I killed my mother

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. März – Es kommt sehr darauf an, wozu man “hässliche Bilder” verwendet. Indem man etwa über die Beschaffenheit von Gewalt berichtet, wie sie entsteht, gegen wen sie sich richtet und was sie letztendlich bewirkt. Der junge Regisseur Xavier Dolan ist ein Meister in der Darstellung des Abgründigen und führt uns vor Augen, wie sich weitgehend verheimlichter Missbrauch von Macht für seine Opfer anfühlt und auf ein ganzes Gemeinwesen auswirkt. In seinem ersten Spielfilm “I killed my mother” flößt er uns fast unmerklich ein Gefühl dafür ein, auf welch verzweifelt tragische Weise die unerkannte Schuld der Verursacherin mit dem alles Lebendige bedrohenden schlechten Gewissen des ihr Ausgelieferten kollidiert. Dabei hat sich die Mutter doch nur Enkelkinder von ihrem schwulen Sohn gewünscht.

I killed my MotherÜber die Bildwelten des queeren Kino-Wunderkinds mag man sich aus Geschmacksgründen streiten, zu den von ihm gewählten Themen passen sie allerdings stets wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wie das Video zu “College Boy” von Indochine eindrucksvoll zeigt. Dieser Kurzfilm/Clip wurde wegen seiner drastischen Gewaltdarstellung noch dazu in Verbindung mit “christlicher Symbolik” vehement kritisiert und ist daher im Zuge der Mundgerechtmachung des kommerziellen Internets (andere nennen es Zensur) kaum irgendwo im Original zu finden. Ähnlich ergeht es auch vielen Videos der französischen Anarchistenband Achab, deren “Un Monde formidable” wir uns und euch im heutigen Kontext nicht vorenthalten wollen. Thomas Bernhard, Edward Snowden, Julian Assange? – Als Nestbeschmutzer (und Schlimmeres) gilt, wer auf verborgene Verbrechen hinweist.

Womit wir wiederum beim eingangs erwähnten Film “I killed my mother” ankommen. Was auf der einen Seite als völlig normal gilt, als ganz und gar natürlicher Wunsch “jeder Mutter”, nämlich von ihren Kindern Enkelkinder “zu bekommen”, das erweist sich auf der anderen Seite als unerkannter emotionaler Missbrauch, der bei seinen Opfern Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Gesundsein und Lebenwollen hervorruft. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr also, die aufzudecken, zu benennen und einer sie weitgehend ignorierenden Gesellschaft ins Bewusstsein zu stellen, sicher kein Verbrechen ist – sondern ein unschätzbarer Verdienst am Gemeinwohl.

Noch dazu unter Zuhilfenahme von so wunderbarer Musik wie etwa dieser hier.

PS. Portrait von Xavier Dolan aus dem Jahr 2011, das auch die recht spezielle Entstehungsgeschichte seines ersten Films “I killed my mother” beleuchtet.

 

Ariadne von Schirach

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. März – Vorab erst mal von Schirach. Dieser Name. Da war doch was, abgesehen von dem von uns sehr geschätzten Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Genau, der böse Baldur, der zur Zeit des 2. Weltkriegs als Gauleiter von Wien für die Judendeportationen verantwortlich war und der deshalb auch im Nürnberger Prozess verurteilt wurde. Der war ihr Großvater. Als ebenfalls Nachfahr von zumindest angebräunten Ahnen interessierte es mich zunehmend, wie die Kinder und Enkel der damals Verantwortlichen mit ihren Familiengeschichten umgehen. Und da stieß ich auf einen Vortrag von Ariadne von Schirach, in dem sie einen überaus bemerkenswerten Satz prägte: “Martin Heidegger, den wir trotz seiner Angebräuntheit und sehr schlimmer Verfehlungen als klugen Denker achten wollen…”

Ariadne von SchirachUngefähr zur selben Zeit entdeckte der Hase ihr Buch “Du sollst nicht funktionieren” und davon angeregt auch seine Liebe zur Philosophie. Spätestens als er ihr nächstes Werk “Die psychotische Gesellschaft” zu sich genommen (und mir weiter empfohlen) hatte, beschlossen wir, irgendwann einmal unbedingt eine Sendung über diese Denkerin zu machen, die zugleich lebensfroh und verwegen in Erscheinung tritt. Man kann es auch so sagen: Bei ihr wohnen Gefühl und Verstand sehr nah beieinander und kommen wie zwei benachbarte Saiten auf einem Instrument auch gemeinsam in Schwingungen. Diesen Umstand erkennt, ja erspürt man besonders dann, wenn man sie live lesen oder eben vortragen hört. Für die vielen, die das nicht persönlich unmittelbar erleben können, haben wir diese Buchvorstellung aus dem Literaturzentrum Hamburg als Beispiel gewählt. Es geht dabei um ihre jüngste Veröffentlichung “Glücksversuche”, einen Essayband mit dem schönen Untertitel “Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen.” Die Autorin lädt uns darin ein, ihre Selbstversuche nachzuvollziehen.

Das ist insofern erfrischend, als hier nicht “eine Bescheidwissende” daher ratgebert, wie wir, genau nach Rezept und erstens, zweitens, drittens glücklichere Menschen werden könnten oder gar müssensollen. Stattdessen denkt, spürt und erlebt sie uns hier dar, was für sie zur Entwicklung einer sinnvollen Lebensweise beitragen kann, die nicht in Gehorsamkeit gegenüber was auch immer für Autoritäter*innen, sondern die in eine selbst zu entdeckende, selbst zu erschaffende und selbst zu gestaltende Daseinsform mündet – die noch dazu imstande ist, ihre Ambivalenzen auszuhalten.

Es ist also eine Ansammlung von Angeboten, auf die wir uns einlassen können, sie auszuprobieren oder auch nicht, aus der wir auswählen können, was sich für uns als stimmig anfühlt, was entsprechend sein könnte, was uns neugierig macht, hier und da tiefer einzudringen und (das erinnert mich jetzt an die Kreisky-SPÖ in den 70ern) “ein Stück des Wegs gemeinsam zu gehen.” Nicht zuletzt (und hier schließt sich ein Kreis) habe ich mich in ihre Stimme verliebt, die viel von dem fühlbar macht, was sie mit ihren Gedanken ausdrückt. Fühlen und Denken ergänzen einander vortrefflich.

 

Und überhaupt, einen Ariadnefaden können wir doch alle gut gebrauchen …

 

Peter Gabriel – i/o (das Album)

> Sondersendung: Artarium vom Sonntag, 10. MärzJa, da schau her, eine Doppelstunde. Warum denn das? Weil Peter Gabriel (nicht der evangelische Pfarrer aus Hallein) ein neues Album herausgebracht hat. Und das ist uns eine Betrachtung wert, die über das übliche Vorstellen und Abspielen desselben hinaus geht. Nicht, dass wir es nicht spielen würden – allerdings erst in der zweiten Stunde, nachdem wir zuvor einige inhaltliche Anregungen aus dem Gabriel’schen Gesamtwerk beleuchten wollen. Über das Album i/o selbst (das bei uns im Dark-Side-Mix stattfinden wird) ist eh schon allerhand Sinnvolles gesagt worden. Über seine eigenartige Entstehung lässt sich auch auf Wikipedia noch einiges erfahren. Dass Peter Gabriel uns sowohl im Artarium als auch bei der Nachtfahrt schon länger begleitet, dürfte bekannt sein.

Peter Gabriel i/o CoverDas erste, was uns aus dem neuen Album ins Auge sprang, war das KI-generierte Video zu “Panopticom”. Allein dieser Begriff und die dazu angestellten Überlegungen aus der wundersamen Welt im Kopf des Erfinders würden längere Studien erfordern. Die Ideen dahinter sind aus einer selbstermächtigenden Umkehrantwort auf jenes im 18. Jahrhundert von Jeremy Bentham erdachte “Panopticon” entstanden, das später als Grundkonzept für die Gefängnisarchitektur diente und als Urstruktur jedweder zentralisierter Überwachung gilt. Dass sich ein ausgewiesener Menschenrechtsaktivist wie Peter Gabriel, immerhin Mitbegründer von Organisationen wie Witness und The Elders, für die Umkehrung oder besser noch Auflösung unterdrückerischer Machtverhältnisse einsetzt, liegt auf der Hand. Dass er uns in seine vielschichtigen Überlegungen dazu, dahinter und noch darüber hinaus einlädt, das ist eine Herausforderung an unsere Phantasie – und erfordert eben ausführlichere “Studien” im Sinn eines Überwindens von überkommenen Vorstellungen, Denkstrukturen und Gefühlsgewohnheiten

Doch wie soll das gehen? Hier kommt die andere Seite von Peter Gabriel ins Spiel, die uns schon immer fasziniert und beeindruckt hat. Und hier tut sich eine mögliche Verbindung zwischen der Innenwelt jedes Einzelnen und der “Welt da draußen” mit all ihren scheinbar so unverrückbaren Gegebenheiten auf. “Sind es die falschen Geschichten, die wir uns kollektiv erzählen?” fragt sich der Biologe und Genetiker Johannes Vogel. Der selbst- und therapieerfahrene Musikkünstler Peter Gabriel hat sich in seinen Arbeiten immer wieder dort hinein versetzt, wo diese entstehen.

In der Psyche von Menschen in Extremsituationen wird deutlich, was da alles aus dem Abgrund des Unbewussten empor steigt, um uns entgegen aller Absichten “fernzusteuern”. Zum Beispiel “Intruder” (1980) oder “Mercy Street” (1986) oder auch “Darkness” (2002)immer wieder lebt sich Peter Gabriel als Protagonist innerseelischer Vorgänge dar, die mit seiner eigenen Gefühlswelt verbunden sind, und das spürt man auch. Jetzt führt er auf “Live and let live” einen neuen Begriff ein – “Forgiveness”, einen Schlüssel zur persönlichen wie auch kollektiven Befreiung.

 

Wie auch immer das gemeint sein sollte, wir wollen es uns genauer anschauen.

 

PS. Mitlesen macht schlau: Die Songtexte zum ganzen Album von Peter Gabriel.

 

Frieden ohne Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Februar — In unserer letzten Nachtfahrt über Verdrängungen (etwa bei 1:25:35) stellt Christopher Yevgeniy Breygers neues Buch “Frieden ohne Krieg” vor – und mir fährt die ganze seit zwei Jahren angestaute Wut über dieses tagtägliche Verbrechen namens “Ukrainekrieg” aus dem Gesicht. Kurze Zeit später ist auch mir klar, dass ich diesen Autor, der etwas in Worte gefasst hat, das ich so lange Zeit in mir gespürt habe und dabei nie sprachgedanklich zum Ausdruck bringen konnte, unbedingt livehaftig erleben will. Und so besuchten wir am Montag seinen feinerweise von prolit organisierten Auftritt im Literaturhaus, um den Menschen hinter den Gedichten kennen zu lernen. Was wir dabei erlebt haben – und wozu uns diese Begegnung inspiriert – davon erzählen, spielen und lesen wir heute.

Yevgeniy Breyger - Frieden ohne KriegDie doch recht plötzliche Bewusstwerdung der Tatsache, dass es nun schon zwei Jahre sind, seit wir erstmals vom ungezügelten Ausbruch der russischen Gewalt gegen die Ukraine sprachlos geworden sind, nötigt uns nachgerade zu einer neuerlichen Betrachtung unserer damaligen Reaktionen. Und zur Überlegung, auf welchen Weg wir uns seitdem gemacht haben, ja, wohin uns das alles inzwischen führt. Ich erinnere mich an unser fast schon verzweifeltes Festhalten am Werk einzelner Künstler aus den “betroffenen” Ländern, an das Herbeizitieren exemplarischer Reaktionen aus aller Welt, die wir als irgendwie “gegen den Strom” empfanden – und an einige Ausblicke hinter den “kyrillischen Vorhang”, die uns mit der Gefühlswelt der Menschen in Verbindung bringen sollten, von denen wir so viel hörten – und die wir doch so wenig verstehen. Da fällt mir die unlängst erst in einem Dokumentarfilm erläuterte дедовщина ein. Die russische Gesellschaft ist von dieser “Häfenhierarchie” schon so durchsetzt wie ein Brot von einem Schimmelpilz. Die Begrifflichkeit dieses Gewaltsystems kommt in deutschsprachigen Medien kaum jemals zur Erwähnung. Ob das vielleicht damit zusammen hängt, dass die allermeisten von uns nicht sehen, nicht spüren und auch lieber gar nicht wahrhaben wollen, von was für schädlichen Myzelen unsere eigenen Gesellschaften durchwuchert sind? Um bei der Pilzmetapher zu bleiben – wir sitzen alle im selben Brot. Das Brot ist voll.

Von Yevgeniy Breyger heißt es, in ihm seien zwei Persönlichkeiten zugange, eine traumatisierte und eine kindlich verspielte. Diese beiden Seiten seiner selbst derart in Balance zu bringen und auch zu halten, das macht die Faszination seiner Sprache als ein Unterwegssein zu sich selbst aus, dem man ohne abspaltende Verrenkungen des Geistes begleitend beiwohnen kann. In Frieden ohne Krieg tritt uns der Mensch hinter dieser Sprache als jemand entgegen, der sich entschlossen hat, auf dem Weg zu sich selbst zu bleiben, ohne Maskierung und künsltiche Pose, einfach offen …

“Frieden ohne Krieg” – das ist ein richtiger Denksprengstoff für die Gegenwart.

Danke.

 

Perlentauchen mit Tommy Tinte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. Februar Perlentauchen, das ist so eine Lebenshaltung, aus der viele unserer Sendungen entstehen. “Inmitten des Schlamms der Kulturgeschichte entdecken wir Wertvolles, das wir, wenn es uns gefällt, weiter verarbeiten und so dem geneigten Publikum darbieten.” Sogar eine ganze Sendereihe trägt den Begriff in ihrem Titel, nämlich die monatliche Nachtfahrt der Perlentaucher. “Finding places and things” ist eine unbewusste Schnupperarbeit, bei der man nie genau sagen kann, wie sie sich vollzieht. Nur, dass sich manchmal auch mitten in den widerlichsten Umständen, wie etwa in der Kloake des Spätkapitalismus, plötzlich und auf wundersame Weise der Vorhang ins Reich des Schöpferischen einen Spalt breit auftut und dadurch ein kostbares Kleinod der Phantasie zum Vorschein kommt.

Perlentauchen mit Tommy TinteZum Beispiel auf Facebook, das bei kritischeren Geistern längst Inbegriff des blödblökenden KI-gesteuerten Nachplapperns von gemachter Meinung oder sogar das Schattenreich der Filterblase ist. Mitten dahier gibt es allerdings Menschen, die quasi “gegen den Strom” unbeirrt ihre ganz eigene Welt erschaffen – und darstellen. Der von uns oft und gern gelesene Schriftsteller Peter Hodina wäre da zu nennen, der mit seinen Träumen und philosophischen Exkursen beinah täglich den Mahlstrom des Mainstream ad absurdum führt. Oder die Musikpädagogin Alrun Pacher, die uns feine Einblicke in die Sprach- und Gefühlswelt ihrer Musikkinder nehmen lässt. Und – “tätärätäää” – an diesem Fund wollen wir die heutige Sendung aufhängen – der deutsche Autor und Historiker Thomas Riechmann, der nicht nur im sozialen Medium als Tommy Tinte in Erscheinung tritt, uns dortselbst aber speziell mit seinen Bildern und Textminiaturen erfreut, von denen wir einige vorstellen werden.

Beim weiteren Perlentauchen (Google ist wirklich voller Schlamm) haben wir so eine “Zeitschrift trotz Philosophie” namens “Der Lichtwolf” gefunden, in deren Heft 54 “Extase” ein Artikel von Tommy Tinte mit dem Titel “Drei Gläser Wasser” auftaucht, im Inhaltsverzeichnis angeführt unter Philosophistik & Misosophie”. Darüber hinaus treibt es den Autor unter seinem bürgerlichen Namen in dem nicht ganz unbekannten Periodikum Die Zeit um. Tommy Tinte wiederum lebt auch als Ideengeber für Kinder. Wir wollen das Prinzip Perlentauchen in der Geschichte zum Artikelbild beleuchten:

Auftragsarbeit für ein Kinderzimmer. Gespräch mit dem betroffenen Kind:

Was soll ich malen?
Kind (im Bockigkeitsmodus): Grrr. Mal halt nen Tier.
Was für ein Tier?
Kind: Füsch.
Welche Art von Fisch?
Kind: Schrecklichkeitsscheißefüsch.
Ok (gesagt, gemalt)

Ist der Seeteufel der richtige Fisch für ein Kinderzimmer?
Darf man den Seeteufel freundlicher malen, als er in Wirklichkeit ist?
Verunsichert man Kinder mit ungeschminktem Realismus?

 

Navigating by the Stars

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. FebruarWir spielen heute das ganze Album “Navigating by the Stars” von Justin Sullivan, dem wir über die Jahre schon in vielerlei verschiedenen Facetten seines Schaffens begegnet sind. Zunächst einmal in seiner bekanntesten Erscheinungsform als Sänger und Texter von New Model Army oder im Anagramm ihrer selbst Raw Melody Men. Sodann auch gemeinsam mit Joolz Denby als Teil des Trios Red Sky Coven, das Musik mit Geschichten und Gedichten verknüpft. Und nicht zuletzt als genauso feinsinniger wie gefühlvoller Kulturkritiker, der uns bei generellen Gedanken zum Wesen des Zuhörens befruchtete. Also wenn sich jemand schon so oft und auf vielfältige Weise in unseren Sendungsthemen und Musikauswahlen bemerkbar gemacht hat – dann bitte auch sein erstes Soloalbum!

Justin Sullivan - Navigating by the StarsDoch einmal abgesehen von der reinen Vollständigkeit des lyrischen Kosmos gibt es ein paar weitere Gründe, weshalb wir Navigating by the Stars für höchst hörenswert erachten und es euch daher auch unbedingt ans Herz legen wollen. Ich zum Beispiel mag keine in die Jahre gekommenen Poseure, die wie ständig wiederauferstehende Folklorezombies eine einstmals eingeschlagene Stilrichtung zum Blödspaß und Kassengeklingel des Publikums bis zum Erbrechen wieder und wieder wiederholen. Das hört (und spürt) sich für mich an wie tagein tagaus das Immergleiche essen und dabei nicht einmal merken, dass es längst fad schmeckt. Justin Sullivan dagegen ist ein Künstler, dessen Gefühlswelt und Ausdrucksform sich seiner Lebenserfahrung gemäß verändert, ohne dass seine Person dabei nicht mehr zu erkennen wäre. Das ist durchaus etwas Erwähnenswertes in diesen Zeiten gestaltloser Beliebigkeit um des Geldes Marktes Erfolges willen. Ihn beschäftigen die Themen, die das Leben in seine Welt spült, mit zunehmendem Alter anders als früher und das hört man auch.

Schon auf früheren Alben von New Model Army finden sich einige ruhige, nach innen gekehrte Balladen, die von Endlichkeit und Verwandlung erzählen, wie zum Beispiel das zutiefst berührende “Marrakesh”. Oder das ganz stille Lied “Nothing Touches”, in dem eine zunehmende Gefühllosigkeit und das gleichzeitig vorhandene Bedürfnis nach unmittelbarer Berührung dargestellt werden. Jetzt zum Vergleich “Sentry” aus Navigating by the Stars, das die andauernde Ambivalenz von einerseits Sinnsuche und andererseits Zusammenhanglosigkeit in Gestalt des einsamen Soldaten zeigt:

I’ve seen so much more than I wanted to see
The flies all swarming round in the blistering heat
Layer upon layer here of the same old curse
The red blood draining until the blood red earth
In the end we tell the stories just the same
And only the names are changed

Dass wir mit diesen Gefühlen nicht am Grund des Abgrunds aufschlagen (und gibt es in der Bodenlosigkeit überhaupt so etwas), das vermittelt uns auf vielfältige Weise (im Text, in der Musik, in der Stimmung, im Arrangement) das in unseren Augen und Ohren Meisterstück dieses Albums “Green”. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Übergangs von einer Welt in die nächste, von einer Gefühlsbefindlichkeit in die Erweiterung derselben und von einem Bewusstseinszustand in einen anderen (um hier nur einige zu nennen). Nie war Fliegen beim Zuhören selbstverständlicher

Tonight again I′ll dream I’m walking across the room in the moonlight
I′ll throw the windows open wide
Smell the falling dew outside
I’ll climb out onto the roof
Close my eyes
And I’ll begin to fly

 

Leoparden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. Januar – Warum eröffne ich die heutige Sendung mit einem Joseph-Goebbels-Zitat? Wo es doch eigentlich um mein ganz persönliches Begleitwesen gehen soll – den Leoparden. Das hat viel mit dessen Vielgestaltigkeit in meinem Leben zu tun, taucht er oder sie (und manchmal sind es auch viele) doch oft als Beschützer, als Weggefährte, als Ideenspenderund als zutiefst beruhigende Erinnerung an meine Lebendigkeit auf. Meine ursprüngliche Wesensart, die jahrzehntelang unter traumatischen Verrenkungen verschüttet vor sich hin schwelte, in der zugemüllten Umgebung von Familienangehörigen, die durch ihren Glauben an den Nazischwachsinn geradezu lebensgefährlich waren für jedes lebenwollende Kind (wie ich eines war – und nach wie vor bin). So reimt sich das

Panther sind eben auch LeopardenDer Panther, den Rilke in seinem Gedicht so meisterlich beschreibt, ist übrigens ebenfalls ein Leopard. Das wusste ich mit ungefähr sieben Jahren noch nicht. Damals verliebte ich mich in einen der 3 Jungs aus der Comicserie Roy Tiger, nämlich Khamar, der mit seinem Begleittier Sheeta (einem schwarzen Panther) nicht nur irgendwie kommunizieren konnte, sondern von ihm sogar aus realen Gefahren gerettet wurde. Sowas wollte ich auch, und zwar dermaßen, dass ich mir von meiner Mutter zu Ostern nichts anderes wünschte, als eine Begegnung mit diesem Typen, egal ob in Salzburg oder in Indien. Ihre Antwort war niederschmetternd und versetzte mein Verständnis von Phantasie und Realität (und ihr sich wechselseitig bedingendes Verhältnis) für lange Zeit in einen unlösbaren Konflikt. Ich erhielt am Ostermorgen einen Brief von Khamar, allerdings in ihrer Handschrift, die ich sogleich erkannte. Das allein schon war eine Beleidigung.

Der Inhalt des Briefs jedoch zerstörte meine Welt. Mein Angebeteter teilte mir darin mit, dass ein Treffen mit mir unmöglich sei, und zwar mit folgender Begründung: “Mich gibt es nur in deiner Phantasie, nicht aber in der Wirklichkeit.” In der Handschrift meiner Mutter wohlgemerkt. Damals verließ ich sie innerlich für immer und kam auch später nur noch in manchen Bestandteilen wieder zu ihr zurück, soweit dies für mein Überleben eben notwendig war. Heute zerknurren mir meine Leoparden diese Angst, die mich so lang davon abgelenkt hat, mich selbst wieder als Ganzes zu erleben.

Was das jetzt wiederum mit Wolfgang Niedecken zu tun hat? Einmal abgesehen von den Leoparden-Assoziationen, die sein meisterliches Bob-Dylan-auf-Kölsch-Album “Leopardefell” bei mir hervorruft, ist er ein Bruder im Geist, was das Verbearbeiten von traumatischem “Nicht-mehr-miteinander-reden-können” oder “Einander-nicht-mehr-erreichen” anbelangt. In seiner Autobiographie “Für ’ne Moment” beschreibt er beeindruckend, wie schleichend das Schweigen zwischen ihm und seinem Vater ausbricht. Bei “Diskretion” aber beginnt jemand in mir erkennend zu schnuppern

Verdammp lang her   …   Den Text von BAP auf Kölsch und Hochdeutsch gibts hier.

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

Tarot Suite (Mike Batt & Friends)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JanuarDas neue Artariumjahr beginnt mit einem ganzen Album, nämlich ­“Tarot Suite” von Mike Batt & Friends. Und was für Friends da versammelt sind: Neben dem London Symphony Orchestra treten da etwa Rory Gallagher, Roger Chapman, Mel Collins und natürlich der Meister selbst (an den Keyboards) auf. Umso erstaunlicher, dass dieses grandiose Konzeptalbum aus dem Jahr 1979 in der Musikwelt weitgehend unbeachtet geblieben ist, was sich an diesem Artikel/Thread beispielhaft nachvollziehen lässt. Woran auch immer das liegen mag (wahrscheinlich ein sehr multifaktorielles Geschehen), wir erachten “Tarot Suite” für ein sträflich unterschätztes Meisterwerk der Musikgeschichte. Hier begegnen sich Klassik und Rockmusik in einer seltenen Synthese, gehen geradezu ineinander auf.

Mike Batt and Friends - Tarot SuiteDazu kommt noch die vielschichtige Konzeptarbeit, die jedes einzelne Musikstück mit mehreren Aspekten der “Großen Arkana” (Tarotkarten) verknüpft. Dies wurde im Artwork des Albums (wie zu jener Zeit nicht unüblich) hingebungsvoll erläutert – und stellt doch nur eine von vielen Ebenen der ganzen Geschichte dar (was bei der Komplexität der darin verhandelten Themen verständlich ist). Mir ist dieses epische Werk zu Beginn der 80er Jahre durch einen Zufall begegnet, als ich es nämlich  in einem Lokal hörte und sogleich davon fasziniert war. Es war “aufs erste Hinhören” so viel Verschiedenartiges auf einmal wahrzunehmen, dass ich mir diese im wahrsten Wortsinn symphonische Dichtung unbedingt besorgen musste, um sie einerseits allein und andrerseits mit kunstsinnigen Freunden gemeinsam wieder und wieder anzuhören, mir die vielen darin versteckten Geschichten sozusagen Schicht um Schicht zu erschließen. Das ging dann soweit, dass wir vier Unzertrennlichen eines Nachts in Begleitung dieses Soundtracks für Seelenreisende rundum illuminiert ins Steinerne Theater pilgerten.

Gerade im Salzburg der 70er Jahre, wo der scheinbar für alle Zeiten einbalsamierte karajanoide Kanon das einzig wahre und ewiggültige Kunstverständnis nachgerade flächendeckend (bis in unsere Herzen und Hirne) verbreitete und es mit Zähnen und Klauen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigtegerade in dem Kontext war symphonische Musik, die zum Beispiel völlig selbstverständlich eine E-Gitarre als Soloinstrument im Orchester verwendete, schon eine ordentliche Offenbarung. Und dann erst der Inhalt: Eine Erzählung für eine emanzipatorischen Entwicklung.

Vieles davon wird in dem rockigen Titel “Imbecile” erkennbar, der die Tarotkarten des Narren sowie des Magiers zu einem Zwiegespräch versammelt, das an seinem Ende in ein friedvolles Verständnis des jeweils Anderen übergeht und so eine Perspektive des Wandels erzeugt. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verwandelt sich in ein Wir. Das, was uns – in allem was uns trennt – gemein ist, tritt als das hervor, was wir gemeinsam sind. Diese letzte Strophe – meisterlich dargeboten von Roger Chapman – soll uns hier textlich auf die inhaltlichen Ebenen einstimmen:

 

“We both are right”, said the sorcerer
“And both of us are wrong
For though we walk this road we don’t know where it leads
We only know it’s long

You have something to learn from me
And I can learn from you
You with your jokes and simple plans
And me with my tricks and sleight of hands
Together we could get through

Imbeciles, we are dancing down a darkened road
Though the stars are out, not one of us knows the way
Imbeciles up ahead of us and millions more behind
And we’re laughing and smiling
That’s why I say we’re all of us Imbeciles”

 

Karajan wouldn’t have liked it.

 

תיקון עולם

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. DezemberTikun Olam, was etwa soviel bedeutet wie “die Welt reparieren”, ist mein neuer Lieblingsbegriff. Und weil er aus der jüdischen Kultur kommt, ist das auch die Gelegenheit, einen Titel in hebräischer Schrift zu verwenden. Dies allerdings liksbündig:                                           תיקון עולם    Und ab da wirds anspruchsvoll. Wir reparieren uns eine Welt oder Wilkommen beim Gehirnhälftentraining. Der Begriff Tikun Olam vermittelt nämlich ein weites Spektrum an Bedeutungen, und da sollte man schon selbst ein bisserl auf die Suche gehenWir verdichten das, was wir dabei empfinden, in ein nach vielen Seiten mögliches Jahresmotto, mit dem wir zudem noch ein Statement zum Wert des Judentums für unsere eigene Kulturwahrnehmung verknüpfen. Womöglich auch eine Geschichte.

תיקון עולם (Tikkun Olam)Als ich 10 Jahre alt war, lebte ich eine Zeit lang in den USA und besuchte dort auch die Schule sowie in den Ferien das übliche Summercamp. Eines Tages betraten einige Mitkinder, die sich zu einer Art “Gang” zusammengeballt hatten, unsere Hütte, beschimpften mich als “Kraut” oder eben “Scheißnazi” und wollten mir in den Koffer brunzen. Denen stellte sich David, ein kleiner jüdischer Bub, entgegen. Und indem er sagte, dass ich sein Freund sei und er mich beschützen würde, stellten sich immer mehr andere Kids mit ihm auf meine Seite, so dass die Möchtegernmobster schließlich kleinlaut wieder abgehaut sind. Versteht ihr? Der kleine David hat mir die Welt repariert. Und diese Lichtgeschichte ist mehr als nur eine Randnotiz. Sie ist das Evangelium schlechthin (wenn wir einen Begriff wie “Gute Neuigkeit” wirklich erfassen und jeden Menschen als möglichen Erlöser – für sich selbst wie auch für andere – verstehen wollen). Und das tun wir. Weihnachten hin, Wintersonnwend her. Die Ironie der Geschichte oder der diese Geschichte erst so richtig abrundende Treppenwitz des Universums ist ja, dass ich erst 50 Jahre später die Naziverstrickungen meiner Vorfahren entdeckte. Und genau da taucht dieses תיקון עולם als ein übergreifendes Lebensmotto wieder auf.

Apropos Weihnachten, wie habt ihr das diesmal so erlebt? Schön schrecklich oder eher schrecklich schön? Mich quält ja gerade zu dieser Jahreszeit der inflationäre Gebrauch von Weihnachtsklischees für die vorgebliche “Normalbevölkerung” im Fernsehprogramm. Weihnachtsbezogene “Unterhaltung für die ganze Familie” ist für mich, bei allem Verständnis für die Lebenssituation einzelner Menschen, eine fortwährende Beleidigung meines Geistes. Und da hat mir heuer – mittendrin – der löbliche Fernsehsender arte “die Welt repariert”. Mit dem Film “Der Schneeleopard”.

In diesem Sinn wünschen wir es uns allen.                                              תיקון עולם