Erster Mai – Vorbei?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. April“Es rettet uns kein höh’res Wesen, kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!” So dichtete Eugène Pottier in den Tagen der Pariser Commune 1871 den Text jenes Liedes, das wir inzwischen als “Die Internationale” kennen und das bis heute speziell zum 1. Mai von ganz verschiedenen sozialistischen und kommunistischen Gruppen inbrünstig nachgesungen wird. Doch war da nicht auch noch irgendwas mit Anarchie – zu Anbeginn dessen, was sich inzwischen so alles Arbeiter_innenbewegung nennt? Eine unlängst auf arte ausgestrahlte 2-teilige Doku über die Ideengeschichte des Anarchismus erzählt unter anderem von der Entstehung des 1. Mai als “Kampftag” – und zwar unter dem Titel “Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie”

anarchie in germoney backDeren 1. Teil (1840 – 1912) sowie ebenso 2. Teil (1912 – 1937) wären, wenn nicht alldahier, dann zumeist sonstwo im Internet zu finden. Ein schmerzlich vermisster 3. Teil (nach 1945) wurde zwar schon geplant, die Finanzierungszusagen seitens der beteiligten Sender sind aber bisher noch ausgeblieben. Dabei würde uns gerade der ebenso interessieren wie betreffen! In dem müsste es nämlich auch um den GRÖPHAS gehen, den Oberndorfer Anarchisten und größten Philosophen aus Salzburg Leopold Kohr, Vordenker des “Europa der Regionen”, Nährvater der Slow-Food-Bewegung und Herausgeber solch schöner, wahrer und auch guter Sätze wie “Small is beautiful”. Für ihn war die Entfernung von Oberndorf nach Salzburg der Maßstab des Reisens und zugleich die maximale Ausdehnung für ein gerade noch menschlich verkraftbares Gemeinwesen. Als so ein Fußgänger des Geistes wird man schon auch fragen, ob es bei entsprechender Kleinräumigkeit des Bankwesen und der Wirtschaft überhaupt zu ökonomischen Krisen käme, vor denen uns jede “Obrigkeit” gern erstarren macht wie die Kaninchen vor der Schlange. Oder anders gesagt – Stille Nacht lässt sich allemal imageträchtiger verhupfdudeln (sprich verkaufen) als – in diesem Fall – Stille Macht!

anarchie in germoney ganz

Zur Stimmung empfehlen wir “Die Internationale – illustriert von Gerhard Seyfried”

und zur Bestandsaufnahme der Gegenwart “Un Monde formidable – von ACHAB”

 

Ostereieralbum (Hidden Tracks)

> Sendung: Osterartarium vom Sonntag, 16. April – “Die Eier verstecken, wozu soll das gut sein? Und wie soll das überhaupt gehen?” Des Hasen Wunderhirn weiß auch diesfalls eine Fährte zu legen: Wir basteln uns ein Ostereieralbum aus verschiedenen Fundstücken, allgemein “Hidden Tracks” genannt, die einem beim Durchhören des originalen Tonträgers zumeist überfallsartig ins Ohrwerk geraten. Die Eier sind also von vornherein verborgen, nunmehr gilt es, sie widmungsgemäß wieder zu finden. *Kicher* Doch abgesehen von so eingängigen Osterassoziationen wie Anmalen und Ausblasen steckt hinter der Idee jedweden Versteckspiels ein tieferer Sinn, nämlich unsere Sinne für oft nur scheinbar Verborgenes zu schärfen. Die Kunstwelt steckt sowieso immer voll von derlei Andeutung und Verspieltheit. Im Namen des Hasen!

Arcimboldo zum Ostereieralbum“Every day we walk amongst things that are hidden – concealed from our immediate sensory perception. Things that nestle just along our peripheral edge like a distant buoy floating on the horizon. As human beings, we walk through our days bombarded by stimuli of all natures; our eyes, ears, noses, and mouths do all they can to give us an idea of just what is surrounding us, but a good deal gets lost in translation. So much of this missed detail is not our fault, rather an unavoidable consequence of having more to do than sit in silent absorbance of our environment. And thus, things become hidden. Sometimes putting a spotlight on these minute parts can add depth to our appreciation of the whole. Assuming the role of proverbial spotlight, we decided to comb through the hidden tracks from some Albums…”

Die inhaltliche Einführung dieses Artikels ist schon mal nicht verkehrt, wiewohl uns die Auswahl der Referenzwerke in diesem Artikel hier attraktiver erscheint. So fest steht jedenfalls viel, ähm, soviel steht jedenfalls fest, mein ich latürnich, dass wir (fast) keinen einzigen der da vorgebeteten Titel in unserem Ostereieralbum nachhupfen werden. Außer naturgemäß “Her Majesty” von den Beatles, das als einer der ersten Hidden Tracks der Pop-History gilt (schöner klugscheißen mit Wikipedia). Darüber hinaus ließen sich noch jede Menge eigener Ideen weiter entwickeln, wie etwa das Verstecken eines Gedichts in einem Gedichtband. Viel Spaß beim Eiersuchen und so…

 

Artariumgeburtstag! 10 Jahre!

> Sendung: Artarium am Sonntag, 19. MärzAm 11. März vor 10 Jahren ging Peter.W. mit der ersten Ausgabe einer Kunst- und Kultursendung namens Artarium Live On Air. Und sogleich rief ein verstörter Zuhörer an und brachte alle Beteiligten durcheinander, weil er sich zu der Stunde etwas anderes erwartet hatte. Und Peter entgegnete: “Ich kann nichts dafür, beim besten Willen nicht.” Sehr schön geantwortet! Genau 69 Jahre vorher (also auch an einem 11. März) hat ja schon mal einer dauernd angerufen und alle Beteiligten durcheinander gebracht, zwar nicht in der Radiofabrik, sondern in der Republik, und die Folgen waren auch viel gravierender, siehe Anschluss Österreichs. Wir werden uns in historischen Tonaufnahmen ergehen und so diesen Artariumgeburtstag gebührend würdigen. Lobende Worte spricht Angela Merkel

ArtariumgeburtstagArtarium, das etwas andere Kunnst-Biotop im Schatten der Mozartkugel. Wer hätte denn 2007, als ich zur Sendung stieß, gedacht, dass sich ein Satz von den Böhsen Onkelz aus unserer späteren Signation als so hartnäckig prophetisch erweisen würde: “Wir ham noch lange nicht, noch lange nicht genug!” Aber so ist es wohl nach wie vor. “Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen sie die Packungsbeilage und fragen sie ihren Arzt oder Apotheker.” Und auch wenn das Artarium inzwischen nicht mehr aus Peter, mir und den Buben besteht, sondern seit 2011 aus Chrissobert Schmallnigg, der Festspielpräsidentin sowie den Hasen (also der heiligen Dreifaltigkeit vom Chriss und mir), so gilt doch stets: “Wir sind ein geiles Institut.” Soviel erstmal. Und zum Artariumgeburtstag beleuchten wir gemeinsam mit Peter.W. die Geschichte dieser Sendung, um den roten Faden der Kreativität in ihr sichtbar zu machen. Von ihren Anfängen über die Nachtfahrt-Perlentaucher bis ins Hier und Jetzt. Freut euch also auf spontan-assoziative Beiträge aus dem Schöpfwerk unserer Selbst. Oder wie sagte schon Bernd Begemann anlässlich von Freddy Quinn: “Am besten, man imitiert schwule schwarze Künstler.”

PS. Verwirrt? Verstört? Verlesen? Kunnst dich auch gern orientieren in unserem Radiofabrik-Sendungsprofil (mit Photostream!) oder in diesem Hör-Kunnst-Biotop

 

Mir ist der Falco Wurst

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. FebruarMehrdeutiges in der Kunstfigur oder Image essen Seele auf. Vom Pferdefuß der Popkultur sowie einer möglichen Vermeidung, sich selbst damit unsterblich tot zu treten. Bereits am Beispiel eines Sendungstitels lassen sich die Potenziale des Ungefähren aufzeigen. Ob einem etwas oder jemand wurst ist (und was genau bedeutet “is ma wuascht” im diesem Fall?) oder ob damit nicht doch Conchita gemeint sein könnte (immerhin eine weitere “Kunstfigur”), und wie sich eine Bedeutung nach der anderen ins Mehrdeutige eindeuten lässt – davon handelt unser Ausflug ins Unbewussteunter anderem. Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei. Oder doch nicht? Der Markt der Möglichkeiten” ist womöglich ja ganz was anderes als “die totale Vermarktung” jeder künstlerischen Selbstaussage!

santa conchita wurstWir zwei Hasen bewahrheiten hier wieder einmal einen Untertitel der Sendereihe, indem wir Brücken schlagen “zwischen Genres und Generationen”. Während meine Kleinigkeit den Hans Hölzel noch persönlich angetroffen hat im Wien der 1980er, kam unser dichtender Junghase just im Jahr von Falcos legendärem Donauinselkonzert auf die Welt (die nicht wenigen bloß die Bretter bedeutet, in denen sie dann vor sich hin bohren). Woraus sich schlussfolgern lässt, dass an einem von uns das Gesamtwerk der Kunstperson Falco quasi “vorbeigegangen” ist, ohne gröberen Eindruck zu verursachen. Was wohl auch an der kommerzversessenen Musik von damals liegt, die selbst ich für inzwischen nur noch schwer vermittelbar halte. Anders hingegen beim textlichen Nachlass vom Herrn Falcohölzel, den etwa Rudi Dolezals neurecycelte Dokumentation “Falco der Poet” formschön aufbereitet. Das ringelreihernde Leichenfleddern und Posthumverramschen wurde “anlässlich seines 60. Geburtstags” wie gewohnt bis zum Überdruss auf allen Kanälen gepflogen, was uns unweigerlich zur Entdeckung des Monats führt: Tom Neuwirth, der Mann hinter (oder auch in) Conchita Wurst, kündigte unlängst in einem Interview an, er werde die von ihm erschaffene (und gelebte) Kunstfigur “umbringen”. Das ist doch eine Idee

Ich bin es
und ich bin es nicht
geblendet vom grellen
Scheinwerferlicht
seh ich mich selber nicht

 

Ginsberg und Gainsbourg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. Februar – Warum diese beiden Personen? Wegen der Namensähnlichkeit? Weil Allen Ginsberg und Serge Gainsbourg beide in den 1920er Jahren zur Welt kamen und in den 1990ern starben? Weil sie in ihrem Werk jeweils Grenzen überschritten, Tabus brachen und somit Skandale auslösten? Ach, wie leicht ging das noch in den 50ern und 60ern, nur mit etwas Geheul und Gestöhn brachte man ganze Gerichtssäle zum Zähneknirschen. Doch geht es uns wirklich bloß darum, dass der eine homosexuelle Ausdrücke in die amerikanische Dichtung brachte, der andere das Kindfrau-Musentum und sogar Inzest in die französische Popmusik? Wer uns ein wenig kennt, weiß: Die bloße Empörung ist unsere Story nicht. Denn wir sind nicht von Auflagen abhängig – und können somit unter der Oberfläche stöbern.

Allen Ginsberg HowlDer Künstler schöpft in seiner Phantasie immer auch aus all dem, was er ringsum an der Realität der Gesellschaft aufs gröbste vermisst. Daraus entwirft er Anstöße, wie sich etwa Brücken bauen ließen über die Schlucht der Verzweiflung an Anspruch und Wirklichkeit, oder über den Abgrund zwischen Idee und Gestalt hinweg zum Ganzen. Uns interessiert, wie sich die Arbeit dieser Avantgardisten, Pioniere wie Propheten, im Lauf der Zeit weiter entwickelt hat, im Spiegel anderer Interpret_innen – oder auch in uns selbst. Was vermittelt uns die vortreffliche Verfilmung von Howl – Das Geheul (ausführlicher Trailer auf Deutsch) nebst dem bizarren Gerichtsspektakel rund um dessen angebliche “Obszönität” heute, wo der Wutbürgermeister im Weißen Haus angekommen ist und von dort die Verbreitung des schlechten Geschmacks als sein Programm propagiert? Was wäre Ginsberg dazu eingefallen? Oder Gainsbourg? Von einer heftigen posthumen Rotation dieser beiden ist jedenfalls auszugehen. (Sie drehen sich sozusagen gröber im Grab um). Patti Smith hingegen nicht, genausowenig wie Asia Argento, Brian Molko, The Young Gods oder auch ….. “Verdammt, wir leben noch!”

 

Knotzen und rumspielen

> Sendung: Artarium am Sonntag, 8. Januar – Wir gehen das neue Jahr genauso gemütlich an wie zwei irgendwelche Buben, die am letzten Tag der Weihnachtsferien gemeinsam herum knotzen und mit all ihren Neuentdeckungen vor sich hin spielen. Wie ließe sich dieser Tag auch besser verbringen als mit seinem besten Freund, dem man schon längst alles erzählen will, was einem über die Feiertage widerfahren ist? Und so packen wir eins nach dem anderen aus und zeigen einander, was uns in der Zwischenzeit mit uns allein belebt und bewegt hat, ganz in der Art einer klassischen Weihnachtsgeschenkevorführung, nach dem Motto: “Schau amoi, wos i do hob”. Naturgemäß zelebrieren wir dieses Beinondasein in vertrauter Stimmung vor allem mit jenen Fundstückerln, die sich zur hörbaren Zubereitung im Radioraum eignen.

Ganz abgesehen davon, dass der schöne Begriff Knotzen in unseren Breiten dem breiteren Publikum nur in einer viel schmäleren Bedeutung geläufig sein dürfte, als sich etwa im Wienerischen aus ihm herausholen ließe. So wollen wir durchaus auch dem Volkstum mal wieder auf seine Gedankensprünge helfen – und im Zuge des uns selbst verliehenen Bildungsauftrags einige zusätzliche Assoziationen anbieten. Knotzen ist eben ein wunderbares Wort für alle nur möglichen Gelegenheiten, Jahreszeiten.und sonstigen Zustände. Zur Einstimmung im Einzelnen: Schleim knotzt oft hartnäckig in den Atemwegen, wie sich auch Suchtstoffe im Leben von Menschen festsetzen können. Man kann sich in die Heidelbeeren knotzen, wenn einem das Fanatentum ringsumher zuviel wird. Oder auf eine Bank in der Höllensauna, wenn einen der Teufel nicht mehr hinaus lässt. Reinhold Messner zum Beispiel knotzt vorzugsweise in den Bergen herum, Hasen inzwischen sogar auch in der Stadt – und die Sonne sowieso am Himmel. Weshalb sich allerdings die fidelen Landräuber stets genau dort festfressen, wo die schönsten Schätze im Boden knotzen, dazu hören wir am besten Buffy Sainte-Marie – und/oder machen uns selbst einen Reim drauf

 

Das etwas andere R.E.M. Biotop

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. Dezember R.E.M. waren eine wichtige Band, soviel steht allgemein fest. Doch warum eigentlich? Weil sie international erfolgreich waren und dabei eine Unmenge an Tonträgern verkauft haben? Geh bitte, wir sind ja nicht vom Förderverein der Entertainment-Industrie! Vielleicht, weil sie dem zuvor eher randständigenen Genre des Alternative-Rock zu weitreichender Popularität verhalfen – und dadurch auch das Erstarken der Independent-Musikproduktion mit anschoben? Das geht unseres Erachtens schon mehr in die richtige Richtung, denn wie heißt es in Justin Sullivans Nachruf auf John Peel (BBC), den Hervorzauberer sogar noch des Entlegensten an klanglicher Inspiration: “Music is music and the cult of celebrity is something totally irrelevant to it (or to anything else).” – Unterschreiben wir sofort!

r-e-m-michael-stipeSo ist es wohl in der Hauptsache die zum Mitgestalten einladende Haltung, wie sie besonders vom nimmermüden Multikünstler und Hansdampf in allen möglichen Grassroots-Aktivismen, R.E.M. Sänger Michael Stipe, verkörpert ward, die den feinen Unterschied ausmacht zwischen bloßem Erfolg und wirklicher Bedeutung für die Gefühlswelt originärer Menschen. Wir sind ihm über die Jahre nicht nur als Frontman einer in diesem Sinne wichtigen Band begegnet, sondern eben auch als Filmproduzent des Glam-Rock-Spektakels Velvet Goldmine (Trailer), als Leonard-Cohen-Interpret (First we take Manhattan), als Gesangspartner von Patti Smith (E-Bow the Letter, LIVE) oder von Dashboard Confessional (Hands Down, LIVE), um hier nur ein paar Beispiele zu nennen. Und passend zum Adventsonntag basteln wir uns eine sehr persönliche Best-Of-Auswahl von R.E.M. Songs (in chronologischer Abfolge) aus diesen Studio-Alben: Document, Green, Out of Time, Automatic for the People, Around the Sun, Accelerate sowie Collapse into Now. Den Schlusssegen hierzu spricht Bruder Justin von New Model Army (und der stammt ebenfalls aus dem eingangs erwähnten Nachruf auf John Peel):

“There would always be something that you’d never heard before, a sound, a song, a riff or a beat that would set off all kinds of creative ideas. And … RADIO is and always will be a more powerful medium than television because it allows the imagination of the listener to flourish.”

 

Wir sind das Letzte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20.November It’s the end of the World as we know it heißt ein legendärer R.E.M. Song, der sogar zur stehenden Redewendung geworden ist. Der aktuelle Spiegel übersetzt diesen Satz für sein Titelbild (mit einem auf die Erde zurasenden Trumpeoriten) völlig dudenkorrekt als: “Das Ende der Welt wie wir sie kennen”. Und Michael Stipe protestiert gegen die fallweise Zerwendung seines 30 Jahre alten R.E.M.-Hits durch Donald, den haltlosen Zitateklaubauf. Ach, wie schön ist doch der Weltuntergang, und wenn er das Letzte ist, was wir erbeben! Rings um uns die Sintflut und dazu längst mitten in uns drin. “Wohlfeil Gegrusel”, sprach die Untenhaltungsindustrie, und schiss eine apokalyptische Dystopie nach der nächsten ins Kollektivbewusstsein des Konsumkasperltheaters – wars das?

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(Foto von Holger Scholl) WILFRIED SCHMICKLER

“Hier aber krankt der vermeintlich gesunde Menschenverstand”, vermerkt der gestandene Politkabarettist Wilfried Schmickler im kurzen Pressetext zu seinem aktuellen Programm Das Letzte, und fährt wie folgt fort: “Denn das Letzte kommt kurz vor dem Ende. Doch ein Ende ist nirgends in Sicht. Es hört einfach nicht auf. Das letze Gefecht war nur der Vorkampf, das letzte Wort nur der Auftakt für die nächste Jahrhundert-Rede und die letzte Sau nur die Vorhut der Herde, die gleich danach durchs globale Dorf getrieben wird.”

Wenn das kein Grund ist, sich zwischen den Präsidentenwahlen mit erregter Gelassenheit zu imprägnieren, dann sind es womöglich die erstaunlich gut produzierten Blues-Nummern mit abgründigen Texten wie: Der kleine Mann und seine kleine Frau. Irgendwie muss ich bei solchen Arrangements geradezu an Element Of Crime denken und mich befällt dabei die Frage, warum Robert Rodriguez die noch nie gecastet hat (so wie die aus- und dreinschauen). Doch ich schweife ab. Nichtsdestoweniger ist Bruder Wilfried ein wortgewaltiger Rheinländer, der hypnotisch zuhören macht, sofern man sich diesseits der Debilität noch Sinn und Verstand zu erhoffen wagt. Und auch das lustvolle Kritisieren (ursprünglich ja “unterscheiden”) zugleich auf politische Entwicklungen und auf den Leipziger Buchpreis angewandt haben will: “Der Giersch, ein schier unausrottbares Unkraut, ich nenn ihn immer den Nazi unter den Doldenblütlern…”

 

Heather Nova – Redbird

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Als Gegenpol zur schwelenden Herbstschwermut entführen wir uns heute in die lichtdurchfluteten Bermudas. Das Album Redbird von Heather Nova vereint in sich so viele Gefühlsnuancen und Stilrichtungen wie das bisherige Lebenswerk der Dichterin, Malerin, Komponistin und Sängerin sonst auch. Dabei ist es stimmig, rund und ausgewogen, wohl das am meisten “wie aus einem Guss” wirkende Studioalbum der Künstlerin. Das hat auch sehr viel mit der Geburt ihres Sohnes Sebastian während der Entstehung der Songs und Arrangements zu tun. “Ich war das Verwundbarste und zugleich das Stärkste, das ich je gewesen bin.” So beschreibt sie ihren Seinszustand beim Songschreiben, wie es die nachfolgende Interviewpassage (auf Englisch halt) wiedergibt:

redbird“It was probably the most difficult album I have ever made because for the first time I had something else besides music (my baby) taking up my time and attention. So instead of having endless days with nothing to do but write, I had 2–3 hours on a good day. And that meant focusing in and working very intensely in a way I hadn’t done before. It was a challenge, but at the same time I was incredibly inspired to write for this album. I had just had a life-altering experience! I felt like my heart had been blown wide open and I was the most vulnerable and yet the strongest I had ever been…”

Insbesondere der dritte Track “Motherland” (den wir in unseren Sendungen ja schon des öfteren verwendet haben) offenbart eine gefühlsambivalente Grundhaltung, die etwas vom Gesündesten darstellt, das in der Popmusik je über die Beziehung von Müttern zu ihren Kleinkindern ausgesagt wurde: Das Heilsame und Kraftvolle dabei ist das erstaunliche Gleichgewicht von zwei gleichzeitig spürbaren Impulsen – sowohl zum Beschützen als auch zum Freilassen. Und wie in diesem Lied verbinden sich Freude UND Schmerz auf dem Album Redbird (und auch im gesamten Schaffen der schönen Frau mit der schönen Stimme) zu einer ganzheitlichen Gefühlswelt, die dem Frieden in der Seele merkbar auf die Sprünge hilft. Dieses Album ist gute Medizin, sagte der Hund, bevor er schließlich noch die Refrainzeilen aus “Motherland” hinzufügte:

The waves roll in, I help you swim
You take my hand
And through the years and through the fears
I’ll be your rock, the motherland

 

Grauen mit Niveau

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. Oktober – Rechtzeitig zu den allseits beliebten Allerheiligen-Vorbräuchen wie etwa Samhain oder Halloween versorgen wir euch und uns selbst mit stilbildendem Grauen aus den Konserven der Klassiker dieses Fachs. Ihr müsst euch jedoch, wie bei einem realen (?) Horrortrip, davon überraschen lassen, was da auf euch zukommt. Denn wenn man schon vorher weiß, wovor man sich fürchten wird, gruselts nicht mal mehr halb so gut. Gepflegtes Grauen verhält sich zu marktüblichem Genredreck in etwa so wie ein schöner Rotwein zu industriellem Alkopop. Apropos Massengeschmack (diese künstliche Gleichgult aus messbarer Vielzucht), unser An- und Zuspruch des Schaurigen ist so schön, dass es uns sehr gehoben grausen wird. Wir verraten aber (verdammt!) nicht um die Burg, in welche Schluchten des Seins wir uns stürzen.

der-schreiNur soviel sei vorab noch gesagt: In Zeiten wie diesen, in denen die selbsternannten Abendlandretter von der suffschwangeren Heimatfront allein die mögliche Verdrängung “unseres” Schokoladeweihnachtsmanns durch religionsneutrale Zipfelmänner als Angriff auf irgendein Christentum abwehren wollen, da werden die Psychopharmaka bald knapp und die Therapeut_innen der Reihe nach verzweifeln. Doch bevor wir alle vor Lachen aus dem Fenster fallen, lasst uns einer wirklichen Kunstgeschichte Gehör verschaffen, die nicht zwecks der Kundschaft vom Coca-Cola-Marketing erfunden ist. Konsumismus, grauslicher!

In diesem Sinn auch unser Hinweis zur sicheren Anwendung: Eine Stunde lang mit offenen Ohren gut zu hören und unbedingt der Phantasie freien Lauf lassen. So kann das Grauen seine heilsame Wirkung voll entfalten. Bei riesigen Nebenwirkungen rauchen sie die Packungsbeilage, schlagen sie ihren Abt – oder werden sie einfach selbst Apotheker!