Eine Besichtigung des Wahns

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Mai – Gestern waren wir dann also leibhaftig im Salzburger Literaturhaus, um dem entschieden “unsalzburgischen” Programm NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns beizuwohnen. Wir wollten wissen, wie sich so ein “Abend gegen Irrationalismus und instrumentelle Vernunft” anfühlen würde, wenn wir ihn livehaftig erleben. Und natürlich auch, wie sich diese dichte Darbietung von Erlesenem, Empfundenem und Selbstweitergedachtem im nachhinein auf unser Selbst- und Weltverständnis auswirkt. Waren unsere beschwingten Erwartungen aus der Sendung vom letzten Sonntag doch übertrieben begeistert ausgefallen? Diese Frage beantwortet am besten ein anderer Besucher, der zum Abschied anmerkte: ­“Da fühlt man sich auf ein Mal nicht mehr so allein auf der Welt.” Ja, es hat uns berührt

Eine Besichtigung des Wahns (Christopher Schmall)“Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellen – das ist Satire. Von wem auch immer dieses Zitat erstmalig stammt, es ist ebenso wahr wie auf diesen Abend, der sich “Besichtigung” nennt, zutreffend. Zumal wir im Zuge unserer Teilnahme die uns tagtäglich aufs Grausigste umbrausenden “Realitäten” nicht nur durch die Brille der kritischen Theorie sondern auch durch die Sichtweisen der Herren Ebermann, Mense und Thamer besichtigen durften, was eine sehr angenehme “ironische Distanz” zu den doch einigermaßen verstörenden Schrecknissen des Weltgeschehens bewirkte, auf dass sich ganz neue Freiräume im Denken, Fühlen und Handeln öffneten, ein zugleich poetischer wie auch therapeutischer Akt! Auf die Art und Weise möchte man “die Realität” (ein von den Realitätern dieser Welt gekaperter und für ihre Interessen uminterpretierter und somit missbrauchter Begriff), möchte man “die Realität” also noch viel öfter als das wahrnehmen, was sie ihrem Wesen nach eigentlich ist: “unsere Wirklichkeit, die wir selbst bestimmen und gestalten können. Und weil der Mensch ein Mensch ist, braucht er dazu was zum Fressenaber keine Moral. Die Richtschnur menschlichen Handelns kam im Programm kurz vor der Pause zum Ausdruck, und zwar wörtlich so:

“Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.”

Sie wollten die Aufklärung vor sich selbst retten. Sie wollten eine Idee von Vernunft entwerfen, die Auschwitz unmöglich machen würde.

Ja, ich weiß … aber ich glaube, das funktioniert nicht oder es funktioniert nicht mehr. Die Vernunft ist nicht mehr zu retten.

Aufklärung?

Was bleibt uns denn sonst … aber auch die stößt hier überall jeden Tag an ihre Grenzen.

Was brauchts dann?

Empathie

Solidarität

Zärtlichkeit

Naturschönheit genießen können

Die Fähigkeit, sich und andere zu lieben

Die Fähigkeit, selbst zu denken

Gesellschaftlichen Reichtum ganz anders denken

Verweigerung – die Fähigkeit zum Widerspruch

Widerständigkeit

Ungehorsam

Unangepasstheit

Unanständigkeit

Unvernunft

Unvernunft im Dienste der Vernunft

…..

 

Rings und Lechz

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. Mai – – Ernst Jandl hat die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Links und Rechts einmal mit folgendem Gedicht beantwortet: “manche meinen, rinks und lechts sind schwel zu velwechsern. werch ein illtum!” Und dem wäre nun auch wirklich nichts mehr hinzuzufügen, wenn die Frage nach Links und/oder Rechts sowie der ganze Wahnsinn (nicht nur der Sprache) sich nicht doch immer wieder aufdrängte und nach einem eigenen Standpunkt verlangte. Ich zum Beispiel habe vor Jahren, angespürs der mich umflutenden Verhältnisse, die ein von der Norm abweichendes Leben mit aller Gewalt zu verhindern trachten, jenes Gedicht in meine Situation übersetzt und quasi weiter gejandlt: “Verzweifelt blick ich rings und lechz – nur Angepasste links und rechts.” Sogar ein Schüttelreim, schau her …

Rings und LechzNun haben einige wackere Streiter für das Gute, Wahre und Schöne (sand de Buam ned fesch?) aus der Radiofabrik zu Salzburg eine sehr unsalzburgische Veranstaltung an Land gezogen, und zwar “NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns” von und mit Thomas Ebermann, Thorsten Mense und Flo Thamer. Und dankenswerterweise gleich als szenische Lesung ins Literaturhaus gebracht, wo dieses satirisch und multimedial gesellschaftskritische Programm mit dem Untertitel “Ein Abend gegen Irrationalismus und instrumentelle Vernunft” am Donnerstag, 22. Mai um 19 Uhr stattfinden wird. Sowas dürfen wir uns nicht entgehen lassen, zumal die unglaublich dichte, dabei zugleich weise und witzige Machart des Vorgängerprogramms “Heimat – Eine Besichtigung des Grauens” nicht nur persönliche Erkenntnis (mit bewusstseinserweiternder Wucht) verspricht, sondern eben auch rings im Publikum alles andere als angepasste, gleichförmige, ignorante und sonstwie hässliche, abtörnende Menschen erwarten lässt. Ringsund Lechz!

Gestern hab ich mir die ganze zweieinhalbstündige Heimatveranstaltung reingetan. Im ersten Teil bin ich verdauungsbedingt kurz weggedöst, nur um dann kurz vor der Pause mitten in einer ungemein dichten Text- und Bildcollage beim Thema “Heimat ist ein zutiefst faschistischer Kampfbegriff” im wahrsten Wortsinn hochzuschrecken und meiner Nazifamiliengeschichte zwischen Heimatwerk und Heimatkunde wieder zu begegnen. Verstörend! Und wenn wir den Bogen zu “normal” spannen, landen wir bei Bedeutungen wie “der Vorschrift entsprechend” aber auch “geistig gesund”

 

Der Wahnsinn der Normalität

 

Hit Me Hard and Soft

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. Mai – Heute begeben wir uns in ein noch nie zuvor gewagtes Experiment: Wir spielen ein ganzes Album, und zwar “Hit Me Hard and Soft”, das aktuelle Werk von Billie Eilish, das bei uns beiden doch einigermaßen unterschiedliche Gefühlsreaktionen hervorgerufen hat. Und außerdem auf unserer konsumismuskritischen Grundeinstellung ambivalent flirrend herumtanzt wie ein zutiefst liebenswerter Andenkenstandler im allerfürchterlichsten Souvenirshop des Weltmarktwahnsinns. Einigen wir uns auf einen gemeinsamen Blickwinkel: Das popkulturelle Phänomen oder die Kunstperson als schillernde Figur, auf die jeder/jede/jedes auch wirklich jegliches projizieren kann, was möglicherweise kaum erkannt in uns allen schlummert und unbewusst längst feuchtfröhlich in uns umgeht.

Billie Eilish - Hit Me Hard and SoftDenn die sympathische Seite der globalen Merchandiselerin ist ihre Ab- und Hintergründigkeit, mit der sie den allzu platten Bedeutungs- und Zuordnungsmechanismen in immer neuen Selbsterfindungen entkommt, eine Kunnst, die auch wir nur allzu gern anwenden oder die wir uns immerhin sehnlichst herbei wünschen. Grund genug, unsere unterschiedlichen Gefühle “auf einander los zu lassen” und dabei völlig ungeplant zu erleben, was geschiehthard and soft

“She’s the headlights, I’m the deer”

wiedereinmal dieses zaubermächtige gefühl, mit wucht und völlig ungeplant erfasst zu werden, fast schon umgerissen, von musik, von klangkunst, die mich mit jeder neuen wendung weiter in so vertraut-eigensinnliche sphären beamt, dass ich zu schwingen und vibrieren beginne : HIT ME HARD AND SOFT trifft mich hartzart, traumklar, lebhaft-still : nimmt mich in den arm und wirft mich ins weite oder ich sinke hinauf zu den gipfeln der see, in die wolkenschluchten, dort weiß ich dich tanzen, dort sind wir uns nahrung, öffnen wir uns wie türen : wie viele türen im inneren, im zwischen, zwischen uns, zwischen uns und dem schwirrenden glück? sind wildblumenwiesen, wenn wir wollen und gleichgefiedert im freien hall, im heilenden fall ins blau der augen des drachen, in angst und verzweiflung, doch wir scheuen nicht zurück : fühlt sich an wie sterben : fühlt sich wie liebe an : fühle dann nichts mehr oder denke das nur : fühle mich hundertfach im raum und sehe mich hundertfach im raum fühlen, wie ich hundertfach im raum sehe, was ich kaum zu fühlen bereit bin, aber ich vertraue – auf was oder wen? auf dich? mich? unsere liebe? aufs vertrauen? den zufall? auf den ominösen fluss des lebens? fuck it! eh wurscht! egal was mich bei verstand hält oder mir mut gibt weiterzumachen, zuversicht, es quillt aus mir : ich quelle aus mir und verwandle, was auch immer an zerbrochenem, verletztem, abgespaltenem oder eingepflanztem durchs gedärm wuselt : du, schmetterling, du, was kannst du uns von der leere erzählen? liebst du die sonne, so wie ich? und das meer? hinterlässt du abdrücke im sand? lügt der wind, hier, am kap, wo mich jede*r kennt? mein gesicht auf den globus gepinselt als wäre ich mehr als ich weiß, dass ich sein könnte : und größer : das größte ich, das ich sein möchte?

“Did I cross the line?”

Billie Eilish, in erneuter zusammenarbeit mit ihrem bruder FINNEAS, ist ein herrlich vielseitiges und musikalisch anspruchsvolles album gelungen, das durch die detailverliebte produktion der soundstimmstimmungsschichten besticht, aber mit den texten, die verschiedenste facetten von liebe thematisieren, die wunderschönen, lustvollen und glücklichen, wie auch die abgrundtief schmerzenden, gewaltvollen, übergriffigen, verlogenen und obsessiven seiten, noch dieses eine besondere, etwas andere gewürz beinhaltet, durch das es zu einem herausragenden werk wird :
Billie Eilish ist eine ungewöhnliche persönlichkeit in der pop-maschinerie, die sie gekonnt zu bedienen gelernt hat und gleichzeitig mit ihrer unverstellten, eigenwilligen art fast ad absurdum führt : sie ist und bleibt sie selbst, mit ecken und kanten und dunkelheiten und leerstellen : wie wir alle

 

Hit Me Hard and Soft (Deutschlandfunkkultur)