Amelia (Laurie Anderson Album)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. September – Diesmal begegnen sich zwei starke Frauen in unserer Sendung: Die genresprengende Avantgarde-Klangwelten-Geschichtenerzählerin Laurie Anderson und die frühfeministische Weltumfliegerin Amelia Earhart. Anlass ist das soeben erschienene Album “Amelia”, mit dem Laurie Anderson der Vorreiterin einer umfassenden Emanzipation ihr Denkmal setzt. Und das in Form einer beeindruckend runden und ausgereift vielschichtigen Collage, die durch die Verbearbeitung von Originalaufnahmen und Zitaten aus Amelia Earharts Leben eine bemerkenswerte Klarheit und Intensität erzeugt. Und die zugleich eine emotionale Nähe zu der 1937 im Pazifik verschollenen Flugpionierin hervorruft, ganz als würde man jetzt gerade neben ihr im Cockpit sitzen und die Welt umrunden

Laurie Anderson - Amelia (Text)Über das rätselhafte Verschwinden der bekanntesten Pilotin ihrer Zeit kann seitdem nur spekuliert werden. Vielleicht ist sie doch nicht ins Meer gestürzt und ertrunken, vielleicht haben sie und ihr Navigator Fred Noonan auf einer einsamen Insel überlebt, wir wissen es nicht. Und naturgemäß sind Elvis-lebt-artige Verschwörungsphantasien nicht das, was uns interessiert. Sich in die Seinszustände von Menschen hinein versetzen dafür umso mehr. So hat etwa Heather Nova vor gut 20 Jahren in ihrem Lied “I Miss My Sky” die Gedanken und Gefühle von Amelia Earhart im Rückblick auf ihre Karriere und in Erwartung ihres Todes nachempfunden, ein großartiges Beispiel dafür, wie mit den Mitteln der Kunst das Leben Verstorbener ins Leben Lebender übertragen und über die Todesgrenze hinweg zum Fortwirken verwandelt werden kann. Und diese Kunst-Magie vollzieht auch Laurie Anderson mit ihrem Erzählkosmos, wobei sie eine feine Balance zwischen expressiven Textpassagen und subliminalen Klangbildern zu halten versteht. Oft ist es nicht zu unterscheiden, ob sie gerade singt oder erzählt.

“I am an artist, because I want to be free. I hate it when people tell me what to do.” So beschreibt Laurie Anderson ihre Grundhaltung, ihre Herangehensweise in diesem Advice To the Young Interview. Und auch Amelia Earhart wollte sich von nichts und niemand vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben gefälligst nach irgendwelchen Normen und Rollenklischees zu gestalten habe. Um aber von ihrer Kunst oder eben von ihrer Fliegerei leben zu können, sind auch diese starken Frauen darauf angewiesen, in der Welt da draußen “Geschäfte zu machen”. There’s no Business like Showbusiness.

Kunnst?

PS. Laurie Andersons Gedankenwelt rund ums Entstehen dieses Albums in einem ausführlichen “Interview ohne Interviewer” (ein ähnliches Setting wie es bei André Hellers Menschenkinder angewandt wird). Sehr sehenswert

 

Morgen ist schöner

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. August – Ich drehte den Fernseher auf und geriet, völlig unvorbereitet, mitten hinein in die Übertragung der heurigen Jedermann-Aufführung vom Salzburger Domplatz. Mitten hinein in eine Tischgesellschaft, die so goldlackiert zurechtgeschaufenstert synchrontanzt, dass ich erschöpft aufseufze: “Jetzt haben sie den Jedermann also auch zum Hupfkasperl im Larifariland gemacht mit ihrer amerikanoiden, überall auf der Welt gleichförmigen Bühnenshow.” Wennst wirklich Choreographie auf künstlerischem Weltniveau haben möchtest, dann schau dir “RHYTHM IS IT” an. Aber geh scheißen mit so einem billigen Tinnef, der eh schon flächendeckend alles und jeden verkonsumwichtelt. Mir tut ja der Philipp Hochmair leid. Morgen ist schöner? Seine innere Heimat” muss jetzt wirklich sehr stark sein.

Morgen ist schöner (Omar Khir Alanam)Als ein Gegenmittel zu dieser kleinkarierten Inszenierung soll er ja nach wie vor mit Kurt Razelli zusammen den Jedermann-Monolog “abviechern” (wir haben das Album damals vorgestellt). Und im Gespräch mit Omar Khir Alanam wird deutlich, wie der Schauspieler im Unterschied zum Autor und Performer die innere Heimat in der fremden Sprache von Theaterdichtern und Regisseuren abfedertdurch eine selbsterschaffene Welt, in der “das geniale Kind völlig unbehindert drauflos fuhrwerken kann”. Der Film “Jedermann auf Reisen” von Wolfgang Tonninger ist sicher auch die (Wieder)entdeckung des heurigen Sommers, die uns nicht nur über die ekligen Oberflächlichkeiten des Festspielbetriebs hinaus zum “Selbst weiter spüren und denken” verhilft, sondern uns zudem noch in die tiefenentspannte Philosophie des “Dialogischen Prinzips” eintauchen lässt und so die unendliche Unterwasserwelt des ständigen Neuerschaffens zugänglich macht. Chapeau, liebe Tiefseetaucher und Seelenreisende, wir sind angekommen – unterwegs. Oder auch umgekehrt. Im Zwischen – vielleicht, aber sicher. “Im Anfang war das Wort” oder wie Grand Corps Malade es ausdrückt: “Une lumière incandescente issue d’un souffle oratoire.”

“Morgen ist schöner”, so betitelt der Autor, Poetry Slammer, Kabarettist, Trainer und – überhaupt unsere Neuentdeckung des heurigen Sommers Omar Khir Alanam eine Textcollage, die er über die Jahre schon in den verschiedensten Situationen vorgetragen hat und die er fortlaufend weiterentwickelt. Diese Geschichte, in der er seine Flucht aus Syrien und auch sein Ankommen in Österreich verbearbeitet, wollen wir zum Schluss der heutigen Sendung anhören. Eine Geschichte, die uns dazu anregt, unser aller Unterwegssein immer auch als Hoffnung zu begreifen

Wie gesagt, morgen ist schöner.

PS. Den erwähnten Dokumentarfilm “Jedermann auf Reisen – Die Weltvermessung eines Heimatlosen” gibt es derzeit noch in der ORF-Mediathek sowie darüber hinaus jederzeit bei Vimeo On Demand anzusehen. Wir empfehlen dessen hintergründige Inspirationen wirklich aus vollstem Herzen!

 

I killed my mother

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. März – Es kommt sehr darauf an, wozu man “hässliche Bilder” verwendet. Indem man etwa über die Beschaffenheit von Gewalt berichtet, wie sie entsteht, gegen wen sie sich richtet und was sie letztendlich bewirkt. Der junge Regisseur Xavier Dolan ist ein Meister in der Darstellung des Abgründigen und führt uns vor Augen, wie sich weitgehend verheimlichter Missbrauch von Macht für seine Opfer anfühlt und auf ein ganzes Gemeinwesen auswirkt. In seinem ersten Spielfilm “I killed my mother” flößt er uns fast unmerklich ein Gefühl dafür ein, auf welch verzweifelt tragische Weise die unerkannte Schuld der Verursacherin mit dem alles Lebendige bedrohenden schlechten Gewissen des ihr Ausgelieferten kollidiert. Dabei hat sich die Mutter doch nur Enkelkinder von ihrem schwulen Sohn gewünscht.

I killed my MotherÜber die Bildwelten des queeren Kino-Wunderkinds mag man sich aus Geschmacksgründen streiten, zu den von ihm gewählten Themen passen sie allerdings stets wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wie das Video zu “College Boy” von Indochine eindrucksvoll zeigt. Dieser Kurzfilm/Clip wurde wegen seiner drastischen Gewaltdarstellung noch dazu in Verbindung mit “christlicher Symbolik” vehement kritisiert und ist daher im Zuge der Mundgerechtmachung des kommerziellen Internets (andere nennen es Zensur) kaum irgendwo im Original zu finden. Ähnlich ergeht es auch vielen Videos der französischen Anarchistenband Achab, deren “Un Monde formidable” wir uns und euch im heutigen Kontext nicht vorenthalten wollen. Thomas Bernhard, Edward Snowden, Julian Assange? – Als Nestbeschmutzer (und Schlimmeres) gilt, wer auf verborgene Verbrechen hinweist.

Womit wir wiederum beim eingangs erwähnten Film “I killed my mother” ankommen. Was auf der einen Seite als völlig normal gilt, als ganz und gar natürlicher Wunsch “jeder Mutter”, nämlich von ihren Kindern Enkelkinder “zu bekommen”, das erweist sich auf der anderen Seite als unerkannter emotionaler Missbrauch, der bei seinen Opfern Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Gesundsein und Lebenwollen hervorruft. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr also, die aufzudecken, zu benennen und einer sie weitgehend ignorierenden Gesellschaft ins Bewusstsein zu stellen, sicher kein Verbrechen ist – sondern ein unschätzbarer Verdienst am Gemeinwohl.

Noch dazu unter Zuhilfenahme von so wunderbarer Musik wie etwa dieser hier.

PS. Portrait von Xavier Dolan aus dem Jahr 2011, das auch die recht spezielle Entstehungsgeschichte seines ersten Films “I killed my mother” beleuchtet.

 

Letzte Generation Jedermann

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. August – Was soll das für eine Katharsis sein, die sich im Kampf zwischen Kasperl und Krokodil erschöpft, immer und immer wieder? Oder ist der Salzburger Jedermann jetzt endlich auch immersives Theater, in dem sich die Grenzen zwischen Stück und Publikum auflösen? Erstaunt hören wir vom Auftritt der “Letzten Generation” bei der heurigen Premiere – inmitten einer so gegenwartsbezogenen Inszenierung, dass die altgewohnten Unterschiede von “drinnen und draußen” nicht mehr funktionieren – in Verwirrung verschwommen. Was die einen als “Störaktion” bezeichnen, ist für die anderen “mutiger Protest” – und auch darin begegnet uns schon wieder der ausgelutschte Mythos vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böseoder eben zwischen Kasperl und Krokodil

Letzte Generation JedermannIn einem Gespräch mit Michel Friedmann (der inzwischen wieder “clean” sein soll, aber nach wie vor unergründlich grinst) entwickelt der renommierte Biologe Johannes Vogel (Was für ein Bart! Was für eine Krawatte!) diesbezüglich die These, “dass wir uns dauernd die falschen Mythen erzählen” – und setzt somit seine Hoffnung für das Überleben der Spezies Mensch auf “die kulturelle Evolution”. Ein famos weiterdenkstiftender Beitrag, den wir unserem unsichtbaren Publikum – speziell in Zeiten wie diesen – wärmstens ans Herz legen. Denn das Damoklesschwert des drohenden Untergangs hängt über uns allen, im Hintergrund unserer Bemühungen, dem Leben inmitten hochkomplex organisierter Naturzerstörung und unentrinnbar scheinender Sozialerosion Tag für Tag, Stunde um Stunde, in jedem Atemzug, in jedem Augenblick noch so etwas wie Bedeutsamkeit abzutrotzdem: “Gut leben in einer untergehenden Welt – ja dürfens denn das?”

Ausgerechnet aus Australien erreichen uns jetzt ebenso erfreuliche wie verstörende Nachrichten: Während der ganze Kontinent Naturkatastrophen bislang ungekannten Ausmaßes erleidet und weite Teile des Landes zunehmend unbewohnbar werden, hupft ein Klimaskeptiker als Premierminister in Begleitung eines Klumpens Kohle im Parlament herum und ergeht sich im Lobpreis des schwarzen Goldes. Wogegen die Band Midnight Oil (die wir letzten Sonntag gewürdigt haben) eine interessante Verknüpfung aufzeigt: Unser Umgang mit der Natur sowie mit der Urbevölkerung.

Was können wir dazu noch sagen? Am besten wohl: Wir sind die Jetzte Generation.

 

Fetzenhelgas Heckenklescher

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. Juli – Dass es einen nach reichlichem Gebrauch desselben “in die Hecken klescht” (mit Nachdruck ins Gebüsch befördert) – das ist einmal die vordergründige Bedeutungsebene, sofern man “Heckenklescher” ausschließlich als Beschreibung der Wirkweise von Weinsorten ansehen möchte. Hinter solch allgemein üblicher Oberfläche lauern allerdings weitere, dem flüchtigen Blick des Vorübergehens meist verborgene Schichten, die “in einem Theater, wie wir es hier haben wollen” auch enthüllt werden möchten. Dass einen etwas, was man als Aufführung erlebt (wovon man also mit all seinen Sinnen reichlich Gebrauch gemacht hat), dergestalt aufwühlt, berührt und erschüttert, dass es einen sinngemäß “in die umliegende Landschaft schmeißt” – das soll durchaus schon vorgekommen sein…

Fetzenhelgas HeckenklescherUnd woher manche Spielfiguren im großen Welttheater ihre “sprechenden Beinamen” haben – das verführt uns in einer geradezu mythenmetz’schen Abschweifung zu der Frage, inwieweit “Fetzentandler” nicht auch als mundartliche Bezeichnung für “Gastwirt” durchginge, zumal solche ja kostenpflichtig “Räusche unters Volk bringen”. Was im übrigen auch die Theaterleute” sowie deren einladend wirkende RepräsenTANTEN der kommerziellen Willkommenskultur machen, in Gestalt von Sinnesräuschen und anderen das Bewusstsein erweiternden Zuständen: “Herr Ober, noch ein Vierterl Katharsis bitte!”

 

Mitten im Stück öffnet sich eine Geheimtür und wir betreten feuertrunken das Reich der “angewandten Ambivalenz des Sowohl-als-auch”. Seit mich die langjährigste aller Festspielpräsidentinnen freundlich in den Arm nahm und mir den sprechenden Beinamen „Der Herr Pirat” umhängte (wobei sie mir den Piratenpulli zurecht zupfte), habe ich ein hochgradig ambivalentes Verhältnis zu ihr entwickelt, welches sich in vielen unserer Sendungen wiederspiegelt – so auch (noch einmal und mit Wumms) in dieser. Oder wie das schon Roxanne in Apocalypse Now (Redux) ausdrückte:

 

“In dir wohnen zwei Seelen, weißt du das? Eine, die tötet – und eine, die liebt.”

 

Einerseits vermissen wir das Zusammenspiel von Bodenständigkeit und Glamour, das die von vielen Schauspielern liebevoll “Fetzenhelga” genannte “Festspielmutti” überallhin verströmte, ihr unverwechselbares Auftreten, Konglomerat aus Kuhstall und Hochkultur, Salzburger Original, Diva und Dirndl, Beschützerin der Bohéme, Verfechterin der Kunstfreiheit … Oder doch nicht? Denn andererseits floh die “frühe ÖVP-Feministin” ausgerechnet aus einer Aufführung, die Gewalt gegen Frauen zum Thema hatte, mit dem Satz: “Das ist nicht das Theater, das wir hier haben wollen.”

 

Wie das Thomas Oberender in unserem Interview 2011 ausdrückte:“Es ist die Urerfahrung des Dramas: Wir sind sterblich – und Leben heißt schuldig werden.”

 

Das gilt für uns alle

Wir sind das eine

Und wir sind das andere

Wir sind beides zugleich

Und wir sind noch viel mehr

 

 

Rinteltitintel

> Sendung: Artarium vom Pfingstsonntag, 28. Mai – Dem kalendarischen Anlass entsprechend umkreisen wir das unglaublich Mögliche sprachlicher Verständigung. Und zugleich auch das glaublich Unmögliche in den verschwitzten Versuchen der Zwischenmenschen, einander redend zu verstehen. Allerorts findet babylonische Sprachverwirrung statt und Chatbots spielen mit sich selbst Stille Post: “Was der eine sagt und der andere versteht, muss für den dritten nicht unbedingt richtig sein. Denn was dieser draus macht und dem zweiten erzählt, hat der erste nie gemeint.” Schon der Fuchs sagt ja zum kleinen Prinzen: “Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse.” Wäre es also nicht gerade jetzt höchste Zeit, durch die uns von einander trennende Membran des Unwirklichen hindurch zu ….. “Rinteltitintel”

RinteltitintelEs ist nämlich genauso zutreffend, dass Verständigung ohne Sprache (jedenfalls zwischen uns Menschen) nicht hinreichend möglich ist. Und das befördert uns geradewegs zur Kraft der Verwandlung, die dem gesprochenen Wort innewohnt. Wie weltbewegend kann “nur ein Wort” sein, wenn wir dadurch von unserer Angst befreit werden, ein vernichtendes Urteil könnte über uns verhängt sein. Ein gnadenlos fortbestehendes Nichtgenügen, ein ausweglos unentrinnbares “Nein” zu all unseren Versuchen, für unsere Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle endlich Anerkennung zu erfahren, Annahme, Bestätigung, Verständnis: Der Freispruch des Lebens in Gestalt eines anderen Menschen – der in menschlicher Sprache zu uns spricht. Zum Beispiel: “Es tut mir leid.” Oder: “Du bist mir wichtig.” Und womöglich sogar: “Es ist gut, dass es dich gibt. Und zwar genau so, wie du bist.” Derlei Reden als eine Antwort ins Dasein des Gegenübers kann selbst Tote zum Leben erwecken.

“Es tut mir leid, dass ich dein Bild von mir zerstört habe. Aber irgendwann war es mir einfach nicht mehr möglich, ihm noch weiter zu entsprechen. Wobei ich durchaus eine erhebliche Veranlagung dazu in mir trage, die ist geradezu gefickt eingeschädelt. Ich versuche mich dadurch den unausgesprochenen Wunschvorstellungen der Menschen anzugleichen, die mir viel bedeuten, deren Liebe und Anerkennung ich nicht verlieren will. Doch ich begreife, dass es nicht gut für mich ist, wenn ich mich zwischen mir selbst und dem, was ich gern für jemand anderen sein möchte, zerreiße. Bitte, verzeih mir …”

Er stand auf, fühlte die Traurigkeitund machte sich trotz alledem auf den Weg.

Die Worte Pfingstwunder und Literatur müsste man hier gar nicht mehr herschreiben – man kann es aber.

Der Geist weht, wo er will.

 

 

Wenn Worte reden könnten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. Februar“Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass ein Bühnenprogramm von mir auch immer energetisch zu sein hat. Es muss Druck aufgebaut werden. Dann bleiben die Leute wach, wenn man Glück hat, wobei ich hier ein bißchen Pech habe, glaub ich, in der ersten Reihe, aber das ist mir ganz wichtig, es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Fernsehen ankucken find ich…” So sprach Jochen Malmsheimer bei unserer ersten Begegnung nach einem seiner furiosen Auftritte in der ARGEkultur. Und seitdem ist er in unseren Sendungen immer wieder als Beitragstäter aus der Welt des entfesselten Worts gut zu hören gewesen – und das wird er auch heute wieder: “Wenn Worte reden könnten oder Vierzehn Tage im Leben einer Stunde” macht Literatur zum Bühnenerlebnis.

Wenn Worte reden könntenDass er diesmal auch prominent in der Nachtfahrt vorkommt, das hat mit der inneren Auswirkung seiner Wortfluten zu tun. Die reißen einen nämlich geradezu mit hinein in einen Strudel aus Szenen, Stimmen und Stimmungen, dazu noch in derart mehrfacher Gleichzeitigkeit, dass es einem beim bloßen Zuhören die Glückshormone durch sämtliche Synapsen spült. Jochens präzise formulierte Beobachtungen aus dem seltsamen, bizarren und absurden Verhaltenszoo der an- und verwesenden Menschenleute sind für sich allein schon köstliche Kunst, entfalten jedoch durch die Übersteigerung ins Phantastische noch eine weitere Wirksamkeitsebene, mit der wir unvermittelt in die unendliche Bilderwelt unserer Vorstellungskraft eintreten. Vor allem aber müssen wir immer und immer wieder lachen, zumal wir die meisten der hier dargestellten Schrägheiten aus dem Menschentum schon selbst beobachtet und dabei innerlich kommentiert haben, nur eben nicht so verdichtet ausformuliert.

Der Witz ist das Zusammentreffen einer möglichen mit einer unmöglichen Ebene. Es von der Bühne herab (oder aus dem Ohrenkopf) präsentiert zu bekommen, dass wir den unsäglichen und oft unerträglichen Irrwitzigkeiten des uns umplempernden Weltgedümmels durchaus auch wortgewaltsam entgegentreten können, das lässt uns, jedenfalls in der Phantasie, Selbstwirksamkeit erfahren. Erinnern wir uns dabei an das Mediopassiv (Hartmut Rosa), so stellen wir fest, dass wir weder allmächtig noch ohnmächtig sind, sondern sowohl aktiv als auch passiv am Dasein beteiligt.

Wir sind grundsätzlich der Ansicht, dass Jochen Malmsheimer erlebt gehört. Es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Radio anhören. Daher rufen wir: Treten sie zu – im Hörtheater unseres Vertrauens! Wenn Worte reden könnten, dann könnten Zahlen rechnen? Worte können unsere Welt verwandeln, wenn man sie lässt.

Radio Artarium feat. Gunkl & Malmsheimer

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

Flasch

 

Die Heartgun Premiere

> Sendung: Artarium, vom 18. SeptemberEmotionale Intensität. Dieser Begriff taucht immer wieder auf, wenn man mit den zwei Menschen hinter der Musik – und hinter den Texten, den Videos, der Performance von Heartgun über ihre Arbeiten spricht, die jetzt am Sonntag, 25. September um 19:30 erstmals im Off-Theater der breiten (und offentlich bereiten) Öffentlichkeit präsentiert werden können. Denn “die Essenz aus einigen Jahren Prozess”, wie sie ihr inzwischen vielfach umgestaltetes Programm selbst beschreiben, ist als einstweiliges Ergebnis intensiver Einlassungen auf innere und äußere Herausforderungen zu verstehen – und demensprechend dicht zu erleben. Bernie Rothauer und Alexandra Niedermoser führen uns vor, wie jede Krücke zum Zepter werden kann – im Zauberland des unverwüstlichen Trotzdem.

HeartgunDie auch coronabedingt lange Vorbereitungszeit auf die doch endlich stattfindende Premiere konnte zum Ausgestalten immer neuer Details verwendet werden, und so entstand ein komplexes Programm aus Musik, Videos, Texten, Klangbearbeitung und Lichteffekten, was an sich schon eindrucksvoll und intensiv wäre, bei Heartgun aber zunächst “nur das Setting” oder eben “das Bühnenbild für die eigentliche Handlung” darstellt. Die findet nämlich zeitgleich in den Akteuren selbst, in den Köpfen des Publikums und somit in der Resonanz zwischen allen an diesem Abend Beteiligten statt. Wie kann das geschehen? Nun, indem diese “Show” sich nicht bloß im Vorzeigen des Erarbeiteten erschöpft, sondern über den Begriff der Darbietung weit hinaus geht – ich möchte es als ein tiefgehendes und umfassendes “Darleben” bezeichnen, bei dem die Unmittelbarkeit des Erlebens auf unterschiedlichste Weise spürbar wird.

Das erklärt auch die weiße Maske, mit der Sängerin Xandra auftritt. Sie dient ihr zur Abgrenzung von den jeweiligen Rollen, in die sie sich auf der Bühne radikal einlebt – und unserem Vorstellungsvermögen als emotionalphantastische Projektionsfläche. Es geht bei Heartgun insgesamt um das Streben nach der Essenzeines Liedes, eines Themas, einer Stimmung – und darum, dieses Destillat dem Publikum so frei zu vermitteln, dass es berührt, bewegt, erschüttert – und im besten Fall zu eigenen Weiterentwicklungen anstiftet. Eine Kunstverkostung der etwas intensiveren Art.

Wir wollen euch darauf Appetit machen, indem wir einige Elemente/Beiträge dieser kommenden Aufführung vorab im Radio vorstellen, so die Coverversion des zeitlosen Cranberries-Hits “Zombie” oder die für das Selbstverständnis von Heartgun wichtige Eigenkomposition “Not Enough”. Des weiteren gibt es eine Livelesung von Texten aus dem aktuellen Programm sowie die Aufnahme von “Move On” aus der Probe mit Publikum im Nadea-Studio. Und naturgemäß unterhalten wir uns auch – etwa über Hintergründe und Herangehensweisen – auf dass ihr einen Vorgeschmack spürt

“Das Geheimnis liegt im Gleichgewicht aus Verborgenem und Dargestelltem.“ Peter Gabriel

 

Gibts da was von Radiopharm?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. Juli – Die Festspiele sind beöffnet. Prost! Und Ilija Trojanow hat eine dermaßen dichte Rede dazu gehalten, die sich mit dem wiederkehrenden Motiv “Die Sieben, die Drei – und das Ass” in höchste Höhen der Sprach- und Vortragskunst aufschwingt. Noch nicht einmal Jean Ziegler hätte den versammelten Repräsentanzen der Geldherrschaft ihre zutiefst ausbeuterischen, gewaltvollen und lebensfeindlichen Verstricktungen mit dem globalen Mammon so unhaltbar ins Gesicht schlenzen können. Liebe An- und Verwesende, wer ist da letzten Endes eigentlich überflüssig? Trotzdem steht zu befürchten, das auch diese verdichtete Wahrheit als schicker Jedermanngrusel im schalen Salzburgsumpf untergeht. Wir von Radiopharm halten dagegen:  Gut zu hören. Gute Besserung!

Radiopharm IdiotikumEin Mittel gegen die strunzerne Dummheit haben wir zwar auch noch nicht gefunden – immerhin aber ein Sackerl voll Ideen, wie “das Theater, das wir hier nicht haben wollen” (so die flüchtende Präsidentin) der vorauseilenden Prostitution des krachledernen Gast- und Gunstgewerbes doch noch entrissen werden kann. War da nicht mal was mit Immersion? Was macht denn eigentlich der Thomas Oberender heute? Der hat inzwischen den Dramatiker und Mitbegründer des Belarus Free Theater Nikolai Khalezin bei den Berliner Festspielen in offener Interaktion mit dem Publikum präsentiert. Was der später im Gespräch mit seinem langjährigen Minsker Kulturkampfgenossen Sjarhei Mikhalok (der aus Belarus in die Ukraine emigriert ist) allein rund um den Begriff “Grenzen” ins Bewusstsein bringt, das stellen wir (nebst deutscher Übersetzung) in der Sendung vor: Ein Beitrag des Ministry of Counterculture. So etwas wäre auch eine würdige Idee für Salzburg

Gleichfalls unterhaltsam (und gedanklich überaus gewinnbringend) fänden wir eine Einladung des slowenischen Philosophen und Laibach-Spezialisten Slavoj Žižek, womöglich als verschärfter Festredner, auf jeden Fall in einer für alle Interessierten offenen Diskussion, eventuell als immersives Symposion zum Thema “Arbeit macht frei” unter Mitwirkung von Laibach, die sich seit “Kunst der Fuge” als Brückenbauer zwischen den Sphären von Hoch- und Popkultur empfehlen. Allen Teilnehmenden wird auf Wunsch ein NSK-Pass ausgestellt. Was? Die Revolution findet längst statt …

Hiermit wende ich mich direkt an die Herrschaft: Es sind verdammt nochmal nicht eure Festspiele. Es sind unsere. Es ist auch nicht eure Stadt. Es ist unsere. Nicht wer bezahlt, schafft an. Wer bezahlt, wäscht Blutgeld. Seit Generationen denken wir über eine gerechtere Verteilung des Vermögens nach. Und plötzlich begreifen wir, dass wir mehr als eine neue Besitzregelung brauchen, vielmehr eine Art Besuchsregelung für alle Menschen, die auf diesem endlichen Planeten leben. Haben, als hätten wir nicht. Die ganze Welt ist Bühne. Für jedes, jedeund jeden. Das gilt auch für diese Stadt.

Und jetzt schleichts eich!