Opium für das Volk

Es ist Krieg in der Ukraine und wir wollen die Menschen jenseits von Kriegsrhetorik und Propaganda wahrnehmen. Denn was uns auf fast allen Kanälen täglich erreicht, das enthält Szenen, die unser sittliches Empfinden verletzen. Mindestens. Deshalb haben wir uns von Anfang dieses Irrsinns an auf den Weg gemacht (innerlich, denn äußerlich ist es uns schlicht nicht möglich), den Menschen zu begegnen, die nicht der jeweiligen Staatsmacht blindwütig hinterher applaudieren. Satiriker, Künstler aus dem Untergrund, Dissidenten. “Wenn du wirklich etwas über die Menschen in einem Land erfahren willst, das du nicht kennst, dann frag die Leidenden und die Verfolgten.” Oder versuch, das Widerständige und das Nichtangepasste im Leben jener zu entdecken, die sich durch verordnetes “Opium für alle” nicht vom Lebendigsein abhalten lassen.

Opium für das Volk“Die Ukraine,” erklärt ein gewisser Herr Putin, “war immer schon ein Teil Russlands.” Und er meint auch: “Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.” Echt jetzt? Dafür haben wir damals Löcher in den “eisernen Vorhang” gemacht, dass jetzt mit einem “neuen kalten Krieg” wieder die alten Geschäfte betrieben werden können? Dafür haben wir von der Stasi verfolgte Jugendliche, die einfach nur frei denken und reden wollten, unter Lebensgefahr bei ihrer Flucht unterstützt, dass jetzt irgend so ein abgehalfterter Geheimagent aus dem Misthaufen der Geschichte hervor quillt und in die Ukraine einmarschiert – so wie einst Lenin mit seinen roten Garden? Hab ich was nicht mitgekriegt – oder stehen auf einmal die Grenzverschiebungen des Ersten Weltkriegs wieder zur Disposition? Na, dann auf nach Duino und Triest, die Adria war eh schon immer die Krim Österreichs. Oida! Lernens Geschichte, Herr Putin. Wir tun das ja schließlich auch hier …

Apropos Lenin, dessen Rückkehr nach Russland (aus der Schweiz) während des Ersten Weltkriegs war vom Deutschen Kaiserreich betrieben worden und führte nach der Oktoberrevolution genannten Machtergreifung der Bolschewiki zum “Frieden von Brest-Litowsk”, in welchem das inzwischen sowjetisch gewordene Russland auch die Eigenstaatlichkeit der Ukraine anerkannte. Dort war die anarchistisch geprägte “Machnowschtschina” mit der Selbstverwaltung der befreiten Gebiete beschäftigt, die allerdings schon bald von der Roten Armee unter Trotzki vollends zerstört wurden.

Ein Zentrum der Bewegung um Nestor Machno war die Stadt Mariupol. Hab ich grad ein völlig aus der Zeit gefallenes Déjà-vu? Ein bizarr psychotisches Flashback aus einer Zeit vor meiner Zeit? Herr Putin ist entweder ein Hasskasper oder er leidet an einer neuen Form der schleichenden Schizophrenie. Holt Hilfe! Wo steckt eigentlich diese Gretel, wenn man sie schon einmal so dringend braucht? KGB bleibt KGB und das Volksvermögen mit Hilfe von alten (und neuen) Seilschaften an sich bringen ist ein uralter Taschenspielertrick aller Kommunisten, Kapitalisten und Orthodoxen.

Und die Kunst? Unsere Sendungen? Die sprichwörtlich gewordenen Perlen, nach denen wir alldieweil tauchen? Nun, der Historiker Rainer Mausfeld verrät etwa, wie “Demokratie” von den Herrschenden immer nur in dem Ausmaß “gewährt” wird, in dem die Kosten der Repression nicht mehr bezahlbar sind. So ist die Frage “Was kostet das Opium für das Volk?” an jeden Betreiber von “Putimkinschen Dörfern” (oder anderen Fassaden) zu richten. Und der Name des Geschichtslehrers, den der jetzige ukrainische Präsident in “Diener des Volkes” verkörpert, ist ein vielsagender:

Wassyl Holoborodko ist tatsächlich ein ukrainischer Dichter, der zu Sowjetzeiten verboten war, weil er sich weigerte, mit dem KGB “zusammen zu arbeiten” – also seine Kolleg*innen zu bespitzeln und zu verraten. Dieser Code funktioniert nicht nur in der Ukraine – er würde auch in Russland funktionieren. Genau davor fürchtet sich dieser … Wer Gedichte verbietet, ist uns zutiefst zuwider! Zumindest aber ist er ein Soziopath und, um es mit Gunkl auszudrücken: “Den dürfts ned einsperren, den müssts wegsperren! Weil den darf man nimmer unter die Leut lassen …”

Dann ist noch Hoffnung.

 

Reise Freiheit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. März – Von Thomas Bernhard ist uns ja überliefert, dass er sich “auf Reisen” auschließlich “unterwegs seiend” wohl gefühlt hat – und nie als “noch nicht Abgereister” oder als “bereits Angekommener”. Das steht irgendwo in “Wittgensteins Neffe”, naturgemäß im Zusammenhang mit dem für ihn so wichtigen “Autofahren”. Wir sollten auch mal wieder eine Reise tun. Denn, um hier gleich mal eine gescheite Weisheit dazu zu scheißen, “unterwegs begegnet man sich selbst”. Wie kann man in Zeiten wie diesen ans Reisen denken? Krieg, Klima, Krise, Kreisch, Pandemie!Eben. Gerade deshalb. Nie war es so wertvoll wie heute. Wer sich nicht einlässt auf sich selbst, hat schon verloren. Eine Reise ist nie nur eine Fortbewegung von A nach BEine Reise verändert unsere Wahrnehmung der Welt.

Reise FreiheitOb wir einen Spaziergang machen, einen Ausflug, eine Wanderung, eine Expedition in für uns fremde Gegenden und Kulturen, ob wir in den nächstbesten Wald gehen, in ein anderes Land reisen oder uns wie auch immer bis an die Grenzen selbsterfahrenstets entdecken wir etwas Neuesdas allerdings genauso immer schon da gewesen ist – wie wir selbst. Nur, dass wir es bislang noch nicht bemerkt haben. Eine Blume am Wegrand, der Geruch von Schweiß, die Silhouette der fernen Berge, Stille, Muskelkater, ein Dorf, Viehstall, Vogelgesang, Menschenmusik, der Duft von Gebratenem, Himbeeren, Moos, das Glitzern eines Wassertropfens, modriges Laub, Gemäuer, eine Eidechse, die staubige Straße, Abendwärme, herzliche Begrüßung, Kinderlachen. Alles löst sich auf in Erschöpfung und Schmerz. Erscheint irgendwie, klebt kurz und verweht. Alles fließt in ein Festes, Plätschern fängt sich auf, Melodie wird. Ich bin angekommen. Ich bin aufgebrochen. Ich bin abgelenkt. Ich unterwegs.

Ich und das Kind, das ich bin. In einer Welt, in der sich immer dasselbe wiederholt. Sempre quella. Sempre guerra. Was für ein Wahnsinn, diese Wirklichkeit, die eine Normalität sein soll (was auch immer das sein soll). Ich will lustig sein und lebensfroh lachen, zumindest mit Wilfried im Salzkammergut. Ich will durch meine Phantasien reisen – wie in einem mallorquinischen Langgedicht namens “palmen unter”. Ich will, dass sich Phantasie und Wirklichkeit wieder miteinander vertragen. Und ich will keine Angst haben! Wie bei Giacomo Sferlazzo am Strand von Lampedusa

 

Diener des Volkes

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. MärzEs ist Medienkrieg. Seit dem 24. 2. wird jetzt reizüberflutet. Auf allen Kanälen. Und das meiste davon ist nur schwer zu ertragen, so viel reißerisches Aktualitätsgehechel, überforderndes Dahergeplapper, pseudoauthentisches Social-Media-Gefuchtel und penetrantes Meinungsgequengel, dass einem sogar das Leben im Hals stecken bleiben will. Was also noch anschauen zum Thema “Ukraine”, ohne dass einem gleich der Hasskasper ins Gemüt scheißt? Wir empfehlen dazu zwei weiterführende Filmwerke, die uns ein bisschen mehr über die Gefühlslage in jenem “tapferen Land” erzählen, von dem zur Zeit überall so viel zu hören ist. Speziell die Serie “Diener des Volkes”, durch deren Wucht Wolodymyr Selenskyj ins Präsidentenamt geweht wurde (und die Wladimir Putin bestimmt hasst).

Diener des VolkesKurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sah ich die ersten paar Folgen dieser ganz hervorragend gemachten Serie, die mit Witz und Verstand sowohl intellektuell als auch volkstümlich funktioniert. Und ich dachte bei mir: “Kein Wunder, dass Putin da jetzt einmarschiert und alles zerstört! Wenn so etwas wie diese Satire mitsamt der daraus entstehenden Politkampagne je in Russland um sich greifen sollte, dann weiß er, dass er endgültig einpacken und zusperren kann.” Selenskyj, der seine Karriere als Komiker (und seine Popularität als Fernsehstar) ja von Moskau aus entwickelt hat, ist wiewohl Hauptdarsteller zuallererst jedoch Autor und Erfinder der Geschichte rund um den Geschichtslehrer Holoborodko. Und als solcher versteht er es meisterlich, Sympathie mit dem “kleinen Helden” auszulösen. Da hat einer seinen Charlie Chaplin aber gut verstanden! Oder, wie ein Wähler einst sagte: “Wenn jemand gute Witze macht, ist diese Person ein kluger Mensch.”

Unsere zweite Filmempfehlung, die vielfach ausgezeichnete Kurzdokumentation “Winter in Lviv” aus dem Jahr 2017, beleuchtet das schwere Leben ganz anderer Diener (hier tatsächlich Dienerinnen) des Volkes, nämlich der “Engel am Boden”. Das eindrücklich ruhige Portrait der Rotkreuzschwestern vom Medico-Sozialen Zentrum in Lviv sowie einiger ihrer Klientinnen bietet uns einen gut fühlbaren Eindruck von deren täglichem Kampf. Der Einrichtung, die für die Überlebenden von Nazi-KZs wie von Sowjet-Gulags da ist, gehen Geld und Medikamente aus…

Thematische Klammer des beeindruckenden Films ist ein ukrainisches Sprichwort:

       “Nicht die alten Leute frage um Rat, sondern die, die gelitten haben.”

 

Lyapis Trubetskoy

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. MärzHierzulande weiß man wenig über die Lebenswelt und Kultur jenseits des kyrillischen Vorhangs. Eigentlich nur das, was uns die jeweiligen Welterklärer in den staats- und marktnahen Medien beibringen. Oder das, was sich aufgrund hoher Reichweite in sozialen Netzwerken durchsetzt. Dabei gibt es in den postsowjetischen Ländern, von denen derzeit dauernd die Rede ist, durchaus kritische Kunstschaffende, die uns vermitteln können, wie sich das Leben dort seit 30 Jahren anfühlt. Die Innenwelt wohlgemerkt, die Phantasien und Gefühle jenseits von Staatsmacht und Kommerz. Die belarussische Band Lyapis Trubetskoy zum Beispiel, die 2014 am Maidan in Kiew aufspielte, und der russische Videokünstler Alexey Terehoff, der einige ihrer besten Musikvideos produziert hat.

Lyapis Trubetskoy AgitpopSchon die Schreibweisen Ляпіс Трубяцкі (belarussisch) und Ляпис Трубецкой (russisch) bereiten uns gewisse Suchmaschinenprobleme. Hinter der digitalen Hemmschwelle jedoch tut sich ein bilderflutender Kosmos auf, der uns unmittelbar ins Fühlen und Verstehen jener ach so geheimnisvollen Gesellschaften hinein zieht, die dort hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang ihr ganz eigenes Wesen entwickeln … Immer aus der Sicht jener nicht im herrschaftlichen Mainstream des verordneten Funktionierens leben wollenden “Abweichler und Widerständler” bieten sie tiefe Einblicke in die feuchten Träume der Machthaberer und auch in die Albträume der Ausgepressten. Wie so ein Post-KGB-Kapitalismus funktioniert, haben sie in ihrem legendären “Kapital” gezeigt (das daher auch in Russland verboten wurde). Verschwitzte Allmachtsphantasien aller Arten werden in “Bolt” atemlosmachend vorgeführt. Gewaltsexuelle Räusche und Verlustängste, die uns schon beim “Aufmarsch der Zipfelmänner” inspirierten.

Was uns die Dichter damit sagen wollen, das entzieht sich (eben weil es Poesie ist) der “offiziellen” Interpretation – das können (und sollen) wir selbst entdecken. Was ist die Botschaft von Броненосец und seiner Verschmelzung von Sergej Eisenstein mit politischer Stencil-Art? Ты ни при чём? Sind wir gefühllos gepanzert gegen das Leiden der Welt? Oder Воины Света, das als “Warriors of Light” zur Hymne des ukrainischen Maidanaufstands verklärt wurde, wie ist der Text zu verstehen?

Verstehe, wer will – hier ein paar mögliche Übersetzungen – wer Ohren hat, zu sehen, der spüre! Was für Drogen nehmen diese Leute? Oder, wie Ostap Bender das in “Zwölf Stühle” weiter gedacht hat: “Was kostet das Opium für das Volk?”

Путинарода (Putinaroda)

Und hier noch das (in unserer Signation verwendete) 12 обезьян von Sänger Sergej Michaloks aktueller Band BRUTTO. Wir finden, SO kann sich der Frieden anfühlen