Navigating by the Stars

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. FebruarWir spielen heute das ganze Album “Navigating by the Stars” von Justin Sullivan, dem wir über die Jahre schon in vielerlei verschiedenen Facetten seines Schaffens begegnet sind. Zunächst einmal in seiner bekanntesten Erscheinungsform als Sänger und Texter von New Model Army oder im Anagramm ihrer selbst Raw Melody Men. Sodann auch gemeinsam mit Joolz Denby als Teil des Trios Red Sky Coven, das Musik mit Geschichten und Gedichten verknüpft. Und nicht zuletzt als genauso feinsinniger wie gefühlvoller Kulturkritiker, der uns bei generellen Gedanken zum Wesen des Zuhörens befruchtete. Also wenn sich jemand schon so oft und auf vielfältige Weise in unseren Sendungsthemen und Musikauswahlen bemerkbar gemacht hat – dann bitte auch sein erstes Soloalbum!

Justin Sullivan - Navigating by the StarsDoch einmal abgesehen von der reinen Vollständigkeit des lyrischen Kosmos gibt es ein paar weitere Gründe, weshalb wir Navigating by the Stars für höchst hörenswert erachten und es euch daher auch unbedingt ans Herz legen wollen. Ich zum Beispiel mag keine in die Jahre gekommenen Poseure, die wie ständig wiederauferstehende Folklorezombies eine einstmals eingeschlagene Stilrichtung zum Blödspaß und Kassengeklingel des Publikums bis zum Erbrechen wieder und wieder wiederholen. Das hört (und spürt) sich für mich an wie tagein tagaus das Immergleiche essen und dabei nicht einmal merken, dass es längst fad schmeckt. Justin Sullivan dagegen ist ein Künstler, dessen Gefühlswelt und Ausdrucksform sich seiner Lebenserfahrung gemäß verändert, ohne dass seine Person dabei nicht mehr zu erkennen wäre. Das ist durchaus etwas Erwähnenswertes in diesen Zeiten gestaltloser Beliebigkeit um des Geldes Marktes Erfolges willen. Ihn beschäftigen die Themen, die das Leben in seine Welt spült, mit zunehmendem Alter anders als früher und das hört man auch.

Schon auf früheren Alben von New Model Army finden sich einige ruhige, nach innen gekehrte Balladen, die von Endlichkeit und Verwandlung erzählen, wie zum Beispiel das zutiefst berührende “Marrakesh”. Oder das ganz stille Lied “Nothing Touches”, in dem eine zunehmende Gefühllosigkeit und das gleichzeitig vorhandene Bedürfnis nach unmittelbarer Berührung dargestellt werden. Jetzt zum Vergleich “Sentry” aus Navigating by the Stars, das die andauernde Ambivalenz von einerseits Sinnsuche und andererseits Zusammenhanglosigkeit in Gestalt des einsamen Soldaten zeigt:

I’ve seen so much more than I wanted to see
The flies all swarming round in the blistering heat
Layer upon layer here of the same old curse
The red blood draining until the blood red earth
In the end we tell the stories just the same
And only the names are changed

Dass wir mit diesen Gefühlen nicht am Grund des Abgrunds aufschlagen (und gibt es in der Bodenlosigkeit überhaupt so etwas), das vermittelt uns auf vielfältige Weise (im Text, in der Musik, in der Stimmung, im Arrangement) das in unseren Augen und Ohren Meisterstück dieses Albums “Green”. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Übergangs von einer Welt in die nächste, von einer Gefühlsbefindlichkeit in die Erweiterung derselben und von einem Bewusstseinszustand in einen anderen (um hier nur einige zu nennen). Nie war Fliegen beim Zuhören selbstverständlicher

Tonight again I′ll dream I’m walking across the room in the moonlight
I′ll throw the windows open wide
Smell the falling dew outside
I’ll climb out onto the roof
Close my eyes
And I’ll begin to fly

 

Tarot Suite (Mike Batt & Friends)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JanuarDas neue Artariumjahr beginnt mit einem ganzen Album, nämlich ­“Tarot Suite” von Mike Batt & Friends. Und was für Friends da versammelt sind: Neben dem London Symphony Orchestra treten da etwa Rory Gallagher, Roger Chapman, Mel Collins und natürlich der Meister selbst (an den Keyboards) auf. Umso erstaunlicher, dass dieses grandiose Konzeptalbum aus dem Jahr 1979 in der Musikwelt weitgehend unbeachtet geblieben ist, was sich an diesem Artikel/Thread beispielhaft nachvollziehen lässt. Woran auch immer das liegen mag (wahrscheinlich ein sehr multifaktorielles Geschehen), wir erachten “Tarot Suite” für ein sträflich unterschätztes Meisterwerk der Musikgeschichte. Hier begegnen sich Klassik und Rockmusik in einer seltenen Synthese, gehen geradezu ineinander auf.

Mike Batt and Friends - Tarot SuiteDazu kommt noch die vielschichtige Konzeptarbeit, die jedes einzelne Musikstück mit mehreren Aspekten der “Großen Arkana” (Tarotkarten) verknüpft. Dies wurde im Artwork des Albums (wie zu jener Zeit nicht unüblich) hingebungsvoll erläutert – und stellt doch nur eine von vielen Ebenen der ganzen Geschichte dar (was bei der Komplexität der darin verhandelten Themen verständlich ist). Mir ist dieses epische Werk zu Beginn der 80er Jahre durch einen Zufall begegnet, als ich es nämlich  in einem Lokal hörte und sogleich davon fasziniert war. Es war “aufs erste Hinhören” so viel Verschiedenartiges auf einmal wahrzunehmen, dass ich mir diese im wahrsten Wortsinn symphonische Dichtung unbedingt besorgen musste, um sie einerseits allein und andrerseits mit kunstsinnigen Freunden gemeinsam wieder und wieder anzuhören, mir die vielen darin versteckten Geschichten sozusagen Schicht um Schicht zu erschließen. Das ging dann soweit, dass wir vier Unzertrennlichen eines Nachts in Begleitung dieses Soundtracks für Seelenreisende rundum illuminiert ins Steinerne Theater pilgerten.

Gerade im Salzburg der 70er Jahre, wo der scheinbar für alle Zeiten einbalsamierte karajanoide Kanon das einzig wahre und ewiggültige Kunstverständnis nachgerade flächendeckend (bis in unsere Herzen und Hirne) verbreitete und es mit Zähnen und Klauen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigtegerade in dem Kontext war symphonische Musik, die zum Beispiel völlig selbstverständlich eine E-Gitarre als Soloinstrument im Orchester verwendete, schon eine ordentliche Offenbarung. Und dann erst der Inhalt: Eine Erzählung für eine emanzipatorischen Entwicklung.

Vieles davon wird in dem rockigen Titel “Imbecile” erkennbar, der die Tarotkarten des Narren sowie des Magiers zu einem Zwiegespräch versammelt, das an seinem Ende in ein friedvolles Verständnis des jeweils Anderen übergeht und so eine Perspektive des Wandels erzeugt. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verwandelt sich in ein Wir. Das, was uns – in allem was uns trennt – gemein ist, tritt als das hervor, was wir gemeinsam sind. Diese letzte Strophe – meisterlich dargeboten von Roger Chapman – soll uns hier textlich auf die inhaltlichen Ebenen einstimmen:

 

“We both are right”, said the sorcerer
“And both of us are wrong
For though we walk this road we don’t know where it leads
We only know it’s long

You have something to learn from me
And I can learn from you
You with your jokes and simple plans
And me with my tricks and sleight of hands
Together we could get through

Imbeciles, we are dancing down a darkened road
Though the stars are out, not one of us knows the way
Imbeciles up ahead of us and millions more behind
And we’re laughing and smiling
That’s why I say we’re all of us Imbeciles”

 

Karajan wouldn’t have liked it.

 

The Blue Notebooks

> Sendung – Artarium vom Sonntag, 10. Dezember – Heute stellen wir euch, ganz passend zur Jahreszeit, eine etwas sehr andere Musikwelt vor. Und zwar in Gestalt des ersten Albums, das Max Richter bei FatCat Records veröffentlicht hat. Warum wir ihn und seine Kompositionen als “etwas sehr anders” beschreiben, mag diese kleine Geschichte beleuchten: “Ich schickte FatCat mein Demo unter anderem, weil ich das erste Album von Sigur Rós gehört hatte, und es klang für mich wie Arvo Pärt mit Gitarren. Ich wusste also, ich würde dort gut aufgehoben sein.” Dabei handelt es sich um “The Blue Notebooks” (2004), dessen Entstehung von den Tagebüchern von Franz Kafka inspiriert ist, zu denen auch Denis Scheck Bemerkenswertes mitteilt. Eine Musikwelt, die eine starke Wirkung auf uns entfaltet, und darum geht es auch.

Max Richter - The Blue NotebooksIn dieser vordergründig klassisch anmutenden Orchestermusik sind vielfältige Einflüsse mit durchaus modernen Produktionstechniken zu einem Gesamtklangraum von hochwirksamer Qualität verbunden worden, der weit jenseits jedweder Vorstellung oder Erwartbarkeit im Bereich des noch nicht Gestalteten ansetzt. Eine bewegende Berührung im Ursuppentopf der Phantasie, aus dem beim Zuhören, eigentlich beim sich darauf einlassen und in eigene Schwingungen geraten, etwas “Neues” entstehen kann, und zwar in dem Sinn, dass man dieses womöglich schon länger in sich trägt, ihm jedoch bislang noch keine entsprechende Gestalt verliehen hat. Als ob auf geheimnisvolle Weise etwas von dem unbewussten Wissen, das in uns vor sich hin “schlummert”, dazu aufgerufen würde, sich endlich einmal unübersehbar auszuwirken. Was macht der Mann da mit uns? Passiert ihm das einfach – oder hat er eine Ahnung davon, was er da bewirkt? Dazu könnten wir auf den Titel “On the Nature of Daylight” eingehen, der inzwischen vielfach übernommen, verbearbeitet und wiederveröffentlicht wurde.

“What I wanted to try and do was to try and create something which had a sense of luminosity and brightness, but made from the darkest possible materials. So it’s almost like an alchemical, transmuting-base-metal-into-gold, process.” So beschreibt Max Richter die Arbeit mit diesem Stück in einem Interview. Und das erhellt sowohl seine Arbeits- als auch die Wirkweise seiner Musik. Hier ist offenbar kein oberflächlicher Reizbefriedigungskasperl aus der Werbungswundertütenwelt zugange – nein, hier erkennen wir Tiefgang sowie ein menschliches Verstehen von Zusammenhängen.

The Blue Notebooks …

 

Steve Howe – Beginnings

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. November – Wir spielen heute das Album “Beginnings” von Steve Howe, das er 1975 nach mehrjährigem Mitwirken bei Yes als sein erstes Soloalbum herausgebracht hat. Und zwar, wie das in unserer Reihe “Das ganze Album” üblich ist, ohne jedwede Unterbrechung. Dabei enthalten wir uns zudem sämtlicher seit den 70er Jahren herumgeisternder Gscheitscheißereien, die das hier zu hörende Klangwerk in irgendwelche Kasterln und Kategorien einsortieren. Sondern vertrauen darauf, dass unser unsichtbares Publikum genauso eigenartig ist wie wir uns das wünschen – ein etwas anderes KUNNSTbiotop. Erinnern wir uns an das legendäre “And You And I” vom Montreux Jazz Festival 2003, seit dem wir den virtuos klangmalenden Gitarristen mit dem Beinamen Mäusegroßvater” versehen.

Steve Howe BeginningsWenn es darum geht, Eindrücke aus “anderen Welten” wiederzugeben, die sich uns oft nur in sehr speziellen Seinszuständen zeigen, dann reicht es nicht, Sprachmechaniker oder Instrumentenwettbewerbsfudler zu sein. Dann ist es unerheblich, ob wer ein Doktorat, ein Diplom oder was auch immer besitzt, allgemein anerkannt ist als dies oder jenes, berühmt ist, erfolg- oder einfach nur reich. Dann stehen wir alle vor dem Ungesagten, dem “noch nie zum Ausdruck gebrachten” und vor der unentrinnbaren Aufgabe, dem, was wir da erleben, doch irgendwie Ausdruck zu verleihen. Und da tut es gut, wenn wir anderen Seinsreisenden und ihren diesbezüglichen Versuchen begegnen, uns von ihnen und ihren Erfahrungen inspirieren lassen, auch aus dem Fundus ihrer Gestaltungsformen die eine oder andere Anleihe für unsere eigenen Schöpfungen nehmen können. Kurz gesagt, wenn wir aus dem, wie sie die Welt beschrieben haben, Anregungen für unsere eigene Darstellung beziehen. Auf dieser Ebene funktioniert “Beginnings” als reichhaltiges Bergwerk der Beispiele – nicht nur für Gitarristen

Are we up, are we down?
Twirling round and round
Spectral spaces found
Leaves enjoy their Autumn
Do you like the fall?
Suppose yourself above it all
In our self-made worlds

Steve Howe – Lost Symphony

PS. Wunderbar auch dieses akustische Solo (Live in Montreux 2003)

 

Wiedaschaun (Maultrommel)

>>> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. OktoberEine ganz besondere Art von Musik entsteht beim Spielen mit der Maultrommel. Und auch eine ganz besondere Art von Gemeinschaft, wie dieses Video vom Maultrommeljam in Feldegg eindrucksvoll zeigt. Darauf ist speziell ein besonders umtriebiger Virtuose dieses Instruments zu erleben, nämlich Christoph Schulz, der das Archaische der Maultrommelkultur mit verschiedenen zeitgenössischen Musikrichtungen zu verbinden versteht und als ein immerfort neugieriger Klangweltforscher unentwegt Unerhörtes zu Gehör bringt. Wir hören ihn heute gemeinsam mit Jörg Horner als Maul&Trommelseuche, deren erstes Album “Wiedaschaun” 2007 beim überaus steirischen Label DerLurch erschienen ist. “You become the musical instrument in some way”, stellt dazu etwa Jonny Cope fest.

Wiedaschaun (Maultrommel)Es ist auch etwas Besonderes, die eigene Wahlfreiheit selbstbestimmt und spontan (je nach dem, was uns das Leben jeweils so an die Gestade unserer Seinsinsel spült) auszuüben. Ein Vorzug und ein Verdienst des Freien Radios, dass wir hier auch weniger “populäre” Kunstformen aufbereiten und ihren besonderen Eigenarten nachspüren können. Das haben die zeitgenössischen Maultrommel-Interpretationen von Christoph Schulz und Consorten mit dem zeitlosen Anspruch der Radiofabrik offenbar gemeinsam: Das wirklich Wesentliche in und zwischen Menschen zur Geltung zu bringen. Im Gegensatz zum “aktuell Angesagten”, das oft eine Scheinwelt von Spielfiguren ist, medial inszeniert und vom nachvollziehbaren Gefühlszusammenhang mit den tatsächlich lebenden Personen entkoppelt, irgendwie unvertraut und inhaltsleer. Nein, hier sind spürbar echte Menschen am Werk, mit all ihren Nebengeräuschen und Vorgeschichten und … Jedenfalls Menschen, die man verstehen, auf die man einwirken und mit denen man sich im sinnvollen Zusammenhang erleben kann

Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Sinnhaftigkeit/Bedeutsamkeit. Das sind auch die drei wesentlichen “Aspekte des Kohärenzgefühls” im Modell der Salutogenese nach Aaron Antonovsky. Oder schlicht: Was uns gesund macht und gesund erhält. Ist es da nicht bemerkenswert, dass gerade die Maultrommel ein in vielen Kulturen verbreitetes uraltes Musikinstrument ist, dessen Gebrauch bis in die Heilpraktiken der Schamanen zurück reicht? Und in dem Zusammenhang, dass auch Freies Radio eine zutiefst heilsame Wirkung auf seine Umgebung ausübt – wenn man es macht?

Wiedaschaun.

 

Nie wieder Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 10. September“Je öfter ich Tocotronic höre, desto mehr entdecke ich.” So oder so ähnlich sprach unlängst der Hase (ich gebe es hier sinngemäß wieder). Und auch wenn wir beide es jeweils unterschiedlich in Worte fassen – dahinter liegt eine nicht erklärbare Gewissheit, das so oder anders Gesagte auf höchst verwandte Weise zu erleben. “Mir geht es ganz genau so.” wäre die einzig mögliche Antwort, mit der ich andeuten kann, welch gemeinsamer lyrischer Kosmos sich in der Begegnung mit den Phantasiewelten des Dirk von Lowtzow offenbart … “Nie wieder Krieg” heißt das jüngste Album einer der ältesten Bands der Hamburger Schule, und das wollen wir heute (dezent gekürzt) zelebrieren. Sein Spielen zwischen Slogans und Innenschau lässt uns die oft viel zu eindeutigen Realitäten” aushalten.

Nie wieder Krieg (Tocotronic)Denn wiewohl sein Titel ein nicht oft genug einzuforderndes Statement zur Weltpolitik darstellt, geht doch die Richtung des gesamten Albums weit über die durchaus zutreffende Parole hinaus, nämlich nach innen. “Nie wieder Krieg – in dir, in uns, in mir.” So heißt es folgerichtig am Schluss des titelgebenden Songs und damit ist der Weg in die Weite eröffnet. Treten sie ein und treten sie nie wieder zu (sofern sie sich trauen, sich selbst ins Gesicht zu schauen). Der Agressor, das sind wir. Anders könnte Identifikation mit dem Agressor” (das Stockholm-Syndrom) ja auch gar nicht funktionieren. “Ab da tuts weh, dass sie sich selber auch als Täter erleben. Das ist die Urerfahrung von Drama, die da eben lautet: Wir sind sterblich – und leben heißt schuldig werden.” Ob uns das trösten wird? Wohl nicht als Schmerzmittel auf Knopfdruck, das uns in die postfaktische Wurstigkeit der Neuen Volksarznei entführt. Eher als ein treuer Begleiter auf unserem Weg durchs Dickicht des Dichtens. Dichten ist Leben, so wie jeden Tag Essen, Verdauen und Ausscheiden unsere Lebenskraft verdichten.

“Das ist ein Hilfeschrei. Es gibt mich immer noch. Ich bin noch nicht vorbei.” –  Das ist ein Schrei, der die Nacht zerbricht. Bin vielleicht verlassen und lädiert, aber nicht willenlos. Müde. Wütend. Nicht ohne Angst. Denn der Welten gibt es viele und sie leben simultan und stürzen ständig ineinander. Irgendwo Ich inmitten widersprüchlicher Wirklichkeiten mit einer Ahnung vom Ende. Sehne mich nach Berührung. Suche einen Ankerpunkt. In mir ein Untergehen und Auftauchen. Wallende Wildnis und verödende Erde. Pralle Früchte auf entlaubten Bäumen. Korridore voller Türen ohne Schlösser oder Knäufe. Texte über Texte, die niemand verstehen will. Krieg im Innerland. Die weiße Fahne befriedet nicht. Es wird stumm gekämpft, denn die Sprache liegt versprengt. Man schickt Suchtrupps aus. Sie graben in meinen Trümmern. Ein NIE WIEDER kommt zum Vorschein. Der Krieg geht weiter. Kehlen entfleuchen Töne, einzelne Wörter, Sätze. Unter Asche, Schutt und Leichenteilen schwelt aber kaum wahrnehmbar die verwegene Gewissheit, dass aus Gewehren Blumen sprießen können, auf Schlachtfeldern wieder geliebt werden wird, die Menschheit im Stande ist sich selbst zu überwinden und, dass es nichts Hoffnungsloses gibt, dass mein weites Land unzerstörbar ist, ganz gleich wieviele Panzer Walzer tanzen zur Musik der Entrückten und Verängstigten.

 

Diesel and Dust

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. AugustDas ganze Album im August ist (durchaus berechtigt) eine Wiederausgrabung: “Diesel and Dust” von Midnight Oil. Wiewohl es bereits vor gut 35 Jahren erschienen ist, entbehrt es nicht an thematischer Aktualität und nimmt geradezu prophetisch zu bedrängenden Fragen der Gegenwart Stellung. Die australische Band und ihr charismatischer Sänger Peter Garrett haben eben schon früh erkannt, wie man gepflegte Rockmusik mit politischen Statements reibungsfrei verquicken kann. Und die Themen auf “Diesel and Dust” sind allesamt nach wie vor höchst aktuell, zum Beispiel wenn wir uns Sorgen machen wegen der ungewissen Zukunft unseres Planeten oder uns fragen, warum die allergrößten Arschlöcher die Natur zerstören oder massenhaft Menschen zugrunde richten

Midnight Oil - Diesel And Dust AlbumMeine persönliche Geschichte mit der Band und ihrer Musik habe ich vor einiger Zeit in diesem Artikel angesprochen. Vor allem aber war es die Verbindung verschiedener Welten, die mich vom ersten Ton an fasziniert hat, dazu noch eine drastische Deutlichkeit, mit der die darin verpackten Themen einem da unverrückbar ins Gesicht gestellt werden, wie Kritik am Landraub, die Bezweiflung der Gottes- und Weltbilder, die zur Vernichtung beitragen, der angstreiche Wahn militärischer Aufrüstung und der einer alle Ressourcen unwiederbringlich auffressenden Konsumkasperlkultur – hier geht es klar und direkt zur Sache. Das Grundrecht auf Gerechtigkeit und seine Bedeutung für unsere Wohlfahrt (schönes Wort) oder unseren Untergang. Denn das Menetekel des unentrinnbaren Zusammenbruchs (nicht der bestehenden Verhältnisse, sondern der allem Leben zugrunde liegenden Voraussetzungen) wird uns allen hier mit feurigem Finger an die Wand gemalt. Memento moriein passender Beitrag zum Festspielsommer wie auch zum Klimawandel. Was für ein bizarrer Kontrast!

Da stimmt es dann trotz alledem wieder zuversichtlich, wenn wir die letzten beiden Alben von Midnight Oil würdigen. Nach längerer Schaffenspause entstand 2020 “The Makarrata Project“ sowie 2022 “Resist” und darauf treiben die Musiker und Aktivisten ihre ursprünglichen Anliegen in aktualisiert verdichteter Gestalt unbeirrt weiter voran, im Kontext der Entwicklung, die seit “Diesel and Dust” stattgefunden hat. Es ist eine angenehme Abwechslung, wenn eine Band, die vor über 30 Jahren wegweisend war, auch heute noch (und heute erst recht) gegen den Unsinn wirkt.

We Resist …

 

Dieses Land hat Geschichte(n)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 16. JuliHinter der allgemein bekannten oder  “handelsüblichen Geschichte”, wie wir sie aus Unterricht, Tourismuswerbung und sonstigen, zumeist irgendwie “offiziellen” Selbstdarstellungsquellen gewohnt sind, besteht das Land, in dem wir leben, aus unendlich vielen Geschichten, die erzählt werden wollen. Und auch unbedingt erzählt werden sollen, weil sie eine unglaubliche Bereicherung in unserem Weltverständnis auslösen. Das ist wie plötzlich sehen zu können, was zuvor wie hinter einem Vorhang verborgen war – und was doch immer von dort hervor gewirkt und uns beeinflusst hat. Ein uns fast unbemerkt ereilendes Aha-Erlebnis, ein Entdecken und Erkennen und Verstehen des Zusammenhangs – ein möglicher Reim auf den Widerspruch zwischen Hochglanz und Hintergrund.

Dieses Land hat Geschichte(n)Auf der Suche nach einem ganzen Album für den Sonntag nach der Nachtfahrt sind wir in der Ideenwerkstatt darauf gekommen, wieder einmal ein thematisches Konglomerat selbst herzustellen. Und zwar aus Schåttseitnkind von den Querschlägern und den Sagen aus Salzburg von Michael Köhlmeier. Diese zwei Zusammenstellungen erzählen Geschichten aus einer völlig anderen Wirklichkeit als der, die uns ållerweil rundumadum einitrenzt wird – und die wir als die einzig wahre zu glauben gelernt haben. Einzig Ware? Es ist ein kleiner Schritt – vom Fürstbischof zur Familie Putz. Vom Feudalstaat zur Fernsehwerbung, wenn ihr versteht, was ich meine … Nun, lassen wir die Geschichten für sich selbst sprechen, auf dass die zahllosen Verdrängten und unter den Teppich Gekehrten endlich wieder als genau die “unverwechselbaren Menschenexemplare” mit uns leben dürfen, die sie von Anfang an waren – und die sie nach wie vor sind. Das gilt nicht nur für jene “wirtschaftlich randständige” Bevölkerungsgruppe, wie sie in der “Bettlerhochzeit” gezeigt wird, sondern genau so auch für jene “Andersgläubigen”, die uns etwa hinter der “magischen Welt” der Märchen und Sagen begegnen. Es geht darum, was uns ihre Geschichten erzählen.

Und darum, wie wir ihnen begegnen. Wie wir uns von ihnen anreden, gar berühren lassen. Was sie in uns bewirken, sobald wir mit ihnen in Resonanz geraten. Eine ganze Welt, die uns immer schon umgibt – und innewohnt, erschließt sich da. Geschichten erzählen Geschichte anders. Zeigen uns, was wirklich war, bevor wer auch immer (und mit welcher Absicht) angefangen hat, durch Weglassen und Hinzufügen ein bestimmtes Bild, einen Eindruck, eine Vorstellung zu erzeugen – davon, was “wirklich” ist. Geschichten, nie waren sie so wertvoll wie – immer

Wie sagte schon Thomas Oberender: “Hören sie genau hin.”

 

Attwenger – Drum

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. JuniDie Schwierigkeit ist, etwas möglichst Eigenständiges zu schreiben. Immer. Und gerade im Hinblick auf eine “Band” (ein Musikprojekt, das mehr als nur ein Musikprojekt ist), über die schon so viel gesagt und geschrieben wurde, dass es geradezu ein Gestrüpp ist aus Worten, fast schon eine Überflut aus Sprachbildern und Stimmungen. Was also macht (für uns – hier und jetzt) das Außerordentliche, das Besondere, das Einzigartige von Attwenger aus? Kollege Andreas Woldrich hat 2011 ihr Album “Flux” gepriesen und Bernhard Flieher hat 2010 ihren ARGE-Auftritt als “Die Goaß” rezensiert, alles höchst löbliche Versuche, der flirrenden Vielschicht rund um, über und hinter den Kunstwelten der zwei Herren Markus Binder und Hans Peter Falkner beizukommen.

Attwenger - DrumFür den Verfasser dieses Artikels (ist er auch ein Kollektiv?) besteht die bemerkenswerteste Eigenart von Attwenger (die es inzwischen seit mehr als 30 Jahren sowie 12 Alben gibt) darin, nach wie vor die eigenen Wurzeln zu pflegen (als da sind Volksmusik, popkulturelle Zitate und “Punk” als Philosophie) und gleichzeitig immer wieder neue Einflüsse, Stilrichtungen, akute Ideen in ihre Produktionen hinein zu verbearbeiten – wodurch ihre Songs auch über so viele Jahre hinweg nie langweilig klingen und zugleich als durch und durch attwengerisch wiederzuerkennen sind. Das allein wäre schon mehr als nur erstaunlich inmitten dieser zunehmend gleichförmig daherwabernden Eintönig-, ja Autotunigkeit, mit der wir allerohren umschwappt und zugeschoben werden – und Exitinnitus! Diesem Mehrheitsklonglumpert aus allerlei Massenblödien, Quasselödien und Kassenschmähdien wird eine hochkomplexe Individualphantasie zuwider gesetzt, dass es eine feste Freude ist, auch heute wieder nicht untergegangen zu sein. Lieder wie Rettungsinseln im Strom

Wir stellen euch also das aktuelle Attwenger-Album “Drum” vor. Und – bei wem auch immer – wir tun das aus tiefster Überzeugung. Und wir verneigen uns innerlich vor den immer wieder aufs neue erhellenden und zum eigenen Dichten und Denken anstiftenden Attwenger-Texten (welche auf deren hervorragender Homepage alle zum Mitlesen dargereicht werden). Kein Fall fürs Urheber- und Rechtsmuseum! Stattdessen spüren wir, wie H. C. Artmann lebendig fortwirkt, und wir erleben Ernst Jandl beim wunschgemäß weiter gejandlt werden. Ein therapeutischer Auszug:

bodeschlapfm oabeitsgwaund
zeidunglesn kontoschtaund

regnschirme schdromverbrauch
flaummenwerfer goatnschlauch

nudlsuppm lippmschdift
propaganda gegngift

einbaunschdrossn mehrwegfloschn
gleidahogn töllawoschn

unterhosn oberflächn
und wos soi ma nu besprechn

klimawaundl schwiegermuada
lebenswaundl voglfuada

hauffmweise emotionen
tonnenweise emissionen

bisness class economy
fliagd der kas jetz ohne mi

mir wird des olles zu real
i brauch an aundaren kanal
mir wird des ois zu realistisch
mir wird des olles zu real

die realität is a skandal
die realität is so real
mir is des ois zu offensichtlich
mir is des olles zu real

i brauch auf jedn foi
a zweite realität
wei mit ana ala
si des niemois ausged

mit ana ala
jo do kum i ned aus
mit ana ala
na do hob i ka chance

diese realität doda
die ged mi so au
dera realität doda
der renn i davau

waun des nur so weidaged
immer a realität
i sogs aso wias is
des mocht mi voikommen bled

Attwenger – real

Lesenswert: Zum Songtexten und drum herum Markus Binder im mica-Interview

 

Patti Smith – Horses (Album)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. Mai – Patti schnappt sich ihren schwarzen Mantel. ihre Wollmütze. ein Buch, Stift, Notizblock, und den Glücksbringer des Tages. draußen schneit es oder auch nicht. es regnet oder auch nicht. sie beeilt sich. sie lässt sich Zeit. sie fühlt sich bereit und hinterfragt diese Kraft. jung ist sie. eine alte Seele. vom Leben mehrfach geprüft. dem Tod schon oftmals begegnet. hat Legenden getroffen und die Samen ihrer eigenen gesät. zuversichtlich. leidenschaftlich. voll der Liebe zur Kunst. keinen Plan B im Gepäck. alles auf eine Karte gesetzt. glückliche Zufälle. Schicksalsfügungen. Lichtmenschen. und im Herzen der unaufhaltsame Drang zu dichten. atemlos. intensiv. gemeinsam zu improvisieren. Sprache ist Musik ist Sprache ist Musik ist Göttliches auf Erden ist ein Blatt, das den Spiegel eines Sees rührt ist das Surren von Verstärkern ist das Platzen einer Arterie ist der Flügelschlag eines Schmetterlings ist ein ungehörter Schrei ist das Kratzen des Stifts am Papier ist ein Kuss ist Windhauch ist Herzschlag ist Stille zwischen den Tönen, den Worten.

Patti Smith Horsesam 2. September 1975 öffnet Patti Smith die Tür zum Electric-Lady-Studio. sie denkt an Jimmy Hendrix. im Studio A wartet am Mischpult ihr Produzent John Cale. im Aufnahmeraum baut die Band das Equipment auf. 5 Wochen später ist ihr erstes Album geboren: Horses. Rock’n’Roll und Poesie. zu einer mächtigen Einheit verschmolzen, die ihresgleichen sucht. sie singt und rezitiert von Verwandlung und Verantwortung. vom Sterben und Lieben. eine Deklaration der selbstbestimmten Existenz. Visionen zu Sound und Rhythmus geronnen. und ahnt naturgemäß nicht, dass sie eines der bedeutendsten Alben der Rockmusikgeschichte gefertigt hat. dass dieses Album unzählige Menschen begleiten und inspirieren wird. dass sie eines Tages zur „Godmother of Punk“ gekrönt wird. oder, dass zwei Radiopiratenhasen, fast 50 Jahre nach der Veröffentlichung, dieses Album als Muttertagsgeschenk in voller Länge zu Gehör bringen. das nicht minder geniale Coverfoto stammt von Robert Mapplethorpe, einem der wichtigsten Menschen in Patti Smiths Leben, über den sie in „Just Kids“ schreibt: „Am Ende wird man die Wahrheit in seinem Werk finden, der eigentlichen Verkörperung des Künstlers. Sein Werk wird nicht vergehen. Es entzieht sich dem menschlichen Urteil. Denn die Kunst besingt Gott und ist letztlich sein.“ 

Wie sehr und wozu Patti Smith uns und andere Salzburger Kunstkinder über viele Jahre inspiriert hat, das zeigen zum Beispiel die Sendungen “Female. Feel male.” vom August 2011 (hier das Programm zu lesen) oder “Horses” über ein geniales Theaterstück vom April 2017. Zudem ein unlängst wiederentdeckter Text namens “Male. Feel female? Fuck!”

Alles Liebe!