ausdrücken können als wir selbst, ein “vermeintlich vernichtendes” und wir sind verfangen in einem Gespinst aus falschen Vorstellungen vom Leben?

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn diese Vorstellungen in uns zusammenbrechen, wenn “die Welt, wie wir sie kennen” plötzlich aufhört zu existieren – was dann? Können wir scheitern? Können wir danach, damit weiter leben? Arno Gruen übersetzt aus John Colliers 1947 erschienenem Buch Indians of the Americas: “Der Indianer hatte das Ziel, ein volles Leben – trotz materieller Not – zu haben – und dies aus einer tiefen Unsicherheit heraus, welche er in seiner Weisheit gar nicht aufgeben wollte. Diese Unsicherheit wohnte nicht im Inneren seiner Seele oder in seinem gesellschaftlichen Leben. Sie entstand durch Kriege, Stürme und Krankheiten. Seine Bräuche und der kreative Umgang halfen ihm, äußere Unsicherheit in einen Zustand nach innen gerichteter Sicherheit zu verwandeln. Die weißen Invasoren kamen, es gab Krieg und die Unsicherheiten der Indianer nahmen zu. Aber ihr Gleichmut brach nie zusammen.

Freunde … das Leben ist lebenswert

 

Maibam Oida

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 5. MaiWir vorverlegen uns diesmal um eine Woche, weil die Radiofabrik zum Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai 2023 eine “Lange Nacht der Pflege” der Pflegestützpunkt-Redaktion von Radio Helsinki übernimmt/ausstrahlt. Da stellen wir keinen Bam auf – das werden wir auf jeden Fall unterstützen. Abgesehen davon – Maibam oder mei Bam? Oder hängt das nicht eh alles unentwirrbar zusammen mit der allgemeinen Selbstermächtigung des Frühlings? “Des is mei Bam”, rief ich aus, als ich ihm unlängst wieder begegnete. Ich hatte ihn nämlich in den 60ern (da waren wir beide noch sehr klein) gemeinsam mit meinem Vater aus einer entlegenen Fichtenplantage befreit und ihn danach in den Garten meiner Tante verpflanzt. Dort steht er noch heute: Lebendiges Trotz alledem.

Maibam Oida KirchenturmOb Bam, Bimbam oder Maibam – wir spüren jener Lebenskraft nach, die allfrühlinglich das Wachsen, Werden und Wiederauferstehen in der Natur (auch in der Natur des Menschen!) bewirkt. Und jenen Kräften, die dem Austrieb entgegen wirken und die uns vom fröhlichen Erigieren himmliger Fruchtbarkeitssymbole abzubringen trachten. Das wird ein Reigen der widersprüchlichen Gefühlszustände, jedoch mit Betonung auf dem Kraftvollen, das eher nicht in äußerlichem Protz besteht (hihi), viel mehr in innerer Bewegung. Oder – was macht das Gras wachsen? Was genau? Eben. Und in diesem Sinn einer Hinwendung zum Kern der Kulturgeschicht’ kannvom Penis bis zum Glockenturm – alles vorkommen, was zu einer ordentlichen Emanzipation von den erfundenen Beherrschvereinen taugt. Hoch die internationale Maibamfeier und Freundschaft dem Frühlingserwachen! Keine noch so perfekte Weltausbeutung kann das Leben an sich zerstören. Doch sie kann es für uns unerträglich machen – und dagegen gilt es nicht enden wollend anzusenden – was wir hiermit wieder tun.

Maibam Oida ÖtscherpenisIm Freien Radio – was ja schon insofern sympathisch ist, als es demokratische Entscheidungen ermöglicht, die sich einer falsch verstandenen Sprachhygiene (“Dirty Words”) verweigern und uns so genügend Freiraum für den legendären Schwanz aus der “Alt-Wiener Futoper” bereitstellen. Es geht hier um Lebenskraft, auch im Widerstand gegen die drohende Auslöschung. Und angesichts des schon bald bevorstehenden 100. Geburtstags von Ernst Jandl müssen wir uns mit aller Entschiedenheit seiner eigenen Forderung anschließen: “Ich will, dass meine Sprechgedichte weiter ertönen, auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus.” Dabei meinte er die “kurze Dauer” seiner Lebenszeit. Entschuldigen sie hin oder her – es muss weiter gejandelt werden! Wesentliches auch jenseits des “kommerziellen Mainstream” wieder beleben – und bewahren, das ist unser subjektives Interesse. Ähnlich gestaltete derlei Brita Steinwendtner

Maibam Oida PhantasieDie Welt der Kunst, Musik, Literatur bietet sich darüber hinaus zur freien Entnahme in Gestalt einer inneren Zeitreise an. Du wanderst durch dein Leben und nimmst, je nachdem, was dich gerade anspricht, etwas aus den Regalen der unendlichen Möglichkeit, eine Geschichte, ein Lied, eine Lesung, ein Gedicht, ein Stück, ein Bild, ein Erlebnis … Und du nimmst es in dich auf, spiegelst dich darin, erkennst dich selbst wieder in etwas, das jemand ganz anderer vor langer Zeit, oder erst unlängst, aufgenommen, aufgeschrieben, aufgezeichnet hat. Ziemlich zufällig und ohne vorherigen Plan entdeckst du deine Welt in der Welt vieler Welten und wirst dadurch immer reicher an Erfahrung, die du mit ihnen allen teilst. Du hast Gefühle (sind es deine oder sind es ihre?) und willst sie ausdrücken (so wie die anderen oder so, wie es für dich stimmig ist?). Du sprichst vom Zauber der Verwandlung und vollführst (ist es dir bewusst oder ereignet es sich einfach so?) magische Phantasie. Denn in der Imagination steckt schon die Magie. Und in der Vorstellungswelt der Vielen, wie auch in deiner eigenen, warten längst viele Ausdrucksformensprungbereit wie die Knospen der Bäume im Frühling.

Alles was du siehst gehört dir.

 

Literatur oder Selbsthilfegruppe

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. März – Bevor wir diesmal in unsere Bilderwelt aus Musik und Literatur eintauchen, wollen wir auf die Herkunft ihres heutigen Titels verweisen: Vor 15 Jahren war der Verleger Jochen Jung in der Sendung “Gierig auf Lyrik” zu Gast und äußerte dort, dass er mitunter den Eindruck von “Selbsthilfegruppe” gewinne, wenn er manchen Darbietungen zeitgemäß wirken wollender Lyrikpräsentation beiwohne. Worauf er mit dieser Formulierung anspielte, lässt sich inzwischen gut nachhören. Wir nehmen seine Ermutigung zur Selbstkritik und der damit einhergehenden Selbstreflexion zum Anlass, den etwa zu jener Zeit im Rahmen der ARGE Noah 2007 als Performance-Oper aufgeführten Text “mark will leben” einer kritischen Überarbeitung zu unterziehen – und im Radio vorzustellen:

Literatur oder Selbsthilfegruppe 1“Dieser Text erzählt exemplarisch die Geschichte von einem unter lebensbedrohlichen Bedingungen heranwachsenden Menschenkind und dessen oftmals verzweifelten Versuchen, einen Sinn in seinem Dasein zu begründen. Dabei zeigt er die Gefahren des Schweigens und der Vereinsamung auf – und stellt dem die Perspektiven eines künstlerischen Selbstausdrucks in Gemeinschaft mit anderen gegenüber. Und das ist wohl nur eine erste, äußere Schicht, wie bei der Zwiebel. Rein formal bedient sich das Wortkonglomerat bei verschiedensten Ausdrucksweisen und springt von songtextartigen Strukturen über Stream-Of-Consciousness-Passagen zu Tagebucheinträgen eines vielleicht 15-jährigen und dann weiter zu dramatischen Elementen. Will das überhaupt das sein, was man allgemein unter Literatur versteht? Das, was man allgemein unter Selbsthilfegruppe versteht, das will es jedenfalls nicht sein. Aber – was will es?

Literatur oder Selbsthilfegruppe 2Bei seiner Entstehung mischen sich ebenfalls vielfältige Eindrücke ineinander: Erinnerungen an eigene traumatische Erfahrungen, spontane Assoziationen mit Erzähltem und Miterlebtem, Eindrücke von Gesehenem, Gelesenem sowie sonst in der Kunst Dargestelltem, Träume und Phantasien, Besuche in der eigenen Kindheit, Groteskes und Monströses aus dem Fundus verdrängter Familiengeschichte. Verschiedene Versuche, hinter den Vorhang nicht nur des eigenen Abgespaltenen zu spüren und etwas von jenem Teil seiner selbst zu erahnen, der einem so verborgen wie verboten erscheint. Immerhin stellen wir uns mit ausreichendem zeitlichem Abstand nicht die Frage, was uns “der Dichter” damit sagen will – sondern fragen den Text selbst, was er möchte. Das ist ein erster Schritt zur Freiheit der Kunst – von ihrer ewigen (und überaus lästigen) Interpretation durch all die Deuter und Bedeutler, bei denen man sich doch stets die Frage “Cui bono?” (zu wessen Vorteil?) stellen sollte, die ich hier allerdings mit “Was habt ihr davon?” übersetzen würde. Doch ich deute nur an.”

Literatur oder Selbsthilfegruppe 3Der Kontext der Veranstaltung war nämlich die sinnhafte Notwendigkeit einer außerhalb der Deutungs- und Bedeutungshoheit hergebrachter gesellschaftlicher Anpassungs- und Verwertungszwänge stattfindenden Jugendkultureinrichtung, eines im besten Sinn des Wortes autonom verfassten Kunsterlebnisraums, der sowohl Selbsterfahrungs- als auch Gestaltungsmöglichkeiten offen zugänglich anbieten könnte. Und deshalb will der Text “mark will leben” das zugleich selbst- wie auch gesellschaftstherapeutische Potential von eben nicht nur Literatur, sondern jedweder aus eigenem Verwirklichungsbedürfnis entstehender Kunst aufzeigen. Er will einladen ins Unbekannte, mitnehmen ins Verdrängte und mit dem im Weggemachten Lebenden vertraut machen. Vielleicht verstört er dabei die eingefahrene Gewohnheit der Weltbetrachtung, vielleicht zerstört er dabei auch das eine oder andere längst bestehende Urteil über unmöglich Erscheinendes

Is there anybody out there?

 

Erosionen

>> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. November “Die Decke der Zivilisation – die ist ja hauchdünn.” Erschreckend dünn sei dieser “Firnis der Kultur, der uns von der Barbarei trennt”, so beschrieb das Fritz Bauer in den 60er Jahren. Und allenthalben unterliegen die äußersten Schichten unserer Gesellschaft den vielfältigsten Erosionen, die sie nach und nach brüchig machen und abtragen. Uns möge die Metapher allerdings weit über die Fachgebiete der Geologie und der Medizin hinaus – oder besser noch hinein, hinunter – und hinter die Fassaden der Persönlichkeitsstruktur befördern. Als künstlerische Technik des Abtragens von Scheinidentitäten und Verkrümmungen, von längst verhärtetem Narbengewebe aus der Frühgeschichte unseres eigentlichen Lebenwollens im Bauch der Welt.

Erosionen Schicht 1Mir drängt sich da der Vergleich mit der Bildhauerei auf, von der gesagt wird, dass der Künstler die fertige Skulptur schon von Anfang an im Werkstück erkennt – und sie dann Schicht für Schicht freilegt. Was uns die Kreuzigungsgruppe des genialen Alfred Hrdlicka über die erodierenden Wertvorstellungen des “christlichen Abendlands” zu erzählen vermag, das erschließt sich bei wiederkehrender Betrachtung. Noch dazu im aktuell veränderten Kontext, im Bühnenbild der Bauwirtschaft nebst der ihr innewohnenden Religion vom immerwährenden Wachstum. Zum Vergleich hier die etwas älteren Aufnahmen aus unserem Artikel “Auf den Kopf geschissen” – und das mag jetzt durchaus mehr als nur eine inhaltliche Assoziation hervorrufen! Wir haben unseren Pasolini aufmerksam gelesen (speziell die Freibeuterschriften, in denen er die Zerstörung der Kultur durch den globalen Konsumismus vorhersagt). Auch wir wollen nicht davon ablassen, Schicht für Schicht immer tiefer zu tauchen.

Erosionen Schicht 2Dabei mögen verstörende Bilder in uns empor drängen: Leichname, zerstückelte Figuren, erodierte Bruchstückmenschen einstiger Ganzheit, umherirrende Untote und uns verschlingen wollende Abgründe. Wir befinden uns im Reich der Phantasie (es ist nicht von dieser Welt – oder womöglich doch?). Wenn einer eine Reise tut (zum Mittelpunkt der Welt, die das Selbst bedeutet), dann kann er oder er/sie/es was erleben, das könnt ihr uns jetzt glauben – oder auch nicht oder was auch immer. Letztendlich sind wir alle unentrinnbar der Erosion des Lebens (wir sprechen von Vergänglichkeit und Tod) ausgeliefert. Nichtsdestotrotz sind wir alle auch aktive Künstler, die ihre erosiven Techniken anwenden und Schicht für Schicht freilegen, was da dahinter und da darunter noch verborgen ist – von dem wir allerdings wissen, dass es da ist und dass es zum Vorschein und ans Licht der Welt kommt, indem wir an seiner Gestaltwerdung arbeiten. Es ist ein künstlerisches Wissen um das Bild

Erosionen Schicht 3In dieser Hinsicht stimmt der Satz von Joseph Beuys “Jeder Mensch ist ein Künstler” vollkommen. Sich aus der eigenen Überlebenskunst einen Reim aufs Leben an sich und über sich hinaus machen – oder wie Viktor Frankl das ausgedrückt hat: “trotzdem Ja zum Leben sagen.” Und die Kunstschaffenden? Was ist der Sinn ihrer Sinnsuche in sich und über sich hinaus? Egal ob mit Klängen, Gesängen, Gedanken, Gedichten, Bilderwelten, Bilderfluten, Sinnzusammenhängen – es ist ein Vorbereit auf das in uns Schlummernde, ein Dargebot innerer Begegnung mit uns selbst und ein Anschubs zum Aufbruch – in das, was war, was ist und was sein wird – und in das dahinter. Darunter und darüber hinaus. Damals, dann – und dazwischen. Nichts ist langweiliger, öder und trostloser als wenn alles so bleibt, wie es ist. Kunnst (hier als “Kunst der Phantasie”) ist doch genauso unverzichtbar wie Luft – und Atmen. Kunnst dir mehr vorstellen als du dir vorstellen kannst? Und du kunnst das echt erleben

Wir wünschen Gute Reise!

 

Übungen in Phantasie

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. OktoberIch bin stolz, ein Hase zu sein. Und darauf, zu den drei Hasen zu gehören. Wer da jetzt “der dritte im Bund” ist, ist nicht nach den Maßstäben der Wettbewerbswelt zu beurteilen, in der es immer ums “Erstersein” geht – auf Kosten aller anderen. Was beim Downhill-Racing der Wichtigtümer funktioniert, würde jeden Hasentanz sofort aus dem Gleichgewicht werfen. So verdanken wir dem tapferen Christoph, der unsere Welt erst zu “Dreierlei Hasen in frischer Bewegung” abgerundet hat, eine bedenkenswerte Überlegung zu der Frage: “Was ist eigentlich Phantasie?” (wie sie in “Palmen Unter” gestellt wird). Nämlich, dass sich im “Vorstellungsvermögen” eher die Imagination von Erlebtem und in der realen Welt Möglichem abspielt – wohingegen aber in der “Phantasie”

Übungen in Phantasie unsere Imagination vornehmlich surreale Bilder verarbeitet, wie sie unter Außerachtlassung von Natur- und sonstigen Gesetzen in unseren Träumen vorkommen. Wohl nicht ganz zufällig ist bei dem, was da jenseits der Realität entsteht, oft auch von “Visionen” die Rede, von “anderen Welten” und auch von “übersinnlichen Erfahrungen”. Wie wirklich aber sind diese “anderen Wirklichkeiten”, von denen wir auf jeden Fall wissen, dass sie überaus wirksam sein können? Sie als Kinderkram und Phantastereien abzutun, wie das in der “einzig wahren realen Welt” aller von Herrschaft und Unterdrückung geprägten Gesellschaften leider allzuoft vorkommt, kann offenbar nicht die Lösung sein. Einerseits hört man Sätze wie: “Sie sind ja ein Phantast.” oder “Sie leiden an Realitätsverlust.”, die eine öffentliche Entmündigung der Angesprochenen bedeuten,

Übungen in Phantasieandererseits ist das kommerzielle Internet übervoll mit Angeboten zur Phantasieschulung, um mit diesem “Selbstoptimierungswerkzeug” andere erfolgreicher übertrumpfen zu können. Bin ich blöd – wenn ich hier einen eklatanten Widerspruch erkenne? Wütet hier der Weltkrieg zwischen Phantasie und Realität? Muss ich mich da für eine Seite entscheiden oder gibt es die Möglichkeit einer Versöhnung dieser zwei Gegensätze? Wo ist der dritte Hase, wenn der Tanz blockiert? Fragen über Fragen, die den Untertitel mehr denn je bewahrheiten: “Musikliterarische Gefühlsweltreise mit tiefgründigen Themen.” Und so wollen wir ein paar Bewegungsübungen erleben, die die Phantasie kräftigen – zur Selbstbestimmung, zur Selbsterhaltung – und durchaus zur Selbstverteidigung: Denn wem die Phantasie vergeht, den springt die Realität an – und frisst ihn auf.

Übungen in PhantasieEs ist ein wohlgemerkter Denk- und Arbeitskniff, wie oben angeregt, die Imaginationen in Vorstellung und Phantasie zu unterscheiden. Es hilft beim “geistig in Bewegung bleiben”, doch soll nicht unerwähnt sein, dass es eine synonyme Schnittmenge der Begrifflichkeiten gibt, in welcher eins ins andere übergeht – und diese Übergänge zudem noch fließend sind, bewegt, veränderlich – und schlicht nicht dingfest zu machen in irgendeiner Definition. Im besten Fall begegnet uns das Lebendige. Wie auch in verfremdeten Texten oder in vielschichtiger Musik. Wie in ambivalenten Stimmungen – und überhaupt in einem “offenen Ende”. Womit wir inmitten unserer Übungen angelangt wären – oder wer kann den Verlauf seines/ihres Lebens durch wasauchimmer vorherbestimmen? Eben. Besser in Bewegung bleibendamits nicht so quietscht wenns gwetzt wird …

Der Ernst des Lebens muss nämlich auch lustig sein.

 

Zu den drei Hasen

Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 9. September um 22:06 UhrZu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Hasen … Es ist schon etwas Besonderes, wenn ein Mensch einen anderen “Hase” nennt – und es sind mindestens so viele Bedeutungen dabei möglich, wie es Hasen auf der Welt gibt. Die vermehren sich nämlich auch wie die Karnickel. Jedenfalls dort, wo ihre Wiese noch nicht von Maschinen planiert ist, damit sich die Überbevölkerung einfacher ausbreiten kann. Von der Hasenjagd (und es muss auch nicht die Mühlviertler sein) wollen wir hier gar nicht erst anfangen. Der Hasenwerdung des Menschen und/oder umgekehrt haben wir einst in der Sendung “Hasen wie wir” nachgespürt. Heute wollen wir jene Menschen würdigen, zu denen wir gern “Hase” sagen, sowie all das, was mit diesem Begriff mitschwingen kann…

Zu den drei HasenNun ist ja der Hase, wie wir ihn aus freier Wildbahn kennen, seiner Natur nach ein sehr scheues Wesen, das wir zwar aus der Ferne beobachten, dem wir jedoch nicht nahekommen können, auch nicht als junger Hund. Wenn aber jetzt so ein Hase auf ein Mal stehen bliebe – und sich zu uns umdrehte, dann wäre das schon ein erster Einbruch von etwas gänzlich Unerwartetem, das sich allerdings wesentlich “richtiger, stimmiger und auch zusammenhängender” anfühlen könnte als vieles, was wir bisher zu wissen geglaubt haben. Und wenn dieser Hase jetzt auch noch auf uns zu käme (anstatt wie üblich von uns weg zu laufen), dann stünden wir bereits mitten in etwas, das wir als “wundersame Erscheinung” einzuordnen gelernt haben. Als etwas, das es eigentlich nicht geben kann (von dem aber wiederum in vielen Geschichten berichtet wird). Ja, was denn jetzt? Gibt es mehr als nur eine Wirklichkeit? Und wenn ja, warum? Zu Hilfe, ich werde von freundlichen Hasen verfolgt! Halt, nein, andersrum: Zu Hilfe, ich werde von unfreundlichen Jägern verfolgt, weil ich mir freundliche Hasen vorstellen kann.

Zu den drei HasenWenn uns besagter Hase darüber hinaus noch freundlich begrüßt, uns zum Verweilen auf seiner Wiese und zum Abendessen einlädt, und wir mit Erstaunen feststellen, dass wir seine Sprache verstehen, dann sind wir endgültig in einer anderen Welt gelandet, von der wir bis vor kurzem noch nicht geglaubt hätten, dass es sie überhaupt geben kann. Oder wissen wir es längst, dass es auch noch weitere “andere Welten” gibt, wenn wir nur unserem inneren Sinn für den Zusammenhang allen Lebens vertrauen? Möge der Hase mit uns sein, denn bei der nun unweigerlich bevorstehenden Kollision zwischen den Wirklichkeiten kann es schon einigermaßen ungemütlich werden. Es sei denn, wir beschränkten unsere Phantasien auf eine sogenannte Freizeitbeschäftigung und verhielten uns ansonsten entsprechend der allgemeinen Übereinkunft als folgsame Bewohner der einen Wirklichkeit aus dem Realitäterbüro zum Weltbeherrsch. Die Trennung zwischen Mensch und Kunstperson wäre somit das Kriterium geistiger Gesundheitnicht die Stimmigkeit mit den eigenen Bedürfnissen und Gefühlen?

Zu den drei HasenSind sprechende Hasen also ein Fall fürs Kinderbuch – und damit für die Geringschätzung all dessen, was als “kindlich” oder “kindisch” abqualifiziert wird in unserer “dem Erfolg um jeden Preis gewidmeten” Gesellschaft? Oder ist es geradezu Gesellschaftsgerm (der locker und fest zugleich macht), wenn Mensch einen Menschen “Hase” nennt, weil er/sie plötzlich dessen Sprache und “andere Welt” versteht? Weil er/sie statt der logisch erwartbaren Flucht freundliches Zutrauen erfährt? Weil etwas/jemand wie ein wildes Tier mit einem Mal “zähme mich” sagt und dieser Vorgang zur “gegenseitigen Zähmung” wird? Muss denn des Menschen Versuch, die bekannte mit der unerwarteten Welt zu verbinden, so dass beide in eine Wechselbeziehung eintreten können, von vornherein als Spinnerei abgetan und in weiterer Folge aus der Erwachsenenwelt weggemacht werden? Nun, wenn man (wer auch immer das ist) den “Status Quo” auch “um jeden Preis” aufrecht erhalten muss… Apropos, seit Christi Geburt (dem Jahr 0) gab es auf der gesamten Welt etwa eineinhalb Jahre Frieden. Da sind mir die Hasen lieber

PS. Ein Gasthaus namens “Zu den drei Hasen” gibt es übrigens auch. Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen sie ihren Stootsie