Ich bien ein lernfähiger Fersager

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. September – Als der Schriftsteller Michael Köhlmeier vor vielen Jahren die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen hielt, “outete” er sich dabei auch als Legastheniker. Seine Bücher habe er überhaupt nur auf dem Umweg über das gesprochene Wort zustande gebracht, nämlich indem er den jeweiligen Text in ein Aufnahmegerät sprach, von dem seine Gefährtin Monika Helfer ihn dann wiederum in Schrift transkribierte. “So hat er sich also die ausgefeilte Erzählweise (und Stimme) erarbeitet, mit der er berühmt geworden ist.”, dachte ich mir damals spontan. Ein der Not geschuldeter “Workaround”, der die Talente hinter seiner als “Behinderung” aufgefassten Eigenart erst recht zur Geltung bringen sollte. Überhaupt fühlt sich das Wort “Fersager” viel schöner an als mit V geschrieben.

Ich bien ein lernfähiger FersagerWomit wir schon bei einem Grundproblem des gesamten Formenkreises der sogenannten Neurodiversität angelangt wären: Es wird davon ausgegangen, dass eine bestimmte Art und Weise (nämlich die “bei uns” allgemein übliche) des Lernens “normal” sei und alles davon abweichende eine reparaturbedürftige Fehlleistung. Das allerdings ist nach heutigem Kenntnisstand nicht nur ein fester Blödsinn, sondern auch noch für die gesamte Gesellschaft schädlich, also schlicht schlecht. Warum das so ist? Es gibt generell so viele unterschiedliche Gehirnarten wie es Menschen gibt (man spricht von individuell ausgeprägten Funktionsweisen des Gehirns, die genauso einzigartig und unverwechselbar sind wie Fingerabdrücke). Wenn wir also (als Schule, als Eltern, als Geschwister – und überhaupt als Mitkinder) all die irgendwie andersartig denkenden Menschen, mit denen wir es zu tun haben, als selbstschuldige Fehlfunktionen ansehen und sie auch so behandeln, dann …

… sind wir Versager, weil wir ihnen das Menschenrecht auf Entwicklung ihrer ganz eigenen Lösungswege versagen. Und uns selbst die Möglichkeit, über die bisherigen Sichtweisen hinaus zu sehen, vorenthalten. Für mich fühlt sich das Wort “Fersager”  völlig anders an als “Versager”, aber ich kann zur Zeit noch nicht begründen oder genau erklären, warum. “Regeln sind nicht im Kopf, sie sind lediglich brauchbar, um bestimmte Leistungen im Nachhinein zu beschreiben.” Der Salzburger Lernforscher Herbert Fartacek bringt uns mit diesem Satz von Manfred Spitzer auf eine Fährte

Ich bien ein lernfähiger Fersager

 

Fontaines D.C. – Romance

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. SeptemberHoppala, da taucht auf einmal eine Band auf, die sehr eigenwillig und selbstbestimmt Musik macht und dann auch noch (wer hätte das erwartet) recht erfolgreich durchstartet. Erst unlängst wurden sie im Kulturmagazin ttt als “Poetic Punks” aus Irland vorgestellt und dabei irgendwie als der neue heiße Scheiß des kompromisslosen Post-Punk-Genre überwindenden, ja geradezu zersprengenden Kunstschaffens dargestellt. Derlei macht uns naturgemäß neugierig und hoppala, was die Jungs von Fontaines D.C. da über ihre Einstellung zum Musikmachen so alles absondern und was man sonst noch darüber hinaus von ihrer Geschichte als Poeten, Musiker und vor allem als fünf Freunde herauszufinden vermag, das ist Grund genug, das Album Romance von Fontaines D.C. zu spielen.

Fontaines D.C. - RomanceWas wir erfahren haben und was wir also mit euch teilen möchten, lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Wie schön ist es, wenn sich etwas derart organisch lebendig wachsend entwickeln darf wie diese Band! Da beschließen fünf junge Typen (die sich nie zuvor getroffen haben), auf ein renommiertes Musik und Kunst-College zu gehen (nennt sich BIMM und ist diesfalls in Dublin). Sie lernen sich kennen und bemerken, dass sie etwas verbindet, nämlich die Liebe zur Poesieund schon bald lesen sie sich gegenseitig ihre Gedichte vor, auch in den Pubs der Umgebung. So werden sie Freunde und im weiteren Verlauf bringen sie gemeinsam einige Lyrikbände heraus. Danach beschließen sie, eine Band zu gründen, die schnell überregionales Interesse weckt und die, wie wir heute wissen, sehr erfolgreich gewesen sein wird oder so. Für uns ist dabei der Schaffensprozess interessant: Aus was für inneren Haltungen und durch welche Wechselwirkungen in der Gruppe (die ein Freundeskreis ist) entsteht die besondere Qualität ihrer Musik, die ja offenbar mehr verkörpert als zur reinen Publikumsbelustigung notwendig wäre?

“Ich glaube, man muss ganz frei und unbeeinflusst von der Außenwahrnehmung sein. Ich glaube, in dem Moment, in dem man anfängt, seine Worte so auszuschmücken, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden, ist man erledigt.” Soweit Gitarrist Carlos O’Connel. Und Sänger Grian Chatten gemeinsam mit ihm:
“Ein großes Ziel von mir ist, dass wir am Ende immer noch gute Freunde sind. – Für mich das einzige Ziel! – Ja, für mich wäre es mehr wert, wenn wir als Band nur halb so erfolgreich wären, dafür aber doppelt so enge Freunde.”

Suchen wir nicht auch oft nach einem besseren Leben in einer kaputten Welt?

 

Amelia (Laurie Anderson Album)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. September – Diesmal begegnen sich zwei starke Frauen in unserer Sendung: Die genresprengende Avantgarde-Klangwelten-Geschichtenerzählerin Laurie Anderson und die frühfeministische Weltumfliegerin Amelia Earhart. Anlass ist das soeben erschienene Album “Amelia”, mit dem Laurie Anderson der Vorreiterin einer umfassenden Emanzipation ihr Denkmal setzt. Und das in Form einer beeindruckend runden und ausgereift vielschichtigen Collage, die durch die Verbearbeitung von Originalaufnahmen und Zitaten aus Amelia Earharts Leben eine bemerkenswerte Klarheit und Intensität erzeugt. Und die zugleich eine emotionale Nähe zu der 1937 im Pazifik verschollenen Flugpionierin hervorruft, ganz als würde man jetzt gerade neben ihr im Cockpit sitzen und die Welt umrunden

Laurie Anderson - Amelia (Text)Über das rätselhafte Verschwinden der bekanntesten Pilotin ihrer Zeit kann seitdem nur spekuliert werden. Vielleicht ist sie doch nicht ins Meer gestürzt und ertrunken, vielleicht haben sie und ihr Navigator Fred Noonan auf einer einsamen Insel überlebt, wir wissen es nicht. Und naturgemäß sind Elvis-lebt-artige Verschwörungsphantasien nicht das, was uns interessiert. Sich in die Seinszustände von Menschen hinein versetzen dafür umso mehr. So hat etwa Heather Nova vor gut 20 Jahren in ihrem Lied “I Miss My Sky” die Gedanken und Gefühle von Amelia Earhart im Rückblick auf ihre Karriere und in Erwartung ihres Todes nachempfunden, ein großartiges Beispiel dafür, wie mit den Mitteln der Kunst das Leben Verstorbener ins Leben Lebender übertragen und über die Todesgrenze hinweg zum Fortwirken verwandelt werden kann. Und diese Kunst-Magie vollzieht auch Laurie Anderson mit ihrem Erzählkosmos, wobei sie eine feine Balance zwischen expressiven Textpassagen und subliminalen Klangbildern zu halten versteht. Oft ist es nicht zu unterscheiden, ob sie gerade singt oder erzählt.

“I am an artist, because I want to be free. I hate it when people tell me what to do.” So beschreibt Laurie Anderson ihre Grundhaltung, ihre Herangehensweise in diesem Advice To the Young Interview. Und auch Amelia Earhart wollte sich von nichts und niemand vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben gefälligst nach irgendwelchen Normen und Rollenklischees zu gestalten habe. Um aber von ihrer Kunst oder eben von ihrer Fliegerei leben zu können, sind auch diese starken Frauen darauf angewiesen, in der Welt da draußen “Geschäfte zu machen”. There’s no Business like Showbusiness.

Kunnst?

PS. Laurie Andersons Gedankenwelt rund ums Entstehen dieses Albums in einem ausführlichen “Interview ohne Interviewer” (ein ähnliches Setting wie es bei André Hellers Menschenkinder angewandt wird). Sehr sehenswert

 

Erwachsendenbildung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. September“Und solang ich irgendwie atmen und reden und fühlen kann, und mich bewegen kann, will ich diese Magie betreiben und mich dieser Magie zur Verfügung stellen.” Doch von was für einer Verwandlung, ja geradezu Anverwandlung spricht der Mensch hinter der Maske hier eigentlich? Wenn er den Jedermann als Zauberbuch bezeichnet, dann sicher nicht in der Vorstellung, dass Wasser sich in Wein verwandelt, wenn man es dort hinein hält. “Ich werde das Gedicht.”, sagt Philipp Hochmair an anderer Stelle, und damit kommen wir dem Wesen der von ihm angesprochenen Magie schon näher. Und der Beobachtung, dass wir alle, solang wir in dieser Welt leben, werdende sind und nie fertig mit dem Prozess der Wandlung. Das ist Erwachsendenbildung

ErwachsendenbildungGibt es überhaupt “Erwachsene” (etwa als Gegenteil von Kindern) oder sollten wir nicht eher alle im werden miteinander verwandt sein? Das Konzept der Abtrennung von der eigenen Kindheit, wie es sich zum Beispiel in den Paulusbriefen wiederspiegelt, ist nicht nur höchst fragwürdig, sondern erweist sich mit zunehmendem Alter als ein festes psychologisches Problem. Denn diese “unerlösten Kinder”, die sich nie richtig entwickeln durften (und so auch nicht ihre spielerische Genialität im Leben des “Erwachsenen” ausüben können), sind ja nach wie vor anwesend und es kostet immer mehr Kraft, sie in der inneren Verbannung festzuhalten. Kraft, die uns zum Leben fehlt. Halber Mensch. Und wie schön wäre es, einem Jugendlichen, der unter seinem Anspruch “endlich nicht mehr Kind und endlich erwachsen sein zu wollen” erkennbar leidet, mitzuteilen, dass man selbst auch gerade “nicht mehr dort ist, von wo man herkommt” und zugleich “auch noch nicht dort, wo es einen hin bewegt”.

Ankommen kann (und wird) man bei sich selbst. Oder eben nicht. Das ist das ganze Geheimnis der Gelassenheit, vor allem im Hinblick auf das eigene Endlichsein hier in diesem Erdenleben. Was also gäbe es für ältere Menschen sonst an einem weiteren Geburtstag zu feiern als die Aussicht, sich selbst als eine ureigene Symphonie in immer neuen Variationen bis ins zuletzt auch Unvollendete fortzuschreiben? Das mag andeuten, wie wir im Spannungsfeld der verschiedenen Zeitbegriffe zufrieden leben können, ohne uns zerreiben zu lassen vom Chronos (der seine Kinder frisst).

Was ist ein Kulturmagazin? Nun, ein Kunnstbiotop, in dem es möglich ist, so eine Magie zu betreiben, nämlich Schönes und Interessantes in Beiträge zu verwandeln und so das, was wir entdeckt haben, was uns anspricht und fasziniert, mit unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu verbinden und in veränderter Gestalt wieder anderen zu zeigen. Wir sind in Entwicklung begriffene Erwachsende und wir laden zum Miterleben wie auch zum Selbstweiterentwickeln ein. Erwachsendenbildung, eine bemerkenswerte Begrifflichkeit, die man sich in die Seele sinken lassen sollte:

Erwachsendenbildung.