תיקון עולם

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. DezemberTikun Olam, was etwa soviel bedeutet wie “die Welt reparieren”, ist mein neuer Lieblingsbegriff. Und weil er aus der jüdischen Kultur kommt, ist das auch die Gelegenheit, einen Titel in hebräischer Schrift zu verwenden. Dies allerdings liksbündig:                                           תיקון עולם    Und ab da wirds anspruchsvoll. Wir reparieren uns eine Welt oder Wilkommen beim Gehirnhälftentraining. Der Begriff Tikun Olam vermittelt nämlich ein weites Spektrum an Bedeutungen, und da sollte man schon selbst ein bisserl auf die Suche gehenWir verdichten das, was wir dabei empfinden, in ein nach vielen Seiten mögliches Jahresmotto, mit dem wir zudem noch ein Statement zum Wert des Judentums für unsere eigene Kulturwahrnehmung verknüpfen. Womöglich auch eine Geschichte.

תיקון עולם (Tikkun Olam)Als ich 10 Jahre alt war, lebte ich eine Zeit lang in den USA und besuchte dort auch die Schule sowie in den Ferien das übliche Summercamp. Eines Tages betraten einige Mitkinder, die sich zu einer Art “Gang” zusammengeballt hatten, unsere Hütte, beschimpften mich als “Kraut” oder eben “Scheißnazi” und wollten mir in den Koffer brunzen. Denen stellte sich David, ein kleiner jüdischer Bub, entgegen. Und indem er sagte, dass ich sein Freund sei und er mich beschützen würde, stellten sich immer mehr andere Kids mit ihm auf meine Seite, so dass die Möchtegernmobster schließlich kleinlaut wieder abgehaut sind. Versteht ihr? Der kleine David hat mir die Welt repariert. Und diese Lichtgeschichte ist mehr als nur eine Randnotiz. Sie ist das Evangelium schlechthin (wenn wir einen Begriff wie “Gute Neuigkeit” wirklich erfassen und jeden Menschen als möglichen Erlöser – für sich selbst wie auch für andere – verstehen wollen). Und das tun wir. Weihnachten hin, Wintersonnwend her. Die Ironie der Geschichte oder der diese Geschichte erst so richtig abrundende Treppenwitz des Universums ist ja, dass ich erst 50 Jahre später die Naziverstrickungen meiner Vorfahren entdeckte. Und genau da taucht dieses תיקון עולם als ein übergreifendes Lebensmotto wieder auf.

Apropos Weihnachten, wie habt ihr das diesmal so erlebt? Schön schrecklich oder eher schrecklich schön? Mich quält ja gerade zu dieser Jahreszeit der inflationäre Gebrauch von Weihnachtsklischees für die vorgebliche “Normalbevölkerung” im Fernsehprogramm. Weihnachtsbezogene “Unterhaltung für die ganze Familie” ist für mich, bei allem Verständnis für die Lebenssituation einzelner Menschen, eine fortwährende Beleidigung meines Geistes. Und da hat mir heuer – mittendrin – der löbliche Fernsehsender arte “die Welt repariert”. Mit dem Film “Der Schneeleopard”.

In diesem Sinn wünschen wir es uns allen.                                              תיקון עולם

 

Der Sommer kann beginnen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. JuniDie Welt ist im Begriff aus den Fugen zu geraten – und wir freuen uns, dass es Sommer wird. Leben wir nicht alle in diesem Zwiespalt zwischen Lebensfreude und Vergehen? Zwischen Wachstum und Zerfall? Zwischen “Moi, is des scheee!” und “Geh, bitte – ned des a nu!” Es ist an der Zeit, den Sommer zu begrüßen und mit ihm zu feiern, weil wir kostbar sind. Zerbrechlich, aber wunderschön. Trügerisch wie das Idyll und tief vertraut mit uns. Wenn wir uns wirklich ausliefern, dann werden wir uns auch nicht umbringen. Wir sind ihre Hasen des Guten, Wahren und Schönen. Der Rest ist Geschichten. Womit wir auch schon bei jenem “schönen Ort” angekommen sind, “wo das Leben zur Sprache kommt”, dem Salzburger Literaturhaus und seinem heurigen, ganz speziellen Sommerfest.

Die dort gemachte Aussage: “und ausnahmsweise keine Literatur.” ließ uns innerlich aufhorchen (oder fast schon erschrecken) Waaaas? Ein Fest im Literaturhaus OHNE Literatur? Ja, dürfens denn das? Doch dann erfuhren wir unter der Hand, dass die da angekündigte “Überraschung” aus so einer Art Textpotpourri oder anders gesagt “Sommersprachblütenstrauß” bestehen wird, was wunderbar zu unserer ursprünglichen Idee für diese “Sendung als Sommerfest” passt, wollten wir doch ebenfalls eine “Blütenlese” aus sommerthematischen Audiocollagen und Musikstücken präsentieren und dazu die eine oder andere “Überraschung” bereitstellen. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich stattfindenden Wirklichkeiten ist ebenso beabsichtigt wie auch frei erfunden. Alles andere wäre rein zufällig – und das ist es eh oft. Wobei “rein” … aber lassen wir das!

Es fällt jedenfalls auf, dass in unseren Artarien, Nachtfahrten und Perlentauchereien immer wieder jahreszeitliche Schwerpunkte auftauchen. Das begann schon 2008 mit der mehrteiligen Reihe “Sommerkunst”, die in einer Radioschorsch-Auszeichnung zum 10-jährigen Jubiläum der Radiofabrik kulminierte. Im Juli 2013 hinterfragten wir den Salzburger Festspielzirkus einmal sprach- und gesellschaftskritisch: Sommer Textase Reloaded. Und am 12. Juni 2015 “eröffneten wir uns einen H. C. Artmann Platz. Feierlich. Live. Im Radio.” Unter dem passenden Titel Sommernachtstraum.

Zuletzt soll sich der Kreis noch thematisch schließen. In unserer Sendung Dunkelbunt Sommertag haben wir die eingangs skizzierte Zugleichheit aufgezeigt: “Sommertag assoziiert ja seit Erfindung der Sommerferien alles Vorstellbare rund um Freibad, Freiheit und Freizügigkeit. Oder lieber Freibier? Dennoch wohnt dem Sommersein oft nicht nur Schönes und Helles inne, sondern auch Abgründiges.” Und weiter: “Jede Extase trägt immer auch den Absturz in sich, so wie im Leben das Süße auch immer mit dem Bitteren vermengt ist.”So riecht, so schmeckt, so fühlt sich Sommer an.

Ein frohes Fest. Wir sehen uns …

PS. Jochen Distelmeyer, den wir in der Signation hören und den wir als einen ganz herausragenden deutschen Dichter verstehen, hat mit Jenseits von Jedem die fast 15-minütige Ballade eines realsurrealen Sommerfests verfertigt, die wir euch jetzt zu jedweder Einstimmung – und überhaubst – heftig ans Herz legen wollen.

 

Kraina FM – Resistance Radio

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Mai – Ein ursprünglich auf kommerziellen Erfolg ausgerichteter Radiosender in der Ukraine findet sich seit Kriegsbeginn in bester Piratentradition wieder: Kraina FM sendet seitdem dezentral aus versteckten Studios ins ganze Land – und hat auch sein Programm dementsprechend verändert. Zwar war es schon immer als ein rein ukrainisch-sprachiges Radio konzipiert, und das nicht nur in den Wortbeiträgen, sondern auch in der Musikauswahl, allerdings eher dem hitradioartigen Gutelaunetum verpflichtet. Der russische Überfall am 24. Februar hat ihnen die gute Laune zunächst einmal verdorben, jedoch fanden sich einige der Betreiber*innen auf der Flucht wieder und erschufen ein Programm des nationalen Widerstands. Dieser Podcast (auf Englisch) erzählt anschaulich davon.

KRAINA FMEigentümer des Senders ist (über eine niederländische Medienholding) der hierzulande nicht unbekannte Karl Habsburg-Lothringen, wovon die Journalistin Corinna Milborn unlängst in der ZEIT (Hinfort mit dieser Paywall!) berichtete. Nun mag man derlei Unternehmertum in der Ukraine gegenüber eingestellt sein wie auch immer, Kraina FM hat sich jedenfalls zu einem Sprachrohr des nationalen Widerstands entwickelt – und das zeigt sich speziell daran, was da gesendet wirdund wie sich das beim Zuhören anfühlt:

Die (ausschließlich ukrainische) Musikauswahl ist inzwischen, wenn auch nach wie vor auf ein “möglichst breites Publikum” abzielend, derart angenehm Rock- und Folk-orientiert, dass sie auch in unseren niveauverwöhnten Ohren durchaus interessant klingt – und nicht so grausam penetrant wie das sonstübliche Kommerzgeplärr der konsumistischen Marktschreier. Darüber hinaus gibt es (dezent mit Musik und/oder Geräusch untermalte) Geschichten und Lyriklesungen (was uns ja besonders freut). Wir verstehen zwar kein Wort – aber das alles kommt so gefühlvoll rüber, dass wir gar nicht anders können, als dabei in heftige Sympathie zu verfallen. Слава Україні!

Und statt angestrengter Verlautbarungen, die andernorts “News” heißen und sich wie pseudofröhliche Werbesendungen für den schönen Schein anhören, gibt es hier nützliche Informationen über sichere Fluchtrouten sowie sinnvolle Aufrufe zur Versorgung der Kämpfenden mit allem, was gerade fehlt. Naturgemäß jeweils mit entsprechend patriotischem Unterton/Überschwang – doch wer möchte ihnen derlei in Zeiten des Krieges verdenken? Bemerkenswert erscheint uns die beobachtbare Veränderung im gesamten “Soundbild” des Sendersin Richtung unaufgeregtes kulturelles Selbstbewusstsein. Form follows Functionund das lässt sich hören!

So wollen wir diesmal den Livestream von Radio Kraina FM übernehmen und diesen feinen Sender auch bei uns bekannt machen, vor allem im Hinblick auf die nach wie vor wachsende ukrainische Community. “Kannst du auch hier bei uns hören. Klingt wie Heimat – und klingt überhaupt gut.” Gemäß unserem Leitspruch “Gut zu hören.” Und wir leisten hiermit unseren Beitrag zum Blühen und Gedeihen der ukrainischen Kulturlandschaft und widmen folgendes Gedicht von Christopher Schmall mit dem Titel “Blaugelbe Fahnen” (gern auch zum Übersetzen, Vorlesen im Radio etc.) dem tapferen Radiosender, der seinen selbstgewählten Auftrag einfach nicht aufgibt:

blaugelbe fahnen
hängen
noch

entblütete rosen
liegen
am ufer

keine schwäne
keine küsse
kein heiliges wasser

wo bleib ich wenn winter ist?

zwischen ruinen
im erdschatten
sprachlos und kalt

PS. Sehr gut gefallen uns die emotionalen Reportagen von Anne Levine, die dafür mit Kraina FM zusammenarbeitet und über das Pacifica Network gut zu hören ist …

 

Salzburger Domkapital

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. August – Vom Memento mori zur Kapitalismuskritik. Barock’N’Roll in einer Stadt, die oft nur als Bühnenbild fürs Geschäftemachen gesehen wird. Für viele sind daher die Bretter vor ihrem Kopf die, die die Welt bedeuten. Aber das ist nicht die unsere. Inwieweit sind die derzeitigen Salzburger unser aller Festspiele? Damit auch wirklich alle, die etwa den Jedermann kritisieren, verstehen, worum es dabei geht, haben wir die 10-Minuten-Fassung von Michael Sommer aus seiner genialen Reihe “Weltliteratur to go” vorbereitet. (In der CBA-Version unserer Sendung sind an der Stelle Philipp Hochmair, Die Elektrohand Gottes sowie Kurt Razelli zu hören). Beim “Sterben des reichen Mannes” geht es um Macht und Geld. Wobei – für uns alle geht es letztendlich um Leben und Tod

Salzburger DomkapitalDoch was hat eine von Macht- und Geldinteressen gestaltete Welt mit menschlichen Bedürfnissen zu tun? Und mit “Bedürfnissen” meine ich jetzt nicht die vom bauernschlauen Marketing künstlich erzeugten und uns in fortwährender Wiederholung als unsere eigenen eingepflanzten. Ich meine die tatsächlichen, immer schon für unser gedeihliches Leben (und Sterben) unerlässlichen – wie etwa nach Frieden, Gerechtigkeit und Vertrauen zueinander. In was für angeblich alternativlose Gesetzmäßigkeiten einer brutalen Marktwirtschaft werden wir stattdessen alle hineingezwungen? “Ist der Mensch ein Homo Oeconomicus?“ fragt man sich hier auch im Hinblick auf den Salzburger Jedermann, dieses Kapital des Domkapitels. Die deutsche Philosophin Ariadne von Schirach bringt das Wesen des Menschen im ständigen Wechselspiel mit den Gegebenheiten auch in ihren klugen Büchern auf den springenden Punkt. Zuletzt erschien “Die psychotische Welt” und davor “Du sollst nicht funktionieren”. Ihre Vortragskunst ist außergewöhnlich, Atemrhythmus, Sprache wie Stimmelodie. Ihre gesamte Haltung versinnbildlicht, wie ein verletzbares Menschentier auf leisen Sohlen laut denkt. Chapeau! Doch Moment, war da nicht was mit dem Nachnamen?

Zu dessen “Angebräuntheit” hat ihr Cousin Ferdinand von Schirach, der weithin geläufige Strafverteidiger und Schriftsteller (und Festspielredner), einmal Vorläufig Endgültiges ausgesagt. Und damit wollen auch wir es bewenden lassen …

 

Verdutzend

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. März – Die wortkreative Entsprechung zu Salzteigprothese muss einfach Vollkornschraubenschlüssel sein. Verdutzend? Den Ein- und Ausgeweihten wird schnell bewusst, worum es hier geht: Vor inzwischen zwölf Jahren (in Worten 12) erschuf der nimmermüde Querkünstler Peter.W. die Sendereihe Artarium und somit ist das Dutzend voll. Uns verdutzen seitdem die schöpferischen Spätfolgen dieser Unternehmung aufs vortrefflichste – und immer wieder aufs neue! Zur Würdigung dieses Umstands, liebe Schlagerfreunde, wollen wir diesmal einem ebenso umtriebigen Wortschwurbler und Zusammenhangstifter unser Gehör leihen, nämlich Rainald Grebe, dieser Allroundrampensau zwischen Wahnsinn und Erfolg. Und wir wollen ihm dabei sogar sein abgeschlossenes Studium verzeihen. Kunnst!

Im Verdutzend billigerVolksbildnerischer Exkurs: Verdutzend als titelspendende Wortvermischung aus Dutzend und verdutzt vereint zwei etymologisch nicht verwandte Begriffe zu einer bisher dergestalt noch nicht dagewesenen Bedeutungsebene. Durch die absichtliche Legierung der beiden Wortelemente entsteht ein Kunstsinngehalt, der wiederum zu selbsteigenem Sprachspiel weiter entwickelt werden kann. Womit wir bei den philosophischen Grundfragen angelangt wären: Was ist ein Künstler? Warum gibt es kein bedingungsfreies Grundeinkommen? Und wann gibts endlich Mittagessen? Diese höchst ernsten Probleme der Zivilisation (und der mit ihr verbundenen Müdigkeit) werden wir hier in gewohnt ironischer Weise verhandeln, indem wir die Wirklichkeit bis zu ihrer Kenntlichkeit entstellen. Damit sie uns nicht allzusehr verwirrt, die Verwirrklichkeit. Ein Kunstuniversum ist eben keine Hochschulvorlesung übers Reimeschmieden.

Höchst hörenswert ist jedenfalls die bei Freirad in Innsbruck produzierte Sendereihe Ethnoskop – Kultur für die Ohren, die zudem an jedem zweiten Sonntag im Monat um 18 Uhr (also gleich nach dem Artarium) auf den Frequenzen der Radiofabrik gut zu hören ist. Wir freuen uns immer wieder über deren thematische und gestalterische Vielschichtigkeit – und eben auch darüber, dass der von uns so geschätzte Rainald Grebe dortselbst des öfteren zu (meist gesungenem) Wort kommt. Ein vielfaches Hoch also auf die gepflegte Collage aus Strandgut und Kultur. Zur Einstimmung wie auch zur Abrundung ein Amuse Geule zur anregenden Verdauung des 20. Jahrhunderts

 

Damalsheutemorgen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. November“Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen – und die Zukunft gestalten.” Dieses Zitat von August Bebel (Schriftsteller und Mitbegründer der deutschen Sozialdemokratie) gibt einen Aspekt der titelgebenden Wortschöpfung wieder. Wobei Damalsheutemorgen durchaus auch den Seinszustand von jemandem beschreiben könnte, für den das heutmorgendliche Aufwachen schon ziemlich lang her ist, aus welchen Gründen auch immer. Merke: Zeit ist ein Phänomen, dass sich oft gar nicht in Stunden messen lässt. Deshalb soll diese Sendung dem Zeitlosen gewidmet sein, das in früheren Zeiten Kultstatus hatte, sowie seiner zeitgemäßen Vermittlung im Hier und Jetzt, auf dass dieses reiche Vermächtnis auch für zukünftige Gestaltungen zur Verfügung stehe.

Damalsheutemorgen - "Der letzte Hahnenschrei" (Arik Brauer Privatsammlung)In würdiger Vertretung des Hasen begleitet mich Timna Pachner, die doch tatsächlich nach Arik Brauers Tochter benannt ist – und zudem in der Radiofabrik-Lehrredaktion das unerhört!-Magazin mit entwickelt. Gemeinsam wollen wir das kultige Erbe der Familie Brauer bereisen und einer der allezeit legendärsten Radiosendungen beiwohnen: dem Schalldämpfer von Axel Corti. Im Hintergrund lauert die Frage, was eigentlich so eine Kultsendung ausmacht, damals wie heute – und morgen. Oder, wie sich ein zeitloses Damalsheutemorgen bewirken ließe, als Gegengewicht zum vergangenheitslosen Aktualitätsgehechel der immer schneller werdenden medialen Beschleuderung… Nicht, dass wir diesen hochphilosophischen Fragenkomplex in der knappen Stunde, die uns zur Verfügung steht, hinreichend gründlich zerantworten könnten. Aber ein paar Gedanken- und (vor allem) Gefühlsanstöße zum Thema sollten sich schon ausgehen. Zwischen den Zeiten, zwischen den Zeilen, hinter den Gründen und auch unterm Bewusstsein. Mir ist es ja längst ein Bedürfnis, womöglich Wesentliches aus diesen Schätzen des Damals zu heben – und so den nächsten Generationen zu vermitteln.

Und deshalb versteht sich das “etwas andere Kunnst-Biotop” namens Artarium oder auch Nachtfahrt-Perlentaucher in seiner Gesamtheit als ein Archiv vieler rundherum angeschwemmter Spezialitäten in oft überraschenden Zusammenhängen. Da lassen sich dann zum Beispiel Sendungen mit Axel Corti oder Zitate von Arik Brauer sowie ein Album der Band Zeitzeuge finden.

 

Diese schamanische Reise

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. November – Dass die Auszeichnung der Radiofabrik heuer zum ersten Mal nicht als Schorsch, sondern als Georgina (also in weiblicher Gestalt) vergeben wurde, das hat viel mit Teresa Lugstein zu tun, der allzu zu früh verstorbenen Mädchenbeauftragten des Landes Salzburg und langjährigen Sendungsmacherin von Teresas Frauenzimmer. Als in der Programmkommission beraten wurde, ihr diesen Radiopreis als Anerkennung ihres medialen Lebenswerks posthum zuzusprechen, da fiel mir sogleich der Chumbawamba-Song “Georgina” ein. Die Parallelen zwischen Teresas Engagement und den Inhalten der britischen Band sind unüberhörbar, etwa bei Gleichberechtigung, Empowerment und Emanzipation. Und dann gibt es noch diese schamanische Reise, über deren Bericht ich stolperte:

Georgina und die schamanische ReiseEs sorgte damals schon für einiges an Aufsehen, dass die als unheilbar krank geltende Frau, die seit Jahren auf einen Rollstuhl angwiesen war, mit einem Mal wieder selbst gehen konnte. Wesentlich für diese, von ihr als “Wunder” erlebte Entwicklung, war eine schamanische Reise, auf die sie sich mit der Fragestellung “Wie kann ich ein stimmiges Leben führen?” begeben hatte. Über diese Form der “Heilung” berichten ein ORF III Beitrag von Bernhard Hain sowie ihre eigene Erfahrungsbeschreibung auf der Homepage der Foundation for Shamanic Studies in Europe. Diese, auf den Prinzipien des “Core-Schamanismus” nach Dr. Michael Harner aufbauende Praxis andersweltlicher Kommunikation unterscheidet sich für uns von den vielerlei eher obskuren Angeboten ähnlicher Namensprägung. Doch wo ziehen wir die Grenze zwischen seriöser Spiritualität und bloßer Gschaftlhuberei? Nach welchen Kriterien beurteilt die Programmkommission Sendungen zwischen persönlichem Empfehlen und kommerzieller Werberei? Wo endet der Bericht vom Interessanten jenseits des Üblichen und wo beginnt der Jahrmarkt der Eitelkeiten, die Abhängigkeit vom Esoterischen – oder das Kasperltum der Missionierung?

Als Beispiel dafür, wie angenehm unaufgeregt Teresa Lugstein eine schamanisch Praktizierende präsentiert hat, sei hier die Folge “Schamanismus als Herzensweg” aus Teresas Frauenzimmer empfohlen. So kann das gehen

 

Vom Ende des Zuhörens

> Sendung: Artarium am Sonntag, 29. Juli – Wenn das Ende des Zuhörens gekommen sein wird, erübrigt sich auch die Radiomacherei. 20 Jahre sind genug. Oder war da noch was? Justin Sullivan, unter anderem Sänger von New Model Army, schreibt in einem Nachruf auf den Radiopionier John Peel, wie dieser ihm einst “die Idee des Underground nahebrachte, wo seltsame Menschen erstaunliche Aufnahmen aus rein künstlerischer Motivation herstellten”. John Peel vertrat Zeit seines Lebens Ansichten, “die dem Zeitgeist fundamental entgegen strebten”, so etwa, “dass Musik einfach nur Musik ist, und dass jedweder Celebrity-Kult dafür vollkommen bedeutungslos ist, wie übrigens auch für alles andere”. Der Mann hat die Entwicklung der Medien- und Musikkultur immerhin schon seit den Sixties aktiv mitgestaltet…

Vom Ende des ZuhörensWas soll das allerdings heute, wo die einheimische Piratenszene vor gut 20 Jahren ein legal lizenziertes, kommerzfreies Gemeinwesenradio erstritten hat? Was machen wir hier in postmodernen Zeiten, in denen “das dialogische Prinzip” ja kaum noch von Mensch zu Mensch seine Gültigkeit hat? Wo stattdessen der von Pier Paolo Pasolini prophetisch vorhergesehene Konsumismus um sich greift und alles Individuelle zur massenblöden Mitmacherei niedertrumpelt? Wo es nicht mehr darum geht, dass man bekommt, was man braucht, sondern einem nur noch irgendein Event angedreht wird, der den Eindruck vermittelt, man sei irgendwie “Part of the Game”. Verdummt in alle Ewigkeit! Heilsverbrechen, wohin man schaut. Die Menschheit besteht aber nicht nur aus dem, was sich normieren und social engineeren lässt, sie ist so vielfältig wie das Leben selbst. Der Massengeschmack des Mehrheitsmainstream schädigt nicht bloß den Umgang der Menschen miteinander, er korrumpiert zudem das Selbstwertgefühl jedes Einzelnem, indem er uns alle kommerziell zweckwidmet und in die Nutzbarkeit der Gewinnstreber quetscht. Auweh! Viele Jäger waren schon immer des Hasen Tod. Umso wichtiger sind daher heute Überlebens-Soziotope wie etwa das “Freie Radio”.

Oder der erwähnte “Underground”, wo Menschen einfach etwas machen, weil sie es gut finden, und nicht, weil damit massenkompatibel Gewinn erzielt werden kann. Das Freie Underground Radio, wie wir es verstehen, ist eine Schutzzone zur Erhaltung der Artenvielfalt von Kunst und Kultur. Ein kommerziell nutzfrei gestelltes Gebiet, in dem sich der zwischenmenschliche Ausdruck wieder ungehindert entfalten kann. Feiern wir daher den Fortbestand des Zuhörens mit diesem Zitat von John Peel: “…dass das Radio ein viel mächtigeres Medium als das Fernsehen ist (und auch immer sein wird), weil es die Phantasie des Publikums erblühen (im Sinn von gedeihen) lässt.”

 

Die Köhlmeier Rede

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. MaiMichael Köhlmeier hat also eine Rede gehalten. Und zwar anlässlich des “Tags gegen Gewalt und Rassismus”, einer vom österreichischen Nationalrat alljährlich abgehaltenen Gedenkfeier, die sich auf die Befreiung des KZ Mauthausen am 5. Mai 1945 bezieht. Und in dieser Rede hat der Schriftsteller, wie es seit Jahrzehnten seine Art ist, das Entstehen von Gewalt – durch die Beobachtung von oft unbeachteten Details – dargestellt. Dass er dabei aber nicht in der Vergangenheit verblieb, sondern einzelne Zitate von aktuell regierenden Politikern aufgriff, das wird ihm seither (vor allem von denselben) heftig vorgeworfen. Multimedial überschlägt sich “die Öffentlichkeit” mitsamt Armin Wolf und es wird vor lauter Pro und Contra immer schwieriger, das Eigentliche zu fassen.

michael köhlmeier im kontrastWer die Stationen dieser Erregung hier noch einmal zusammengefasst nachvollziehen mag, kann sich den Artikel von Kontrast.at zu Gemüte führen (Foto von Johannes Zinner © Parlamentsdirektion). Ich habe die Nutzungsbedingungen verstanden und akzeptiert etcetera blabla. Aber eigentlich wollte ich doch auf etwas viel Wesentlicheres verweisen, auf jenes Entstehen von Ausgrenzung und Gewalt, wie es Michael Köhlmeier schon immer beobachtet und aufgezeigt hat: In seinem vor 35 Jahren entstandenen Hörspiel “March Movie” (runterscrollen, bis der Titel in Rot erscheint, dort gibts dann die Inhaltsangabe und auch einen Stream) deckt ein engagierter Eisenbahner nach Jahren das spurlose Verschwinden einer ganzen Blaskapelle auf. Doch anstatt, dass ihm dafür etwa gedankt würde, geht die gesamte Gesellschaft, die das Verschwundensein all dieser Menschen nicht wahrhaben will, brutal gegen ihn vor, stellt seine geistige Gesundheit in Frage und macht ihn so zum Außenseiter. Völker, hört die Parallelen! Und jetzt gehen die Mehrheitsnormalen auf Köhlmeier selbst los, weil er ihnen unangenehme Zusammenhänge ausspricht. Es erinnert geradezu grotesk an Thomas Bernhard und den Staatspreis-Skandal 1968.

Die “Brüskierten” entlarven sich selbst – durch ihre jeweiligen Reaktionen. Es gibt im Grunde eh nur zwei Arten von Menschen: Die, die von ihren eigenen Empfindungen ausgehen und so zu einer Anschauung der Welt gelangen. Und die, deren Programm eine vorgefertigte Weltanschauung ist und die daher auf alles und jedes nur ein und dieselbe Antwort geben (wenn auch immer wieder leicht variiert). In unserem Fall eben Ausländerflut, Balkanroute, Sozialschmarotzer. Ist das nicht gefickt eingeschädelt?

 

Musas von Natalia Lafourcade

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. MärzDie mexikanische Sängerin macht sich gemeinsam mit dem Duo Los Macorinos auf die Suche nach ihren Inspirationen aus der weiten Welt lateinamerikanischer Klänge, nach ihren Musen sozusagen. So hat sie denn auch ihre zwei jüngsten Alben betitelt, nämlich Musas, deren erstes wir heute voller Freude zu Gehör bringen. Natalia Lafourcade war in den letzten Jahren als innovative Interpretin des Latin-Pop überaus erfolgreich, als solche auch bei der aktuellen Oscarverleihung zu Gast (was wohl nicht jedermanns Mainstream ist). In ihrem “Back to the Roots”-Projekt Musas jedoch spürt sie ernsthaft und feinsinnig all den Einflüssen nach, die sie im Lauf ihres Lebens und ihrer Karriere geprägt haben. Und in der Vermittlung dieser Musikwelt offenbart sie sich als eine echte Künstlerin.

Musas von Natalia Lafourcade„war wohl wieder ein gestrandeter abend, betrunken beraucht, antheringabend in freundes wohnung und ich meine rolle als nachtwächter selbsterfreulich einnehmend, nämlich ein sitzen vor der weltenscheibe mit zunehmender gedankenschwere und weiterer berauschung innerwärts – was die nacht erträglich macht. vor mir des internets abgrundsweite, zuflucht in bekanntem, oftgehörtem, abermals aberwitzigem, dann die suche nach bestimmtem, unbestimmt in der anzahl, unbestimmt auch die ungestümen einfälle im kopf des rauschenden…

und da erschien sie mir : in magenta und trübem blau, mit geschlossenen augen, geflochtenem haar und sang von einsamkeit und dem meer, von bolero und errötendem licht. unendliche sanftmut. stürmende lebenslust. es war echte musik, die schweben blieb im raum, mit dem rauch tanzte, sich mir ins spüren legte, an meine haut schmiegte – versickerte in jeder pompösen pore.

als ich vertraute war zeit ein wort ohne sinn
als wir verschmolzen färbte der himmel sich neu
als ich verstand begann erst mein fragen

in jeder zauberzüngigen zelle –
dort lebt sie nun, diese glühende welt, diese fremde so vertraute landschaft, lebt und wächst, verwebt und wandelt sich, mich.“