The Process Of Belief

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. JuliSeit fast 40 Jahren existiert da irgendwo in St. Kalifornien eine stilprägende Punkband namens Bad Religion. Zuallererst springen zwei Merkmale ins Ohr: Zum einen das fast schon sture Beibehalten des von ihnen mitbegründeten Sounds (der oft als Skatepunk oder Melodic Hardcore einsortiert wird) nebst den für sie typischen mehrstimmigen harmonischen Gesängen. Zum anderen die für die Punkszene eher untypisch komplexen und geistig herausfordernden Songtexte, die man am besten auch selbst lesen sollte, damit sie nicht in der Wucht ihrer Darbietung verschwimmen. Eine umfängliche Sammlung dieser Texte ist etwa hierorts – im Internet eures Vertrauens anzutreffen. Speziell zum heutigen Album The Process Of Belief

Bad Religion BeliefFür letzteres haben wir uns entschieden, weil es ungefähr in der Mitte des nun doch schon recht langen Bandschaffens erschienen ist und so den Sound/Stil kurz nach der Jahrtausendwende zu Gehör bringt. Und weil meine Lieblingsnummer auf The Process Of Belief enthalten ist, nämlich Sorrow (hier die etwas andere Live-Version), ein Lied, das mir erstmals in Mariazell widerfuhr. Bad Religion eben. Die etwas andere Geschichte. In Würdigung der Beständigkeit von Bad Religion wollen wir vor unserer Albumpräsentation noch vergleichen, wie sie sich in den 90ern anhörten – und wie sie sich (fast) heute anhören. God Song versus The Approach – zeitlich dazwischen das heute zu zelebrierende Krachwerk aus Abgrund und Harmonie. Es soll einfach wieder einmal gscheit scheppern und plärren, wenn wir schon alle seit Monaten nur noch im Kopf (und virtuell, pfui Deifi!) tanzen können. Und wenn Zeiten wie diese vermehrt nach Gedankenfutter verlangen, dann sind wir beim Herrn Professor bestens bedient. Greg Graffin singt und schreibt nicht nur für seine Band – er ist zudem Doktor der Zoologie, Universitätslektor und Buchautor, der in seinem Gesamtwerk Naturwissenschaft, Politik und Philosophie zusammen führt. Allein schon der Wikipedia-Eintrag zu den Werten der Band lässt den dahinter knotzenden philosophischen Kosmos erahnen. Der Begriff “Belief” hat hier viel mit Kritik an organisierter Religion (und das ganz besonders in den U.S.A.) zu tun. Der Herr Professor, inzwischen ergraut, gibt selbst Auskunft über einige Hintergründe.

Die erste wirkliche Autobiographie seit 40 Jahren Bad Religion wird am 18. August 2020 bei Hachette Books erscheinen – und wird auch als Hörbuch erhältlich sein.

Sehr zum Wohl!

 

Der große Schaspreis

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. JuniDer Preis ist heiß. Eigentlich dampft er noch. Und auch wenn es sich nicht um den großen Schaspreis (oder eine andere staatliche Heißluft) für Literatur handelt, geht es rund um den Wörtersee meist mit einiger Erregung zur Sache. Denn die Veranstaltung, die schon im Jahr 2000 nicht mehr “Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb” heißen durfte, war ja von Anfang an als fernsehgerechte Show konzipiert, als ein unterhaltsames Theater der Literaturkritik. In einem der zahllosen Artikel des deutschsprachigen Feuilletons, die Tag für Tag während des laufenden Wettlesens erschienen sind, hat man uns immerhin einige der bisherigen Bachmannpreis-Erregungen nachgereicht. Es haben eben auch alle tagesaktuell bemarkteten Verwurstwaren ihre jeweils sehr eigenen Geschichten

Der große Schaspreis…durch welche sich die Geschichte erst wirklich lebendig erzählen lässt. Nicht, dass wir mit der diesjährigen Preisträgerin Helga Schubert nicht einverstanden wären! Ihre spezielle Bachmannpreisgeschichte begann bereits 1980, als sie aus Gründen der DDR nicht teilnehmen durfte – und Sten Nadolny sein Preisgeld zu gleichen Teilen auf alle Autor*innen aufteilen ließ, weil er befand, dass Literatur nicht Gegenstand von Wettbewerben sein sollte.” Seine daraus entstandene “Entdeckung der Langsamkeit” ist überhaupt eine unverzichtbare Kritik am herrschenden Immernochschneller und Immernochmehr. Das wäre ja auch die große Chance von Corona-Lockdown und Digital-Distancing, endlich zur Besinnung zu kommen im Hinblick auf die kranken (und kränkenden, im Wortsinn krank machenden) Ziele und Werte, mit welchen die Weltbevölkerung zum Zweck ihrer besseren Beherrsch- und Verwertbarkeit fortlaufend neu infiziert wird.

Publikumspreisträgerin Lydia Haider und gebenedeit – Die Viren sollen krepieren

Der große Schaspreis kann jedoch auch das Strafgeld für einen beamtshandelten Darmwind bedeuten. Wie bitte, was? Wenn jeder Schas klagbar wäre, dann liefen (lauferten) doch ein Haufen Politwichteln, Religionskoffer und Finanzhoudinis (um hier nur einige anzuführen) hoch verschuldet in der Landschaft herum. Oder geht es darum, aus welcher Öffnung des Körpers die heiße Luft entweicht? Ob man bloß ein Arschloch hat – oder ob man eines ist? Vielleicht hat Martin Luther auch den ersten Satz des Johannesevangeliums verkehrt übersetzt und es müsste heißen: “Im Anfang war der Sinn.” – Weil da steht ja Logos – dann bräuchten wir uns forthin nur noch mit dem Sinn von Vorschriften und Gesetzen zu befassen – und nicht mit deren Wortlaut.

Höchste Zeit für einen gepflegten Exorzismus mit Torsten Sträter

 

Bachmann Loops

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. Juni“Ihr Menschen! Ihr Ungeheuer!”, schrieb Ingeborg Bachmann 1961 in ihrer Erzählung Undine geht”. Was sie wohl heute von dem nach ihr benannten Preis halten würde? Jene Dichterin, die 1967 aus Protest gegen die Übersetzung der Gedichte von Anna Achmatowa durch den ehemaligen NS-Funktionär Hans Baumann ihren bisherigen Stammverlag verließ, weil sie verstand, dass eine Frau, die gegen den Totalitarismus Stalins anschrieb, nicht von einem Mann bearbeitet werden durfte, der den Totalitarismus Hitlers mit befördert hatte. Jene Ingeborg Bachmann, die 1973 zugrunde ging, auch an ihrer jahrelangen Verzweiflung über jederlei kritiklosen Gehorsam, nunmehr dem alles zersetzenden ökonomischen Diktat gegenüber. Das Virus Macht hat viele Gesichter.

Bachmann LoopsWie entstanden nun eigentlich 1976 jene Tage der deutschsprachigen Literatur, als deren Höhepunkt sich das “Wettlesen” um den Ingeborg-Bachmann-Preis etablierte? Schon wieder begegnet uns Humbert Fink, der weithin als “Konservativer vom Dienst” dargestellt wird – und der im legendären Club 2 mit Nina Hagen 1979 als gelangweilter Verächter der weiblichen Sexualität auffällig wurde. Und der ebenso notorische Marcel Reich-Ranicki (die Löffler?), der ja auch nicht gerade als Verfechter einer spezifisch weiblichen Sicht- und Schreibweise gilt – viel eher als Prototyp des Machtbildes vom “alten weißen Mann”. Hier tut sich auf einmal eine schwindelerregende Diskrepanz zwischen Behauptung und Tatsächlichkeit auf, die aufs erbrechenmachendste die hierzulande gebräuchliche Rundumverwurstung von toten Künstler*innen aufzeigt. Wurscht, wer Mozart wirklich war, zur Imagepflege und als Handelsware ist er super! Überhaupt, ein Literaturevent als “sportiver” Wettkampfdas gibt uns zu denken!

Einen angenehm anderen Umgang mit dem Vermächtnis von Verstorbenen pflegt der Berliner Produzent Tim van Jul, der schon vor 8 Jahren mit seinem Projekt “Seid was ihr wollt – Kinskys Villon” im Artarium zu Wortklang kam. Nun hat er unlängst einen Gedichtvortrag von Ingeborg Bachmann kongenial in elektronische Musik gebettet, noch dazu zuhause als Ein-Mann-Unternehmen, wie es in den Zeiten der Corona angesagt ist. Und wie es zur diesjährigen digitalen Darreichung der “Tage der deutschsprachigen Literatur” passt wie kein anderer Faust aufs Auge. Daher spielen wir sein aktuelles Album “Bachmann Loops” am Tag der Preisverleihung.

Die Woge trug ein Treibholz hoch und sinkt.
Das Fieber riss dich an sich, lässt dich fallen.
Der Glaube hat nur einen Berg versetzt.
Lass stehn, was steht, geh Gedanke!

Ingeborg Bachmann – Geh, Gedanke

 

Die trojanische Gunst

Artarium am Sonntag, 14. Juni um 17:00 Uhr“Der nächste, der Kunst sagt, kriegt eine aufs Maul.” Dieser wunderbare Satz stammt nicht von Ulrike Lunacek, sondern von Hubert Weinheimer, seines Zeichens Dichter und Spiritus Rector der Wiener Chanson-Punk-Kapelle “Das trojanische Pferd”, die uns schon seit Jahren immer wieder lustvoll inspirativ begleitet. Genau genommen aus dem sich in Sehnsucht verzehrenden Lied “Fahrstuhlmusik” vom allerersten Album. So weit, so bisher. Doch jetzt hat der gefühlsselige Kreativvulkan eine ganz und gar neue (die vierte) Textmusikeruption zur Welt gebracht: “Gunst”, unlängst bei grob, gröber, monkey erschienen, klingt irgendwie anders – und doch wohlvertraut. Über die Entstehung des Gunstwerks berichtet Hubert im mica-Interview allerhand Aufschlussreiches.

GunstBeim Ersthören hat mich irgendwas an diesem gewandelten Klangbild schon auch irritiert. Und erst nach einiger Zeit wurde es mir klar: Das Cello fehlt! Fürwahr, der kongeniale Kompositeur und Live-Cellist, der in der “Fahrstuhlmusik” besungen wurde: “Und Hans Wagner und ich, wir schlagen zurück …”, der ist auf diesem Album nicht mit an Bord. Schade – denn sein exzentrisches Cellospiel prägte den Sound des Pferds maßgeblich. Dafür kommt “Gunst” allerdings mit zahlreichen neuen klanglichen Facetten daher, die sich vielleicht erst im Zuge mehrmaligen Hörens erschließen, dann jedoch dadurch überzeugen, dass sie das akustische Bühnenbild für Hubert Weinheimers Gesänge derartig plastisch, eindringlich und vieldimensional gestalten, wie es der Dichtheit und Virtuosität seiner Liedtexte entspricht. Denn seien wir uns einmal ehrlich, deren Qualität ist das Beständige und Vertraute, auch in diesem Album. Mehr oder weniger verklausuliert, wie lernten wir es schon beim Meister der vielschichtigen Aufbereitung (Peter Gabriel): “… erst die richtige Mischung aus Enthüllen und Verbergen macht Kunst lebendig …” Oder so ähnlich. Ein kleiner Vorgeschmack auf Gunst und Kultur?

Alles was ich nicht kenn das gibt es nicht
Du fragst mich na wie schmeckt das Kriegsgericht
Und langsam glaub ich schon du liebst mich nicht
Weil sich das letzten Endes widerspricht

Alles was ich nicht kenn das gibt es nicht
Alles was ich nicht mag ist widerlich
Alles was mir gehört das kriegst du nicht
Wenn du die Augen zumachst siehst du mich

Wir werden sehen…

 

Loreena McKennitt – Lost Souls

> Sendung: Artarium vom Pfingstsonntag, 31. Mai – Anlässlich der zu befeiernden Ausgießung (sowie ihrer Stattfindung in Gestalt von Regen) und überhaupt deshalb, weil eh alles immer schneller, immer lauter und immer noch penetranter daherdröhnt ringsum, also jedenfalls aus Gründen, entführen wir euch heute in ein Zwischenreich aus kräftiger Stille und sanfter Energie, nämlich Loreena McKennitts bislang letztes Studioalbum Lost Souls. Auf dem titelgebenden Stück (zugleich die Schlussnummer) taucht sie aus ihrer lebenslangen Reise durch diverse versunkene Mythologien und Musiktraditionen endgültig im Hier und Jetzt der globalen Gefährdung auf. Im Text zur gewohnt atmosphärischen Musik bezieht sie sich auf Ronald Wrights Buch “Eine KURZE Geschichte des Fortschritts” – und stellt fest: “I’m coming home to you.”

Loreena McKennitt - Lost SoulsSpeziell eine Passage (aus dem Buch) hat es McKennitt angetan: “Wright sagt, dass unsere Spezies die moralische Richtung verloren hat, immer mit dem Blick auf den ‚Fortschritt‘, und dass wir so etwas wie verlorene Seelen geworden sind.” (Aus der feinen Rezension auf nordbuzz.de zitiert.) Wie des weiteren zu erfahren war, möchte die inzwischen über 60-Jährige ihr musikalisches Wirken künftighin zurück stellen, um sich vermehrt ihrer Familie und dem Kampf um die Rettung des Planeten vor der menschgemachten Zerstörung aller Lebensgrundlagen zu widmen. Respekt! Inne zu halten und sich auf das Wesentliche zu besinnen ist die einzig gute Grundlage für wirklich tragfähige Zukunftsperspektiven. Und nicht kurzatmig und kurzsichtig immer nur noch schneller der Kurzlebigkeit fragwürdiger Reförmchen zu obliegen. Beim hörenden (wer Ohren hat) Einsinken in die Klangwelt von Lost Souls werden unweigerlich Augenblicke der Verbundenheit mit dem ursprünglich Lebendigsein an sich hervor gerufen, wie man sie zum Beispiel im Blinzeln von Sonnenlicht durch sanft windbewegte Blätter, im stillen Seufzen angesichts des Sternenhimmels oder im atemberaubend klaren Geschmack frischen Quellwassers erfahren kann. Wer in letzter Zeit nicht mehr so oft hinaus konnte wie früher, wird das zu schätzen wissen.

Wir haben vor einigen Jahren bereits ihre legendäre Livesession “Nights from the Alhambra” vorgestellt, in der maurische und orientalische Einflüsse mit keltischen Traditionen verschmelzen. Auf ihrem neuen Album taucht dazu noch das Thema der israelischen Nationalhymne haTikwa (die Hoffnung) auf und feiert als “Sun, Moon and Stars” friedliche Urständ mit zahlreichen musikalischen Nachbar*innen

Also dann, Shalom!

 

Vitásek und die Utopien

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. MaiIn Zeiten wie diesen, in denen nicht nur das ansteckende Lachen verdächtig ist, sonder überhaupt Theater und Kabarett nur noch virtuell stattfinden und einem speziell die Humorkünstler leid tun müssen, weil sie kaum noch übertreiben können, was gerade stattfindet, in Zeiten wie diesen sollte man sich allein schon aus Gründen geistiger Gesundheit der hysterischen Flut medialen Gezappels zumindest zeitweilig enthalten – und statt dessen die eine oder andere gut abgehangene (aromatisch ausgereifte!) Vorstellung aus früheren Zeiten zu sich nehmen. Der etwas andere Kabarettist Andreas Vitásek erschuf zu seinem 50. Lebensjahr das Programm “My Generation”, in dem er die Utopien und Abgründe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verdichtet. Es ist Zeit, aus der Zeit zu fallen.

Vitásek und der TodZugegeben, das Foto stammt aus dem aktuellen “Austrophobia”, wir freuen uns aber so heftig über die Wiederbelebung des Tods, dass wir es hier sinnbildlich verwenden. Denn auch durch “My Generation” weht naturgemäß der Hauch einer unentrinnbaren Endlichkeit – allein schon des Älterwerdens wegen. So legt sich unser Held des Erinnerns letztendlich bei Professor Freud auf die Couch und assoziiert sich (und uns) einen ziemlichen Wirbel. Zuvor jedoch nimmt er uns mit in seine eigene Geschichte und bringt dabei die abgedrehtesten Anekdoten aus der Wiener Szene (wieder) zu Bewusstsein. Ein persönlicher Parforceritt durch die Post-68er-Jahre und zugleich Zeitgeschichte zum Mitfühlen und Lachen. Vitásek erzählt von seinem Studium der Theaterwissenschaften, seiner Zeit als Komparse am Burgtheater (als Giorgio Strehler einmal Franz Morak als Richard III. absetzte), seinen seltsamen Begegnungen mit “den Linken” und deren noch viel seltsamerem “Marsch durch die Institutionen”, von der Palmers-Entführung, dem OPEC-Überfall und den eigenartigen Karrierewegen seiner damaligen Bekannten. Einer davon ist Peter Pilz – und die bsoffene Gschicht, die wir da erfahren, wirkt heute geradezu prophetisch:

Spät in der Nacht treffen sie einander in einem Lokal im 7. Bezirk und Vitásek stellt beheitert fest: “Ihr Grünen, ihr habts überhaupt kein Kulturkonzept.”

Wenn das kein Grund ist, wieder einmal in früheren Zeiten zu verweilen…

ALLES hat eine Geschichte!

 

Return of the Mother

> Sendung: Artarium vom Muttertag, 10. Mai – Nicht nur ein ganzes, nein, sogar auch ein thematisch passendes Album von Nina Hagen zum heutigen Tagesanlass. “Ich meine das Verschieben von Machtverhältnissen … und da hats doch mal Leute gegeben, so kontemplative Romantikhaserln, die geglaubt haben, Natur wär was rundes Ruhiges, wo man seine Hängematte reinhängen kann.” Elfriede Gerstl. Ach, wie viel besser ginge es den Menschen, wenn ein erheblicher Anteil jener Geld- und Geistesenergie, die derzeit noch in destruktiven Blödheiten wie Konsumtrottelei, Militärtechnik, Weltfinanz und anderen unfreundliche Übernahmen verplempert wird, stattdessen für derlei Dichten und Trachten (wie oben) zur Verfügung stünde. “Scheiße hier, Scheiße da, es ist beschissen, ja fürwahr.” Nina Hagen. Und ab dafür:

Return of the MotherWorüber man zuviel reden kann, davon soll man lieber schweigen.

In diesem Sinne diesmal keine weitschweifigen Betrachtungen über ihre inzwischen 50-jährige Schaffens- und Darstellungswelt. Eine gscheite Rezension zu den beiden Nina-Hagen-Band-Alben (auf Vinyl neu erschienen) bietet einiges an Hintergrund zur auch schon öfter als God mother des (deutschen) Punk angepriesenen Ausnahmevielfaltskünstlerin, die unlängst 65 Jahre alt geworden ist. Lasset uns ihre Nochmehralsvielseitigkeit im Hinblick auf diesen Day of the Mother doch in Gestalt eines “synopsialen Artikelstechens” zelebrieren. Anleitung: Im nun folgenden Absatz sind allerlei Songs und Videos verlinkt. Diese kann man nicht nur in chronologischer Reihenfolge (also dem Text entlang) aufrufen, sondern auch dem sogenannten “Bibelstechen” gemäß ziemlich ziellos anklicken und sich auf diesem Weg seine (und natürlich auch ihre und überhaupt) eigene Botschaft einflößen. Huu!

“Ich bin nicht deine Fickmaschine – spritz, spritz, das isn Witz!” Mit derartigem Pank trat Nina Hagen erstmals auch Österreich auf die Ohren, beim legendären Club 2 (Thema Jugendkultur, Haha!) dann auch herzhaft in die Seele. Die Nina Hagen Band (vormals Lokomotive Kreuzberg, später Spliff genannt) brachte ihre Vielseitigkeit kongenial zum Klingen, von der Naturträne über den Fisch im Wasser bis hin zum Herrmann. “Das Gehirn erkrankt – und schwankt – in immer neue Dimensionen – da, wo die bösen Mächte wohnen.” Mit Herman Brood und Lene Lovich dann der Film Cha Cha, vom breiten Publikum (Drooogen!) sträflich unterbeachtet. Knockin’ on Herman’s Door. Nunsexmonkrock, der gepflegte Übergang von der Band zur Mother of Cosma Shiva. Wir leben immer … noch. Und Frühling in Paris. Die Wiederkehr der Zarah Leander, die kann sonst niemand so opulent operesk. Der Wind hat mir ein Lied erzählt… Die deutsche Version von Let the sunshine in aus dem Musical HairPersonal Jesus (ursprünglich von Depeche Mode), Wir sind das Volk (back to the roots, Nina?) sowie Am dunklen Fluss (Leonard Cohens By The River Dark, von Misha G. Schoeneberg treffend übersetzt). Aber – um es mit Thomas Bernhard zu sagen – ich deute nur an.

Kunst fürs Volk – durchs Volk – im Poetenclub mit Falco – ins Leben schreiben…

 

Museum für Naive Technik

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. April – Als das Kernkraftwerk Zwentendorf nach der legendären Volksabstimmung vom 5. November 1978 dann doch nicht wie geplant in Betrieb ging, kam alsbald die Frage auf, was man nun mit dem Bauwerk tun solle, wo es doch schon fixfertig errichtet wäre. Ein besonders lustiger Vorschlag aus den Reihen der Atomkraftgegner war, das gesamte Ensemble zu einem “Museum für Naive Technik” umzuwidmen. Am 26. April 1986 offenbarte sich dieses halbspaßige Ansinnen in prophetischer Weise, als die von den Aposteln der Atomkraft stets als beherrschbar angepriesene Technik der halben Welt buchstäblich um die Ohren flog – in Gestalt des Reaktorblocks 4 von Tschernobyl. Dort befindet sich inzwischen das tatsächliche Museum für Naive Technik als ein Mahnmal menschlichen Wahnsinns.

Museum für Naive TechnikEinen größten anzunehmenden Urstoß zu unserer Sendung (exakt 34 Jahre nach dieser Katastrophe) verdanken wir dem lieben Kollegen Andreas Woldrich, der uns auf die außergewöhnlichen Filmmusiken von Hildur Gudnadóttir hinwies und dabei ihr musikalisches Mitwirken an der TV-Serie Chernobyl hervor hob (absolute Empfehlung!). Ihre darin verwobenen Klangwelten entziehen sich jedweder Kategorisierung, zumal sie revolutionär andersartig aufgebaut und ebenso untypisch in die Dramaturgie der Filmhandlung eingefügt sind. Erfrischend verschieden vom Allermeisten, das uns als “Filmmusik” sonst oft funktional und erwartbar entgegen dröhnt. Da hätte der Altmeister des atmosphärischen Samplings seine helle Freude daran (und hat sie mit Sicherheit auch). Allein ein Stück wie “The Door” auch nur anzuhören, versetzt einen unweigerlich in die Stimmung des Unbehagens angesichts der “unsichtbaren Gefahr”. Und das ist auch die Parallele zum derzeit vorherrschenden Gemütszustand.

Die Handlung von Chernobyl (wiewohl fiktional erweitert) folgt den posthum bekannt gewordenen Aufzeichnungen des sowjetischen Wissenschafters Waleri Legassow, der darin die eigentlichen Ursachen der Nuklearkatastrophe sowie die unrühmliche Informationspolitik der Regierenden offenlegt. Diese folgten laut Legassow in allen Entscheidungen dem “ökonomischen Diktat”, so wie sämtliche Propagandisten der “friedlichen Nutzung der Kernenergie” in den anderen Ländern der Welt übrigens auch, und zwar immer skrupellos und ohne Rücksicht auf die bekannten Gefahren für Leben, Umwelt und Gesundheit. Hier eine Liste schwerer Störfälle seit 1945…

Danke! Jetzt sind wir gründlich beruhigt, Oida.

 

Es gilt die Unmutsverschuldung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. Aperil Unmut (von wemwas auch immer verschuldet) ist ja heutzutage ein weit verbreitetes Phänomen. Wenn aber Unmut zur Wut wird, dann wird Unwucht zur Mucht. Was für eine feine Schöpfung! Und schon sind wir mitten in der sprachkreativen Logik des erweiterten Wortbaus. Zack, zack, zurück zum Anfang! Kaum wird von einem möglichen Verbrechen berichtet, hört man sogleich den (aus rechtlichen Gründen gebotenen) stereotypen Stehsatz: “Es gilt die Unschuldsvermutung.” Und der ist ob seines inflationären Gebrauchs schlechterdings nervtötend. “Es gilt die Unmutsverschuldung.” Genau – nur wer oder was ist schuld an unserem Unmut? Das wäre ein gutes Beispiel für durch Sprachkunst ausgelöste Denkprozesse. Sofern man Ohren hat – und zwar nicht bloß zum Brillenbefestigen.

Es gilt die UnmutsverschuldungEine weitere flotte Fingerübung fürs Gehirn ist die folgende: Ein einzelner Buchstabe macht einen gewaltigen Unterschied (und dann halt auch noch die Zeit).

“Die SPÖ betrieb Umverteilung. Die ÖVP betreibt Umvereitlung.”

Und Ursula Stenzel? Die betreibt Einverumtlung. Danke für dieses Bild! Michael Niavarani vertritt ja die Ansicht, dass eine “unüblich verschaltete Gehirnregion” für solcherlei humoreske Schöpfung ursächlich ist – und dass das bitte durchaus “normal” (im Sinne von nicht krankhaft und somit behandlungspflichtig) sei, dergestalt zu denken. Ich würde da noch weiter gehen und mir vorstellen, wie Weltpolitik aussähe, wenn diese Art zu Denken noch viel “üblicher” wäre: “America kräht again!” – alle lachen, gehen nach Hause – und wählen jemand Vernünftigen. Kann es sein, dass den (allgemein üblichen) “normalen” Mehrheitsmenschen genau diese unabhängige Hirnschaltung fehlt? Und wodurch ist die Verziehung zum Nachplappern von vorgeformtem Blödsinn so erfolgreich?

Es gilt die Unmutsverschuldung!

Österreich im April 2020: Ein gut ausgebildeter Sozial- und Gesundheitsbetreuer leistet aufgrund der aktuellen Corona-Krise außerordentlichen Zivildienst in einem Senior*innenheim. Dort ist er mit eklatanten Gefährdungen dieser Risikogruppe konfrontiert und wendet sich deshalb mit dringenden Anregungen direkt an den Gesundheitsminister. In dem Zusammenhang wir ihm telefonisch mitgeteilt, “…er überschreite seine Kompetenzen und lehne sich zu weit aus dem Fenster, weil er seine Vorgesetzten übergehe, was ein Nachteil für ihn wäre…”

Erich Fried in seiner Rede zur Salzburger Bücherverbrennung 1938 (die er 1987 gehalten hat, “um die historischen Kontinuitäten aufzuzeigen”): “Mein Gott, wer erst einmal gründlich kuschen gelernt hat, der vergisst das nicht so schnell, und gibt es noch seinen Kindern weiter als praktische Überlebensregel. Wer hat uns so dressiert, welchen Einflüssen ist das zu verdanken?”

Es folgt nun volksdümmliche Musik…

 

Nevada Tan Panik

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. April – Es gibt so einen eigenartigen Lebensabschnitt, in dem Männer (meist zwischen 40 und 50) plötzlich meinen, sie wären wieder (oder noch immer) “jung wie früher”. Und sogleich führen sie allerlei grenzwertige Verrenkungen mit sich und anderen auf, die meist auch nicht so ganz gesund sind – für die gut abgehangene Existenz. Ich zum Beispiel warf mich einmal 48-jährig auf einem Konzert von New Model Army todesmutig ins tobende Publikum. Dass meine anderntags schmerzende Schulter etwas damit zu tun haben könnte, das fiel mir selbst beim Orthopäden nicht im Traum ein. Ungefähr in diesem Zustand entdeckte ich damals Nevada Tan, deren Musik und Text eine wohltuend rebellische Stimmung verströmten. Also kein Grund zur Panik vor irgendeinem Torschluss

Panik AlbumcoverUnd auch wenn das Nevada-Tan-Projekt zu jener Zeit von seinen Managern/Produzenten als ein “neues Tokio Hotel” zusammen geklont sowie über BRAVO und (wasweißich) Teenie-TV an eine jugendliche Zielgruppe verkauft wurde – das tatsächliche Können hinter der Imagepflege war auch da schon unüberspürbar. In einer meiner ersten Solo-Nachtfahrten namens BONK – Schönheit und Schmerz (Junimond) wurde das durchaus deutlich. Wer Ohren hat, zuhören… Gründlich sympathisch fand ich dann die Reaktion der Burschen, als das Aus- und Zurechtquetschen ihrer Kunst und Kreativität durch ihre “Manager” unerträglich wurde. Sie kündigten alle Verträge und verklagten die Schmarotzer, die ihnen sogar noch den Lohn für ihre Arbeit vorenthalten wollten. Das folgende Album produzierten sie einfach selbst – unter ihrem früheren Bandnamen “Panik”. Einer jener geldgeilen Erfolgstrottel, die sich den jungen Musikern damals als Karrierestifter andrehten, produziert sonst so gehaltvolle Interpreten wie Daniel Küblböck, Helene Fischer oder Dieter Bohlen. Oida! Da riecht man aber, woher der Fisch weht. Wenn schon Weißrussland, dann doch bitte Lyapis Trubetskoy. Und wenn Video, dann Alexey Terehoff. Bitte. Danke.

Wir präsentieren diesmal eine Synthese aus zwei Alben – eben von Nevada Tan und von Panik – unterteilt durch den Song “Wegweiser”, der ihre Erfahrungen mit dem “Business” kritisch reflektiert. So wie auch viele der Texte von Timo Sonnenschein “die Wirklichkeit zu ihrer Kenntlichkeit entstellen”

Und alles was wir wollen passiert,
weil ihr uns so gut regiert.
Und alles was wir wollen passiert,
oh wir sind so glücklich hier.

Freundschaft!