Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 10. Oktober um 22:06 Uhr – Am 1. August des heurigen Jahres hätte Ernst Jandl seinen 100. Geburtstag feiern können, wenn er nicht am 9. Juni des Jahres 2000 gestorben wäre. Sein Vermächtnis jedoch lebt in uns weiter. Sein Verständnis von Dichtkunst war wegweisend und ist es immer noch. Sein Umgang mit Sprache inspiriert nach wie vor zu immer wieder neuen, eigenen Versuchen, die Wirklichkeit hinter dem Hörbaren zu entschleiern. Und dazu, auf dem Weg solcher Ent-deckung in bislang unerforschte Dimensionen vorzudringen. Denn alles, was uns gesagt, erzählt und wie auch immer vorgeführt wird, hat viel mehr als nur die eine Be-deutung, die wir ihm viel zu schnell zuzuweisen gelernt haben – und gelehrt worden sind. Allein schon “ottos mops” öffnet da ungeahnt neue Wege …
“… alle, die es hören oder lesen, wissen, dass sie es ebenfalls können, weil sie sofort erkennen, wie es gemacht ist, und dann beginnen wirklich einige, und meist sind es Kinder, dieses Gedicht nachzumachen, aber in Wirklichkeit machen sie es gar nicht nach, sondern sie haben nur entdeckt, wie man so ein Gedicht machen kann, und dann machen sie es, und es wird ihr eigenes Gedicht daraus … Einmal habe ich kurz nacheinander neun Gedichte geschrieben, in denen nur das e vorkommt; das ist leicht, denn Wörter, in denen nur e vorkommt, gibt es in unserer Sprache viel zahlreicher als Wörter, in denen nur a oder u vorkommt … Jetzt weiss also jeder, wie so ein Gedicht gemacht wird, und jeder kann es nun selber versuchen, und es werden sehr viele neue Gedichte entstehen, schöne Gedichte. Ob aber irgendwem noch ein Gedicht mit o gelingen wird, nachdem es «ottos mops» bereits gibt, kann ich wirklich nicht sagen. Doch ich glaube: eher nicht …”
Nun ja, unter uns selbst Dichtenden, da wäre ich mir nicht so sicher. Mir zum Beispiel fällt daraufhin gleich ein Herr “Doktor Kohn” ein, der sich wegen seines “Motors voll Rost sorgt“, aber auch “Holz holt”, “Gold lobt” und bei dem dessen Freund “Gordon noch wohnt”, der wiederum ein “Troll” ist und mit dem er “oft toll tobt”. Doch daraus ein “richtiges” Gedicht zu machen, das ist wohl noch einmal etwas ganz anderes … In dem legendären Dokumentarfilm “Entschuldigen sie wenn ich jandle” (aus der Zeit, als die Videos noch laufen lernten) sagt Ernst Jandl: “Ich will, dass meine Sprechgedichte auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus weiter ertönen.”
Daran solls gewiss nicht scheitern! Ich glaube ja, dass Ernst Jandl hier, sowohl in seinen Gedanken zu “ottos mops” und dessen anregende Wirkung speziell auf Kinder, als auch in seinem filmisch festgehaltenen Vortrag von “lauter”, dessen Bildwirkung aus verschiedenen Schriftgrößen er eingangs erklärt, zwei Seiten ein und desselben “Geheimnisses” offenlegt, das im Grunde keines ist: Gedichte wollen (und sollen) ganzheitlich erlebt, sollen mit allen Sinnen gespürt und unter Einbeziehung des gesamten Menschseins (und nicht bloß mit dem Kopf, in dem ein ganzes Bücherregal voller Bedeutungen herumsteht) zelebriert werden …
vom kochen zum knotz
vom schlafen zum werk
vom stehen zum sitz
vom dasein zum ich
vom liegen zum sein
vom lesen zum wir
vom reden zum du
vom schauen zum ich
vom bleiben zum da
vom gehen zum heim
vom spüren zum will
vom leben zum
Weiterjandln – so heißt übrigens ein Geburtstagsfest, das die Salzburger Autor*innengruppe dem Großmeister des Sprechgedichts ganz im Sinn seines Vermächtnisses am 28. Oktober (Beginn 18:00 Uhr) in der Stadtgalerie Lehen ausrichtet: “Mit Gedichten natürlich. Mit Texten, dich nicht still halten, die sich vom Papier lösen, sich umkreisen, umschlingen, verzwiebeln, die flibschen und frachzen und flurren, die freuphorisch frummen, dichterdächtig, denkvoll, angelustet weiterzujandln.”