Volkstrottel

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. September Der Volkstrottel – er bietet sich als Steigerungsform des Trottels geradezu an: Trottel, Volltrottel, Volkstrottel. Das liegt sogar sprachgeschichtlich nahe, zumal die Etymologie den Begriff “Volk” von einer indoeuropäischen Wurzel herleitet, die “Menge, Fülle” sowie “(ein)füllen” bedeutet. Von da her riechen Kirtag und Zeltfest sowie die sprichwörtliche “breite Masse” gleich etwas mehr nach Erbrochenem. Wes das Volk voll ist, des geht der Mund über. Eine umfassende Bestimmung aller hier angeführten Begriffe würde allerdings den Rahmen (der Sendung wie auch des Artikels) sprengen. Weshalb wir uns auf den Trottel an sich beschränken wollen, der ohne eigenes Hinterfragen dem jeweils vorherrschenden Trend seines Umfelds nachtrottelt. Eben dem Volkstrottel.

Idioten und VolkstrottelDoch Vorsicht! Ein Idiot ist kein Trottel. Und so manches Zitat ist auch nicht von Franz Kafka. Ein hierbei besonders herausragender Satz ist dieser: “Viele falsche Zitate entstehen aus Satiren, die nicht als Satiren erkannt werden.” Derlei ist zumeist dort zu beobachten, wo ein starres und vorgefertigtes Weltbild das selbständige Denken verdrängt und somit auch das Empfinden, das Einfühlenkönnen (also das, was wir Phantasie nennen) zerhindert. Nun ist zwar “Volkstrottel” eine beliebte Bezeichnung für vielerlei Nationalpatridioten bis hin zu jenen völkischen Popolisten, deren Vogel Nazi heißt und seit tausend Jahren ins deutsche Erfolgreich scheißt, doch die Art und Weise, wie Feindbilder hergestellt und Unwillkommene ausgemerzt werden, ist auch in ganz gegenteiligen Gesellschaftskreisen zu bemerken: Da wird aus vermeintlicher Rechtgläubigkeit reflexhaft reagiert, ohne Gefühl und Verstand, werden Menschen zur Unperson erklärt, aus der Wahrnehmung verbannt und aus der Geschichte getilgt. Vorprogrammierte Verhaltensweisen sind allerdings ihrem Wesen nach immer vertrottelt, ganz egal, aus welcher Weltsicht sie herrühren. Der Friede unter den Menschen, Gerechtigkeit und “eine bessere Welt” werden nicht dadurch erreicht, dass man alle vernichtet, die von irgendeiner Norm abweichen.

Und nun, liebe Links- wie Rechtgläubige, verehrtes Volk, liebe Trottel: Wer sich im Dickicht unserer Andeutungen und Assoziationen zu verlaufen droht – oder ein für alle Mal wissen will, worum es in dieser Sendung eigentlich geht, derdiedas möge zur weiteren Vor- und Zubereitung diesen subtilen Kommentar von Prof. Dr. Gernot Hassknecht zu sich nehmen. Wir wünschen guten Appetit.

 

Passagen. Werk für Walter Benjamin (zum 80. Todestag)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. September“Schwerer ist es, das Gedächtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berühmten. Dem Gedächtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion geweiht.” Am 26. September 1940 starb Walter Benjamin auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou. Wir gestalten aus diesem Anlass einen akustischen Gedenkort für diesen Philosophen, Kulturkritiker und (unter anderem auch) Baudelaire-Übersetzer, dessen komplexe Denkwelten sich der Einsortierung im akademischen Schachterltum nach wie vor naturgemäß widersetzen. Was ist “Geschichte” jenseits ihrer Schreibung? Walter Benjamin wollte nicht weniger, als die kapitalistische Weltherrschaft gründlich zum Einsturz zu bringen. Im Eingedenken mit ihm betreten wir eine andere Wirklichkeit.

“Es handelt sich bei Benjamin um eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten, denen ich je in der Literatur begegnen durfte. Er verkörpert für mich jenseits seiner traurigen Geschichte, aber um sie wissend, die gelungenste Zusammenführung von Poesie und Wissenschaft. Niemand konnte diese zwei Disziplinen so zusammendenken wie Benjamin. Er hat sich nie aus der Wissenschaft herausgedacht. Er hat keinen Unterschied zwischen Form und Inhalt gemacht. Bei jedem wissenschaftlichen Text aus seiner Feder hat man stets das Gefühl, einen Lyriker zu lesen. Ich kenne niemanden, der zärtlicher zur Sprache gewesen ist als Walter Benjamin. Und das, obwohl er gar keine Gedichte geschrieben hat.” Andreas Spechtl

“Wenn ich über die Vergangenheit schreibe, während ich in der Gegenwart verweile, bin ich dann noch in der Echtzeit? Vielleicht gibt es keine Vergangenheit oder Zukunft, nur die immerwährende Gegenwart, die diese Dreieinheit von Gedächtnis enthält.
Ich blickte hinaus auf die Straße und sah, wie sich das Licht veränderte.” Patti Smith

“In dem historischen Augenblick, da der Kapitalismus – in Form des von ihm hervorgebrachten Faschismus – eine Gefahr apokalyptischen Ausmaßes in die Welt befördert hat, nimmt er nochmals den Beginn der kapitalistischen Epoche ganz genau in den Blick, und zwar in atmosphärischen Details, die dem Marxismus (zu dem sich Benjamin in dieser Phase seines Lebens ausdrücklich bekennt) in seinen orthodoxeren Ausprägungen völlig nebensächlich erschienen wären. Als könnte sich durch das Herausgreifen dieser Details, wenn man sie nur genau genug anschaut, der versteckte Schlüssel zum Verständnis des Kapitalismus finden, die Sollbruchstelle, von der her man ihn im letzten Augenblick – bevor der Faschismus auf ganzer Linie siegt – zum Explodieren bringen kann.” Gerald Fiebig über Walter Benjamins “Passagen-Werk” (Fragment), das auch dem hier titelgebend zu spielenden Hörstück zugrunde liegt.

Es erscheint uns ohnehin der geeignetere Zugang zum übervollen Universum des rastlosen Bilddenkmenschen zu sein, in Gestalt einer inneren Erlebnisreise etwas davon zu erspüren. Wie wenn man den etwas sehr anderen Dokumentarfilm “Who killed Walter Benjamin?” eben nicht verschwörungsesoterisch, sondern ganz und gar “benjaminisch” auffasst: Die Geschichte erzählt sich ihren Anwendern von selbst.

 

Razelli RMX – Jedermann

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. September – Kaum ist das letzte Echo über dem Domplatz verhallt, schieben wir eine weitere Jedermann-Interpretation hintnach, die wir für äußerst hörenswert erachten. Es handelt sich dabei um die neueste Fassung von Philipp Hochmairs Jedermann-Monolog, diesmal dramaturgisch gestrafft und in die Musik von Kurt Razelli eingebettet. Kurt wer? Razelli, weithin bekannt als Mash-Up-Artist, der oft prominente Wortspenden zu vielschichtig schillernden Songs/Videos verbearbeitet. Ein rastlos kreativer Freibeuter, der aus dem allgegenwärtigen Treibgut der Sprache wiederum neue, ureigene Kunstwerke herstellt, überraschend, kratzig, hintersinnig, lärmend und schön. Zum Beispiel sein Peter Handke Song – da kommt einem die Weltliteratur derart unerhört entgegen – dass die Ohren Augen machen!

Razelli RMX JedermannDieses “aneignende Darstellen” enspricht auch der Arbeitsweise von Philipp Hochmair, der sein “Jedermann-Reloaded-Projekt” immer als ein Work-In-Progress und als Erforschen und Ausloten der Möglichkeitsformen eines oft als unbefriedigend erlebten Texts begreift. Dem Post-Rock-Album mit der Elektrohand Gottes haben wir im letzten Herbst zwei Sendungen gewidmet. Diesmal bringen wir das aktuelle Album von Kurt Razelli zu Gehör, das die verdichtete Version des Jedermann-Monologs mehr in filmepischen Klangflächen und dramatischen Sounscapes aufbereitet. Durch diese Umsetzung erreicht das einst museal muffige Stück eine bislang ungekannte Dynamik und Eindringlichkeit. Und die beiden Berserker, die hier gemeinsam gewirkt haben, erstbesteigen einen neuen Höhepunkt ihres bisherigen Schaffens, der sich rundum gelungen anfühlt – und anhört. Vertrauen sie uns, wir spielen immer nur das, was uns taugt. Das ist das Vermächtnis des Freien Radios in einer Medienlandschaft voller Quoten und Idioten: Der unerträglichen Vermarktstandelung von Jedermannsdorf das Kreative in seinem Werden zu entgegnen, weil es Kunst und Lust – und gut ist.

Kommt Jesus zum Psychiater und sagt: “Herr Doktor, ich halt das alles nicht mehr aus. Die einen laufen mir nach, die anderen wollen mich umbringen. Und ich hab immer das Gefühl, ich muss alle retten. Ich bin total verzweifelt. Sagen sie mir, was ich tun soll!” Darauf der Psychiater: “Nu – bin ich Gott?”

Zu Risiken und Nebenwirkungen essen sie die Packungsbeilage …