Schöner sterben

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. NovemberZwischen Allerseelen und Totensonntag, während sich die Natur um uns her in den großen Winterschlaf hüllt, steigt die Ahnung der Endlichkeit aus den Nebeln des Nichtwissenwollens. Und sie macht sich bewusst bemerkbar: Wir werden alle sterben, soviel steht fest. Fragt sich nur, wie … Schon seit der Antike verfolgten Philosophen die Frage nach einem guten Tod auf höchst unterschiedliche Weise, und manche kamen dabei zu der Ansicht, der beste Tod sei ein plötzlicher – der einen unerwartet und jäh aus dem Leben reißt. Schwuppdiwupp sozusagen. Die Vorstellung hat durchaus etwas sympathisches, wie einige unserer Geschichten zeigen werden. Sterben als ein Hoppala sozusagen – ausrutschen, hinfallen, tot sein. “Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.”

Schöner sterbenSo etwa ist Thomas Bernhard immer wieder zitiert worden. Und er ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich das alltägliche Innesein des eigenen Todes im Leben auswirken kann. Es interessiert uns nämlich, wie eine Kultur des selbstverständlichen Miteinbeziehens von Sterblichkeit und Tod in all das, was wir als “unser Leben” begreifen, gelingen könnte. Denn zur Zeit “leben” wir in einer Kultur der größtmöglichen Trennung von Leben und Sterben. Der Tod wurde aus unserem Leben verbannt und findet nur noch hinter Mauern und Zäunen, in Krankenhäusern, im Hospiz oder auf dem Friedhof statt. Demnächst wird er einen Antrag stellen müssen, wenn er in unser Bewusstsein einreisen und uns begegnen möchte. Hallo? Der Tod ist doch von vorn herein Teil unseres Lebens oder haben wir das völlig falsch verstanden? “Mein Herz schlägt mich innerlich tot” singt das trojanische Pferd und fängt auch schon an, in genau dem Rhythmus zu tanzen, der das Leben bewirkt und zugleich das Sterben einzählt. Wir stellen den Kontrast von Licht und Schatten wieder her – in einer kleinen Collage aus plötzlichen Abgängen und jüdischem Humor. Wenn zwei verschiedene Dimensionen einander unerwartet begegnen, dann ist es ein Witz.

Wie etwa der gar nicht unspektakuläre und nichtsdestoweniger tragische Abgang von René Goscinny, der bei einer kardiologischen Untersuchung einen Herzinfarkt hatte und dabei quasi tot vom Ergometer fiel. Eine für einen jüdischen Humoristen nicht unwitzige Schlusspointe. Die Kultreihe Asterix war jedoch nach Ansicht einiger Zeitgenossen danach nie mehr so witzig, so dicht und so prophetisch wie zu seinen Lebzeiten. Uns bleiben seine genialen Einfälle: “Ich hab nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier.”

Ich bin Spartacus

 

Steve Howe – Beginnings

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. November – Wir spielen heute das Album “Beginnings” von Steve Howe, das er 1975 nach mehrjährigem Mitwirken bei Yes als sein erstes Soloalbum herausgebracht hat. Und zwar, wie das in unserer Reihe “Das ganze Album” üblich ist, ohne jedwede Unterbrechung. Dabei enthalten wir uns zudem sämtlicher seit den 70er Jahren herumgeisternder Gscheitscheißereien, die das hier zu hörende Klangwerk in irgendwelche Kasterln und Kategorien einsortieren. Sondern vertrauen darauf, dass unser unsichtbares Publikum genauso eigenartig ist wie wir uns das wünschen – ein etwas anderes KUNNSTbiotop. Erinnern wir uns an das legendäre “And You And I” vom Montreux Jazz Festival 2003, seit dem wir den virtuos klangmalenden Gitarristen mit dem Beinamen Mäusegroßvater” versehen.

Steve Howe BeginningsWenn es darum geht, Eindrücke aus “anderen Welten” wiederzugeben, die sich uns oft nur in sehr speziellen Seinszuständen zeigen, dann reicht es nicht, Sprachmechaniker oder Instrumentenwettbewerbsfudler zu sein. Dann ist es unerheblich, ob wer ein Doktorat, ein Diplom oder was auch immer besitzt, allgemein anerkannt ist als dies oder jenes, berühmt ist, erfolg- oder einfach nur reich. Dann stehen wir alle vor dem Ungesagten, dem “noch nie zum Ausdruck gebrachten” und vor der unentrinnbaren Aufgabe, dem, was wir da erleben, doch irgendwie Ausdruck zu verleihen. Und da tut es gut, wenn wir anderen Seinsreisenden und ihren diesbezüglichen Versuchen begegnen, uns von ihnen und ihren Erfahrungen inspirieren lassen, auch aus dem Fundus ihrer Gestaltungsformen die eine oder andere Anleihe für unsere eigenen Schöpfungen nehmen können. Kurz gesagt, wenn wir aus dem, wie sie die Welt beschrieben haben, Anregungen für unsere eigene Darstellung beziehen. Auf dieser Ebene funktioniert “Beginnings” als reichhaltiges Bergwerk der Beispiele – nicht nur für Gitarristen

Are we up, are we down?
Twirling round and round
Spectral spaces found
Leaves enjoy their Autumn
Do you like the fall?
Suppose yourself above it all
In our self-made worlds

Steve Howe – Lost Symphony

PS. Wunderbar auch dieses akustische Solo (Live in Montreux 2003)

 

Die Verwandlung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. Oktober“Und du meinst, das geht?”, fragte ich. “Wenn wirs probieren. Michael Köhlmeiers Kater Matou entdeckt seine eigene Verwandlung in einen Leoparden. Sein gesamtes viertes Leben wird er auch als Beschützer eines verstümmelten Mädchens in der belgischen Kolonie Kongo zubringen – und fürchterliche Rache an den Gräueltätern nehmen. Das macht ihn mir überaus sympathisch. Doch haben nur Katzen mehrere Leben? Oder vermögen auch wir zwischen verschiedenen Zuständen zu wechseln? Was versteckt sich hinter so banal anmutenden Aussprüchen wie “Heut fängt für mich ein neues Leben an” nicht alles an uraltem Menschheitswissen über unsere Verwandlungsfähigkeit? Es sind die fast unmerklichen Übergänge vom einen in das andere, die es zu beschützen gilt.

Die VerwandlungUnd die Menschen, die sich auf die Reise machen – in ein neues Land, das immer schon da war, aber eben auch erst betreten werden möchte. Dazu habe ich noch einen Dichter wieder hervor gekramt, mit dem ich diesen persönlichen Reisesegen für meine Weggefährten gestalte: Christoph Ransmayr. Ich bin ihm einst bei den legendären Festln in der Porzellangasse begegnet und er hat sich inzwischen als ein versierter Reisender durch verschiedenste Weiten, Untiefen, Finsternisse und Wiederauferstehungen erwiesen. Ganz besonders aber als einfühlsamer Schilderer von unerwarteten Aggregatzuständen menschlicher Veränderung, ja Verwandlung. Und das ist für die heutige Sendung von Bedeutung. Eines der letzten Bücher, das mir meine Cousine Elke kurz vor ihrem Tod geschenkt hat, war seine 2007 erschienene Bildergeschichte “Damen & Herren unter Wasser”, eine ebenso schräge wie lebenskluge Betrachtung aus dem etwas anderen Element.

Wenn sich etwa Menschen mitsamt ihren Erinnerungen an ihr einstiges Leben auf einmal in Gestalt von Meeresbewohnern wiederfinden und wie sie ihr neues Dasein in der Unterwasserwelt individuell einrichten – das ist die hohe Kunst der Phantasie. Der Mandelbaum Verlag hat diesen wunderbaren Text in seiner Bibliothek der Töne als “Klangbuch” herausgebracht, gelesen vom Autor und musikweltumschlungen vom großartigen Experimentalmusiker Franz Hautzinger. Der schreibt selbst auch Gedichte (und dieses passt perfekt zum heutigen Thema): “Über.das.präzise.Spiel.”

Gleich ist Gleich.
Ähnlich ist Ähnlich.
Gleich ist Ähnlich.

Ähnlich ist nicht Gleich.
Ähnlich ist nicht unbedingt Ähnlich.
Gleich ist nicht unbedingt Gleich.

Gleich ist nicht Gleich.
Gleich ist nicht unbedingt Ähnlich.
Gleich ist nicht unbedingt Ähnlich.

 

Leinen los

 

Opulenzfrequenz

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Oktober – Die Idee zur Beschäftigung mit dem Thema “Opulenz“ kam unlängst vom Hasen – und ich will gar nicht behaupten, dass ich verstanden habe, was da alles dahintersteckt. Auf jeden Fall hat ihn dieses glamourös-kritische Video von ContraPoints dazu angeregt (das übrigens keine deutschen Untertitel hat, ja übersetzt denn hier niemand mehr irgendwas? Ende der Anmerkung.) Das Etymologische Wörterbuch verweist unter “opulent” auf Essen und Trinken und führt dazu als Bedeutung “üppig, reichlich, vorzüglich” an. Also beginnen wir zunächst mit einer “nicht wertenden Betrachtung” des Phänomens, das in all seinen Erscheinungsformen mit seiner und unserer eigenen Frequenz zu tun hat – und erschaffen wir uns dafür als neues Kunstwort Opulenzfrequenz”.

Opulenzfrequenz oder Was ist eigentlich zuvielEin geeigneter Absprungpunkt zum Erforschen von “Üppigkeit” wäre die im genannten Video erwähnte (als kleines Kind erlebte) “erstmalige Faszination mit etwas, dessen überwältigende Eindrücke reinstes Glücksgefühl hervorrufen”. Davon ausgehend gelangen wir auch schnell an jene kaum fassbare Grenze, ab der die schiere Überflutung mit Eindrücken einem zuviel wird und eigentlich zu einer Abwehrreaktion führen müsste, wenn die Kulturgeschichte nicht wäre. “Jo, wofia brauchtsn die? No, losstsas weg!” (Karl Ferdinand Kratzl). Egal, ob Farben, Bilder, Klänge, Musik, Geschichten, Landschaften, Mahlzeiten oder Filme, alles hat seine eigene Frequenz. Die Wellenlänge des Lichts wie die Schwingungen des Klangs, die Erzähl- oder Reisegeschwindigkeit und eben auch die Szenenfolge und die Schnittfrequenz eines Films. Genauso unterschiedlich sind unsere eigenen Frequenzen, geprägt und beeinflusst von mannigfachen Faktoren wie Umwelt, Stoffwechsel, Resonanz und Verkabelung im Gehirn. Was dem einen noch Zärtlichkeit, ist dem anderen schon Gewalt. Was dem einen Übelkeit verursacht, ist dem anderen kulinarischer Genuss. Who am I to judge? Ich bin zwar gern sozial, aber kein Soziales Medium. Wo liegen unsere Grenzen des guten Geschmacks?

Nachdem wir zwei Hasen auch “musikliterarische Gefühlsweltreisen” veranstalten, untersuchen wir zunächst unsere “Welt der Musik” auf eventuelle Unterschiede oder Gemeinsamkeiten im Genuss von Üppigkeit und in Abwehr von Reizüberflutung. Bis zu welcher Opulenzfrequenz fühlen wir uns noch reichlich bewirtet und werden angenehm satt – und wodurch stellt sich im wahrsten Wortsinn Übersättigung ein? Wodurch gerät die Opulenz zur Penetranz – und jeweils wo liegt unsere individuelle Opulenzgrenze, ab der wir mit erheblichen Verdauungsstörungen rechnen müssen?

Wir wünschen guten Appetit.

 

Trotzdem Yes zum Leben sagen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Oktober – Dies ist meine sehr persönliche Würdigung der Musik von Yes, die mich seit mehr als 40 Jahren begleitet. Und weil ich in ihrem ausladenden musikalischen Schaffen immer wieder etwas entdecken konnte, das mich angeregt, beschäftigt, inspiriert und weiter gebracht hat, stelle ich euch heute ein paar dieser Kostbarkeiten vor. Von einigen Wendepunkten meines Lebens, die von krisenhafter Infragestellung sowie der Suche nach Sinnhaftigkeit geprägt waren. Deshalb nehme ich im Titel bewusst Bezug auf das legendäre Buch von Viktor Frankl, denn darum geht es ja auch bei der Musik wie bei den Texten der mehr als nur Progressive-Rock-Band Yes: Die Gefährdungen des Lebens nicht zu verleugnenund dabei zugleich weiterhin auf der Suche nach dem Sinn zu sein.

Trotzdem Yes zum Leben sagenJustice to the left of you
Justice to the right
Speak when you are spoken to
But don’t pretend you’re right
This life is not for living
It’s for fighting and for wars
No matter what the truth is
Hold on to what is yours

Sunshine shine on
Shine on you

Yes – Hold On

Ein tief eingepflanztes Schuldgefühl, das bei jedem Aufbruch in ein eigenes Leben zu verstehen gibt, niemand würde sich jemals mit einem darüber freuen können, trifft auf die Textzeile: “I’ve seen all good people turn their heads each day so satisfied, I’m on my way.” Die Angst vor dem Alleinsein droht einen endgültig zu verschlingen, plötzlich bemerkt man: “The proud sons and daughters that knew the knowledge of the land spoke to me in sweet accustomed ways.” Und mitten in der umfassendsten Hilf- und Ausweglosigkeit versteht und berührt einen dieses “Hold On” (siehe oben).

Wie kunstvoll und vielschichtig die Arbeit an verstörenden Themen bei gleichzeitigem Hervorholen von sinnstiftenden Perspektiven mit der Zeit werden kann, zeigt sich auf dem genialen “Shoot High, Aim Low”, das zwei Wahrnehmungsebenen miteinander verknüpft: Die Beobachtung des ebenso geheimen wie realen Krieges in Nicaragua und die Gefühlswelt von zwei miteinander in Liebe kommunizierenden Menschen. Dieser Kreis schließt sich in der Liveaufnahme von “And You And I” vom Jazzfestival in Montreux 2003. So könnte man übrigens auch als Rockmusiker in Würde altern

And you and I climb crossing the shapes of the morning
And you and I reach over the sun for the river
And you and I climb clearer towards the movement
And you and I called over valleys of endless seas

 

Wiedaschaun (Maultrommel)

>>> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. OktoberEine ganz besondere Art von Musik entsteht beim Spielen mit der Maultrommel. Und auch eine ganz besondere Art von Gemeinschaft, wie dieses Video vom Maultrommeljam in Feldegg eindrucksvoll zeigt. Darauf ist speziell ein besonders umtriebiger Virtuose dieses Instruments zu erleben, nämlich Christoph Schulz, der das Archaische der Maultrommelkultur mit verschiedenen zeitgenössischen Musikrichtungen zu verbinden versteht und als ein immerfort neugieriger Klangweltforscher unentwegt Unerhörtes zu Gehör bringt. Wir hören ihn heute gemeinsam mit Jörg Horner als Maul&Trommelseuche, deren erstes Album “Wiedaschaun” 2007 beim überaus steirischen Label DerLurch erschienen ist. “You become the musical instrument in some way”, stellt dazu etwa Jonny Cope fest.

Wiedaschaun (Maultrommel)Es ist auch etwas Besonderes, die eigene Wahlfreiheit selbstbestimmt und spontan (je nach dem, was uns das Leben jeweils so an die Gestade unserer Seinsinsel spült) auszuüben. Ein Vorzug und ein Verdienst des Freien Radios, dass wir hier auch weniger “populäre” Kunstformen aufbereiten und ihren besonderen Eigenarten nachspüren können. Das haben die zeitgenössischen Maultrommel-Interpretationen von Christoph Schulz und Consorten mit dem zeitlosen Anspruch der Radiofabrik offenbar gemeinsam: Das wirklich Wesentliche in und zwischen Menschen zur Geltung zu bringen. Im Gegensatz zum “aktuell Angesagten”, das oft eine Scheinwelt von Spielfiguren ist, medial inszeniert und vom nachvollziehbaren Gefühlszusammenhang mit den tatsächlich lebenden Personen entkoppelt, irgendwie unvertraut und inhaltsleer. Nein, hier sind spürbar echte Menschen am Werk, mit all ihren Nebengeräuschen und Vorgeschichten und … Jedenfalls Menschen, die man verstehen, auf die man einwirken und mit denen man sich im sinnvollen Zusammenhang erleben kann

Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit/Bedeutsamkeit. Das sind auch die drei wesentlichen “Aspekte des Kohärenzgefühls” im Modell der Salutogenese nach Aaron Antonovsky. Oder schlicht: Was uns gesund macht und gesund erhält. Ist es da nicht bemerkenswert, dass gerade die Maultrommel ein in vielen Kulturen verbreitetes uraltes Musikinstrument ist, dessen Gebrauch bis in die Heilpraktiken der Schamanen zurück reicht? Und in dem Zusammenhang, dass auch Freies Radio eine zutiefst heilsame Wirkung auf seine Umgebung ausübt – wenn man es macht?

Wiedaschaun.

 

Warum ist Radio?

>>>>> Artarium vom Sonntag, 24. September“Warum ist überhaupt Radio und nicht vielmehr nichts?” Das könnten wir uns in Abwandlung eines Satzes von Martin Heidegger fragen. Oder auch: “Warum ist überhaupt Freies Radio und nicht vielmehr nur das Übliche?” Derlei Überlegungen können und wollen wir hier naturgemäß nur aus unserem eigenen, sehr subjektiven Alltagsgebrauch des freien Mediums heraus anstellen – und wiederum mit einer Sendung (nämlich dieser) beantworten. Es geht um Resonanz, um nachspürbares Schwingen zur jeweiligen Anregung, um einstweilige Zustände, die hergezeigt werden und als Einladung zum selbst weiter Entwickeln dienen könnensobald jemand davon berührt wird und “der Funke überspringt”. Radio ist seinem Wesen nach Schwingungsübertragung. Und darum ist es auch …

Warum ist Radio?“Das ist eingeschrieben in die DNA”, wie es PeterLicht in seinem “Fluchtstück” formuliert hat, das ja schon seit unseren Anfängen als Radiohasen eine nicht unwesentliche Rolle bei “der fortwährenden Inspiration” spielt – oder eben bei der “Schwingungsanregung”. “Alle Gefühle haben ihre Berechtigung. Gefühle sind wie Katzenwelpen oder frisch geworfene Kinder – sie sind einfach da. Sie haben noch keinen Namen, aber sie brauchen was zum Essen und dass man sie anschaut und wahrnimmt. Und dann brauchen sie es, dass man sich lang mit ihnen beschäftigt, sonst wird nichts aus ihnen. Sonst werden sie wieder ein verdrängter Mulm, aus dem ein Faschismus oder Konsumismus oder sonst irgend ein Scheiß entsteht.” Das wäre eine inhaltliche Möglichkeitsform für so eine Schwingungsweitergabe, bitte, danke, guten Morgen: Phantasiegestalten jenseits des jeweiligen Zeitgeists in ihrer universellen Wirkung erleben. Indem wir einander Geschichten erzählen. Indem wir einander anregen, wie damals als Kinder Welten zu erschaffen und darin Abenteuer zu bestehen, die wir noch dazu ganz und gar selbst bestimmen und verändern können. Und jetzt kommts: Die sind alle nach wie vor in uns, die Kinder, die Welten, die Phantasiewesendas sind wir selbst, die wir uns zunehmend aus der Weggeschrecktheit unserer Vergewaltung entsteinern.

Apropos Phantasiegestalten und deren Beitrag zur Realitätsveränderung – was ist eigentlich mit Jochen Malmsheimer? Selbst langjähriger Radiomacher im deutschen Bürgerfunk hat er uns immer wieder auf phänomenale Expeditionen ins Reich seiner literarischen Schätze entführt und wir haben das an euch weitergegeben und verteilt. In einem Interview hat er uns einmal gesagt: “Das Spartenradio ist der Tod. Heute kriegt jeder sein Radio, damit bloß nicht mehr umgeschaltet wird, weil die Quote stimmen muss – und das nivelliert natürlich alles ins Bodenlose.” Darum gibt es Freies Radio.

Ich hab als Kind erstaunt davon gelesen …

PS. Aus gegebenem Anlass packen wir in dieser Sendung auch wieder einmal die Lampedusa-Hymne von Giacomo Sferlazzo “Io non ho paura” aus. Eine deutsche Übersetzung haben wir hier gefunden (Seite 5/6) und geben sie hiermit gern weiter.

 

Wo die wilden Worte wohnen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. September“Beton und Ibuprofen” ist auch eine Suche nach Sprache. Worte, Zeilen, ganze Strophen, tauchen variiert mehrmals auf. PeterLicht probiert immer wieder Begriffe wie “Wolken, Nacht, Augen, verlieren” an, kontrastiert sie mit sad und happy Sounds, wie um rauszufinden, was sind überhaupt Songs und wie passen sie am besten farblich zu keinem Sofa? Toll gelingt dieses Spiel in “Freunde”, wo Hank Williams mitgetextet hat (ratet wo). Damit man beim Satz “kommt alle, zusammen werden wir schwarz” gute Laune bekommt, braucht es nur süßen Satzgesang und ein Achtel hackendes Honky-Tonk-Piano. Aber auch was man sich nicht traut anzuziehen, liegt in Peters Ankleidezimmer. Das Ende, die Angst davor. Er singt: “Wenn die Dämonen kommen ist jeder, der ein Mensch ist, ein Freund.”

Wo die wilden Worte wohnen

Christopher Schmall – Gesichte Gedichte

Das schreibt Francesco Wilking, der Sänger von Tele und außerdem in einem famosen Duett mit Judith Holofernes gut zu hören. Einer, der wie PeterLicht Geschichten jenseits des Erwartbaren erzählt, wie wir das etwa im Tele-Song “Fieber” durchaus mit heftigem Vergnügen erlebt haben. Warum aber begleiten uns solche Menschen und ihr Schaffen dergestalt durchs Leben, dass sie uns immer wieder auch zu eigenen Hervorbringungen inspirieren? Und könnten da nicht vielleicht auch noch andere Aspekte im Spiel sein, abgesehen von lyrischer Qualität und hand- (besser gesagt) mundwerklichem Können? Es gibt Menschen, die ein Gespür dafür haben, ob es dem Künstler oder der Künstlerin oder ….. in erster Linie um eine eigene Aussage geht und erst danach ums Geld, ums Bedeutsamsein und um die Wirkung auf eine bestimmte Szene. Oder ob es genau andersrum ist. Wohlgemerkt, das ist kein “entweder oder”, womit das eine gegen das andere ausgespielt, in Stellung gebracht und sodann in den Krieg geschickt werden soll. Es geht vielmehr um die feinen Nuancen im Verhältnis dieser beiden Bedürfnisse, die wohl auch beide berechtigt sind. Die Wirklichkeit wahrnehmen und daraus Kunst erzeugen, um für sich selbst neue Sichtweisen aufs Altbekannte zu erschließen und dies dadurch auch anderen Menschen zu ermöglichen, das ist die eine Strebung. Dafür Anerkennung zu erfahren, auch in Gestalt von Geld, in seiner Arbeit wahr- und ernstgenommen zu werden, also in jeglicher Hinsicht “davon leben zu können”, das ist die andere. Wenn letztere im Gesamtbild auch nur ein ganz klein wenig vorschmeckt, “merkt man die Absicht und man ist verstimmt”. Sofern man, wie bereits erwähnt, “ein Gespür dafür” hat. Manchanderen ist derlei ganz egal

Der Worte sind genug gewechselt, nun lasst uns eine Sendung hören. Oder eben in die wundersame Werkwelt des PeterLicht eintauchen, denn hier halten sich auch die genannten Grundströmungen des Kunstschaffens auf wohlverdauliche Weise die Waage. Well balanced, wie der Franzose (oder wars die Französin?) sagt, oder auf dem Deutsch: Gut im Gleichgewicht. Was wäre bekömmlicher in so schlagseitigen Zeiten wie den interessanten (chinesisch verflucht), in denen wir beanstrengt leben? Möge uns der lyrische (und musikalische) Kosmos von Meinrad Jungblut wohltun!

 

Nie wieder Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 10. September“Je öfter ich Tocotronic höre, desto mehr entdecke ich.” So oder so ähnlich sprach unlängst der Hase (ich gebe es hier sinngemäß wieder). Und auch wenn wir beide es jeweils unterschiedlich in Worte fassen – dahinter liegt eine nicht erklärbare Gewissheit, das so oder anders Gesagte auf höchst verwandte Weise zu erleben. “Mir geht es ganz genau so.” wäre die einzig mögliche Antwort, mit der ich andeuten kann, welch gemeinsamer lyrischer Kosmos sich in der Begegnung mit den Phantasiewelten des Dirk von Lowtzow offenbart … “Nie wieder Krieg” heißt das jüngste Album einer der ältesten Bands der Hamburger Schule, und das wollen wir heute (dezent gekürzt) zelebrieren. Sein Spielen zwischen Slogans und Innenschau lässt uns die oft viel zu eindeutigen Realitäten” aushalten.

Nie wieder Krieg (Tocotronic)Denn wiewohl sein Titel ein nicht oft genug einzuforderndes Statement zur Weltpolitik darstellt, geht doch die Richtung des gesamten Albums weit über die durchaus zutreffende Parole hinaus, nämlich nach innen. “Nie wieder Krieg – in dir, in uns, in mir.” So heißt es folgerichtig am Schluss des titelgebenden Songs und damit ist der Weg in die Weite eröffnet. Treten sie ein und treten sie nie wieder zu (sofern sie sich trauen, sich selbst ins Gesicht zu schauen). Der Agressor, das sind wir. Anders könnte Identifikation mit dem Agressor” (das Stockholm-Syndrom) ja auch gar nicht funktionieren. “Ab da tuts weh, dass sie sich selber auch als Täter erleben. Das ist die Urerfahrung von Drama, die da eben lautet: Wir sind sterblich – und leben heißt schuldig werden.” Ob uns das trösten wird? Wohl nicht als Schmerzmittel auf Knopfdruck, das uns in die postfaktische Wurstigkeit der Neuen Volksarznei entführt. Eher als ein treuer Begleiter auf unserem Weg durchs Dickicht des Dichtens. Dichten ist Leben, so wie jeden Tag Essen, Verdauen und Ausscheiden unsere Lebenskraft verdichten.

“Das ist ein Hilfeschrei. Es gibt mich immer noch. Ich bin noch nicht vorbei.” –  Das ist ein Schrei, der die Nacht zerbricht. Bin vielleicht verlassen und lädiert, aber nicht willenlos. Müde. Wütend. Nicht ohne Angst. Denn der Welten gibt es viele und sie leben simultan und stürzen ständig ineinander. Irgendwo Ich inmitten widersprüchlicher Wirklichkeiten mit einer Ahnung vom Ende. Sehne mich nach Berührung. Suche einen Ankerpunkt. In mir ein Untergehen und Auftauchen. Wallende Wildnis und verödende Erde. Pralle Früchte auf entlaubten Bäumen. Korridore voller Türen ohne Schlösser oder Knäufe. Texte über Texte, die niemand verstehen will. Krieg im Innerland. Die weiße Fahne befriedet nicht. Es wird stumm gekämpft, denn die Sprache liegt versprengt. Man schickt Suchtrupps aus. Sie graben in meinen Trümmern. Ein NIE WIEDER kommt zum Vorschein. Der Krieg geht weiter. Kehlen entfleuchen Töne, einzelne Wörter, Sätze. Unter Asche, Schutt und Leichenteilen schwelt aber kaum wahrnehmbar die verwegene Gewissheit, dass aus Gewehren Blumen sprießen können, auf Schlachtfeldern wieder geliebt werden wird, die Menschheit im Stande ist sich selbst zu überwinden und, dass es nichts Hoffnungsloses gibt, dass mein weites Land unzerstörbar ist, ganz gleich wieviele Panzer Walzer tanzen zur Musik der Entrückten und Verängstigten.

 

Der Krieg in mir

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. August“Der Krieg ist nicht vorbei, wenn er auf den Schlachtfeldern endet. Er geht weiter in den Herzen und Hirnen der Kinder.” So sprach ich als Jugendlicher zu meiner Mutter, die den 2. Weltkrieg noch selbst erlebt hatte, wenn sie daran Anstoß nahm, dass da etwas in mir wütete oder in Trümmern lag. Rückblickend betrachtet waren das weise Worte aus dem Mund eines damals vielleicht 14-jährigen, denn wie man heute weiß, wirken sich die traumatischen Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration in ihren Nachkommen weiter aus, prägen oft sogar deren Ängste, Wünsche, Träume oder Verhaltensweisen. Der Dokumentarfilm “Der Krieg in mir” von Sebastian Heinzel beschreibt, wie eine solche “Vererbung” durch epigenetische Veränderung stattfinden kann. Und er sucht auch nach Lösungen

Der Krieg in mirAls ob mir das Trauma des 2. Weltkriegs (das mir meine Eltern hinterlassen haben) nicht schon genug wäre, entdeckte ich unlängst auch noch die Feldpostbriefe meines Großvaters aus dem 1. Weltkrieg. Und der war ab 1914 Offizier in jener österreichisch-ungarischen Armee, die unter dem unseligen Oskar Potiorek (den manche Zeitzeugen als zunehmend unzurechnungsfähig beschrieben) dreimal hintereinander vergeblich versuchte, Serbien einzunehmen. Stattdessen wurde sie jedesmal unter immensen Verlusten hinaus geworfen. Auch mein Großvater landete schon im Oktober 1914 im Lazarett, was er nur sehr knapp überlebte, wie mir berichtet wird. Da gratuliere ich mir jetzt aber ausdrücklich und “mit klingendem Spiel” zu diesem ausgewachsenen Mehrgenerationentrauma in meinem lyrischen Kosmos und wundere mich über ganz vieles gar nicht mehr. In der Geschichte dieses Landes und seiner Insassen sind kasperlhafte Politiker nebst ihren hysterischen Feindbildern dermaßen Tradition, dass auch in dieser Hinsicht an epigenetisch eingeschriebene Verhaltensreflexe gedacht werden muss. Hurra, der Untergang des Abendlands ist unausweichlich und wir werden alle sterben. Aber bitte mit Stil. Das ist halt nicht ganz so einfach, wenn du verreckend im Dreck liegst.

Dass wir Krieg verabscheuen, das haben wir in unseren Sendungen immer wieder deutlich gemacht. Dass es aber nach wie vor Menschen gibt, die derlei befürworten, ja sogar betreiben und davon profitieren, das bestürzt uns aufs erschreckendste, zumal wir die über Generationen fortwährenden Spätfolgen dieses Wahnsinns in und um uns wahrnehmen und deren Auswirkungen auch in unserem Alltag erleiden müssen. Hier können die eingangs erwähnte “Suche nach Lösungen” und die von Sebastian Heinzel im Selbstversuch unternommene “Traumatherapie” zum Einsatz kommen

Die begleitende Voraussetzung ist unsere gemeinsame Forderung: Nie wieder Krieg!