Apocalypse Solo

Podcast/Download: Artarium vom Sonntag, 26. August – Einige Einblicke in die verdichtende Arbeitsweise unserer Abteilung für Abgründiges und trotzdem Zuversicht. Was bewegt uns – und was wollen wir in der nächsten Nachtfahrt-Sendung „The Soul is a Bird“ ausdrücken? Welche Ströme werden in dieser 48. Ausgabe unserer Perlentaucher-Expeditionen zusammen fließen? Ein Aufsatz von Friedrich Heer etwa, entstanden Anfang der 70er Jahre, als Europa begann „mehr Demokratie zu wagen“ – die anregende Gedankenflut „Theologie nach Auschwitz?“ aus „Europa: Rebellen, Häretiker, Revolutionäre“ – Aber auch die Dramaturgie des zur selben Zeit ausgebrüteten Jahrhundertfilms „Apocalypse Now“ von Francis Ford Coppola, der in vielschichtigen Metaebenen den Wahnsinn von Vietnamkrieg und Imperialismus beleuchtet – und bricht…

Dabei wollte ich ursprünglich, frei nach Jochen Distelmeyer, der Frage „Wohin mit dem Hass?“ nachgehen, ähnlich wie Coppola frei nach Joseph Conrad „Heart of Darkness“ nacherzählt und dabei zur fulminanten Apokalypse in T. S. Eliots „Hollow Men“ gipfelt, rezitiert vom wohl jenseitigsten Marlon Brando aller Filme und Zeiten.

Nun ja, die Zeiten sind fürwahr beschissen und der militärindustrielle Komplex der Weltwirtschaftsgeschichte hat sich global dermaßen festgesetzt und eingebunkert, dass an wirksamen Widerstand nicht einmal mehr bei den aufständischsten Bergstämmen zu denken ist. Nichtsdestotrotz erfordert es die angewandte Psychohygiene, nach möglichen Metaphern von Hoffnung und Zukunft Ausschau zu halten, einfach um nicht bloß – mehr oder weniger dekorativ, demonstrativ, whatever – unterzugehen. Und während uns die Langstreckenbomber des Urheberächzstaats ihre Daisy-Cutter-Clusterbomben zum Ohrenbetäuben in die letzten freien Hörkunstcamps der Seelen-Urwälder scheißen – denken wir an balinesische Rituale und schreiben Gedichte.

Laurie Anderson erzählt in dem Stück „The Soul is a Bird“ von Feuerbestattung auf Bali, wobei alle Anwesenden in großen Jubel ausbrechen, sobald der Leichnam von einem hoch aufgerichteten, brennenden Turm mit ordentlich Schmackes in die Glut herab fährt und unzählige Funken hoch in den Himmel steigen.

Denn die Balinesen glauben, dass die Seele des Menschen ein Vogel ist, der zu Lebzeiten an den Körper des Betreffenden gebunden bleibt. Sobald der Tote aber nun vom Feuerturm fällt, schüttelt dies den Vogel frei und schickt ihn auf den Weg ins Jenseits, in den Himmel, zur Wiedergeburt… Und schließlich geht es ja auch bei jeder Interpretation unserer Hier-und-Jetzt-Wirklichkeit, bei all der Apokalyptik dieses Kultur-, besser Zivilisationspessimismus, der unsere eigenen Erfahrungen mit Conrad und Coppola verbindet, um die Suche nach der möglichen Auflösung, Synthese, Wiederauferstehung. Die Phantasie vom Phönix aus der Asche könnte eben doch viel wirklicher – und wirksamer – sein als die uns umgebenden Realitäten, so steinern sie auch scheinen mögen. In diesem Sinne!

Hier schließt sich dann auch wieder der Kreis zu Friedrich Heer – könnten wir nicht in unserem eigenen „Wagnis der schöpferischen Vernunft“ (so der Titel eines weiteren Buches) zu neuen Antworten, zu neuen Denkweisen, zu einer neuen Sprache gelangen auf unserer Reise ins Herz der Finsternis, um von den Feuern der Liebe zu künden und so dem Wahnsinn der Vernichtung zu widersagen? Denn „die Endlösung der Judenfrage ist längst in die Endlösung der Menschheitsfrage übergegangen“. Oder?

P.S. Dazu Rudolf Augstein at his best (im Spiegel 1967 zum Erscheinen von Friedrich Heers „Gottes erste Liebe“ – einer Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis Hitler)

Als gäbs kein Morgen mehr

Podcast/Download: Artarium vom Sonntag, 19. August – Tanzen im Radio? Eine echte Herausforderung! Wir machen uns gemeinsam mit Leon Galjasevic auf die Suche nach jenem gewissen Funken, der die Produktivität in uns zu entfachen vermag, wenn er urplötzlich überspringt und zündet. Denn einfach nur über seine Leidenschaft – das Tanzen – zu sprechen, das wäre uns zu eindimensional gewesen. Aber etwas von seiner Ergriffenheit, seinen inwendigen Bewegungen und ihrem Ausbrechen in den Ausdruck zu vermitteln, spürbar zu machen und zu erleben – das erscheint uns der Idee eines Kunnst-Biotops eher zu entsprechen. Und Leon hat noch einiges mehr zu bieten…

Vor etwa vier Jahren entdeckte er den C-Walk (auch Crip-Walk, einen in den U.S.A. nicht unumstrittenen Hip-Hop Tanzstil, der ursprünglich aus der Gang-Kultur von Los Angeles stammt) und begann damit selbst zu experimentieren. Machen ja viele junge Menschen, da mal was ausprobieren und dort ein Video hochladen, hat eh Spaß gemacht – und weiter gehts in die nächste Szene, zum nächsten Projekt. Nicht so Leon, der irgendwo eine tiefere Begeisterung gespürt haben muss – und sich seither der Ausbildung im Hip-Hop Dance widmet. Und der die Tanzstile, die ihm da begegnen, nach seinem eigenen Gefühl weiter entwickelt.

Leon auf YouTube: C-Walk/How to save a life

„Ich tanze meinen eigenen Stil – entweder zu Hip-Hop oder zu modernen Stücken, aber auch zu Klassik.“ So beschreibt Leon seinen Tanz im ersten Schriftwechsel mit mir. Neugierig geworden klicke ich seinen Youtube-Channel durch und bleibe bei einem faszinierenden Song vom deutschen Singer/Songwriter Tim Bendzko hängen. „Ich laufe“ – getanzt vor romantischer Naturkulisse und fast nur mit dem Oberkörper, mit den Händen ausgedrückt! Das hat in all seiner lyrischen Kraft auf einmal ganz viel mit unserern Musik/Text Arbeiten speziell in der Nachtfahrt zu tun. Das ist schön, stark, verwegen, zart – und emotional sehr ansprechend…

Leon auf YouTube: Tim Bendzko – Ich laufe

Welcher kreative Funke zündet die nächste Stufe? Gehts mehr in Richtung Ausdruckstanz oder etwa Schauspiel? „Ich hab da schon einiges an Material für ein komplexeres Video, jetzt fehlt mir nur noch die richtige Musik dazu.“ Was könnte das sein? „Etwas, dass mich ganz stark berührt.“ Ja, natürlich:

Leon auf YouTube: Vincent Lee – Momentum

Und als ob das nicht schon genug wäre für ein anregendes Gespräch über die Grenzen der Genres und Generationen hinweg, lernen wir Leon, den Profi des selbstverständlichen Crossmedia-Auftritts zu guter Letzt auch als einen Lernenden kennen, den die rastlose Suche nach der jeweils nächsten Vollkommenheit umtreibt. Von Perfektion zu Perfektion strebend ist dem schöpferischen Menschen das Erreichen des letzten Zieles nicht vergönnt. „Ein Künstler, der mit seiner Arbeit zufrieden ist, der ist entweder kein Künstler – oder schon längst tot.“ Von wem auch immer dieses launige Zitat stammt, es trifft einen wahren Kern. Wir bleiben bis zuletzt unterwegs. Und das ist auch gut so, das hält nämlich die Spannung am Leben…

Was dann dabei heraus kommt, wenn man den Fokus beibehält und entsprechende Resonanz erlebt – das könnt ihr jetzt und hier bestaunen:

Leon auf YouTube: Lucia – Silence

Wir gratulieren! 🙂

Das Kreative Vakuum 2.0

Podcast/Download: Artarium vom Sonntag, 12. August – Die Kunnst der kreativen Resteverwertung: Eigentlich wollten wir euch hier – wie an jedem Sonntag nach der Nachtfahrt – ein ganzes Album vorstellen. Doch irgendwie waren wir viel zu sehr in Produktion mit dem letzten Perlentaucher Projekt „Falsche Götter“ – und Emanueles grandiosem Gastauftritt dortselbst. Oder wir haben zur Zeit einfach kein gemeinsames Album, das wir für wesentlich erachten UND das in eine knappe Sendestunde passt? Denn sowohl „Navigating by the stars“ von Justin Sullivan als auch „Disintegration“ von The Cure sind einfach zu lang. Also – scheiß der Hund drauf!

Warum nicht zurück zu den spontankreativen Wurzeln der ersten Sendungsjahre und zur Inspiration unseres Godfather of Livestream-Zerhackstückung Peter.W. – und einfach mal eine Art „Restlessen“ aus jenen Beiträgen gestalten, die es nicht mehr in die Nachtfahrt Playlist geschafft haben, aber immer noch in unseren Gehirnen herum geistern? So sei es denn – eine Sendung ohne Thema, ohne Konzept, ohne Struktur und ohne zuvor festgelegte Dramaturgie – eine Überraschungssendung für uns selbst wie auch für euch. Wir nehmen einfach alle Tracks mit ins Studio, die am Freitag aus Zeit- und Platzmangel nicht mehr zu Gehör kommen konnten, Musik und Spoken Word durcheinander, auch unsere eigenen Texte, und entscheiden dann aus dem Stehgreif, was wir eigentlich doch noch ganz gern hören möchten.

Da fällt mir ein – aus dem genialen Spiegel-Artikel vom Matussek hab ich vorgestern ja auch nicht mehr vorgelesen. (Hier sein Videoblog über die Recherche dazu.) Wie dem auch immer werden wird – zum Schluss entsteht aus jeder inneren Leere des Kreativen immer auch eine neue Schöpfung mit Geist und Gestalt. Das ist nämlich das Wesen dieses „Kreativen Vakuums“ – seine innerliche Sogwirkung! Seien wir also gespannt – wir sind schließlich ein Kunnst-Biotop. Auch ein Komposthaufen ist eben ein geiles Institut…