Opium für das Volk

Es ist Krieg in der Ukraine und wir wollen die Menschen jenseits von Kriegsrhetorik und Propaganda wahrnehmen. Denn was uns auf fast allen Kanälen täglich erreicht, das enthält Szenen, die unser sittliches Empfinden verletzen. Mindestens. Deshalb haben wir uns von Anfang dieses Irrsinns an auf den Weg gemacht (innerlich, denn äußerlich ist es uns schlicht nicht möglich), den Menschen zu begegnen, die nicht der jeweiligen Staatsmacht blindwütig hinterher applaudieren. Satiriker, Künstler aus dem Untergrund, Dissidenten. “Wenn du wirklich etwas über die Menschen in einem Land erfahren willst, das du nicht kennst, dann frag die Leidenden und die Verfolgten.” Oder versuch, das Widerständige und das Nichtangepasste im Leben jener zu entdecken, die sich durch verordnetes “Opium für alle” nicht vom Lebendigsein abhalten lassen.

Opium für das Volk“Die Ukraine,” erklärt ein gewisser Herr Putin, “war immer schon ein Teil Russlands.” Und er meint auch: “Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.” Echt jetzt? Dafür haben wir damals Löcher in den “eisernen Vorhang” gemacht, dass jetzt mit einem “neuen kalten Krieg” wieder die alten Geschäfte betrieben werden können? Dafür haben wir von der Stasi verfolgte Jugendliche, die einfach nur frei denken und reden wollten, unter Lebensgefahr bei ihrer Flucht unterstützt, dass jetzt irgend so ein abgehalfterter Geheimagent aus dem Misthaufen der Geschichte hervor quillt und in die Ukraine einmarschiert – so wie einst Lenin mit seinen roten Garden? Hab ich was nicht mitgekriegt – oder stehen auf einmal die Grenzverschiebungen des Ersten Weltkriegs wieder zur Disposition? Na, dann auf nach Duino und Triest, die Adria war eh schon immer die Krim Österreichs. Oida! Lernens Geschichte, Herr Putin. Wir tun das ja schließlich auch hier …

Apropos Lenin, dessen Rückkehr nach Russland (aus der Schweiz) während des Ersten Weltkriegs war vom Deutschen Kaiserreich betrieben worden und führte nach der Oktoberrevolution genannten Machtergreifung der Bolschewiki zum “Frieden von Brest-Litowsk”, in welchem das inzwischen sowjetisch gewordene Russland auch die Eigenstaatlichkeit der Ukraine anerkannte. Dort war die anarchistisch geprägte “Machnowschtschina” mit der Selbstverwaltung der befreiten Gebiete beschäftigt, die allerdings schon bald von der Roten Armee unter Trotzki vollends zerstört wurden.

Ein Zentrum der Bewegung um Nestor Machno war die Stadt Mariupol. Hab ich grad ein völlig aus der Zeit gefallenes Déjà-vu? Ein bizarr psychotisches Flashback aus einer Zeit vor meiner Zeit? Herr Putin ist entweder ein Hasskasper oder er leidet an einer neuen Form der schleichenden Schizophrenie. Holt Hilfe! Wo steckt eigentlich diese Gretel, wenn man sie schon einmal so dringend braucht? KGB bleibt KGB und das Volksvermögen mit Hilfe von alten (und neuen) Seilschaften an sich bringen ist ein uralter Taschenspielertrick aller Kommunisten, Kapitalisten und Orthodoxen.

Und die Kunst? Unsere Sendungen? Die sprichwörtlich gewordenen Perlen, nach denen wir alldieweil tauchen? Nun, der Historiker Rainer Mausfeld verrät etwa, wie “Demokratie” von den Herrschenden immer nur in dem Ausmaß “gewährt” wird, in dem die Kosten der Repression nicht mehr bezahlbar sind. So ist die Frage “Was kostet das Opium für das Volk?” an jeden Betreiber von “Putimkinschen Dörfern” (oder anderen Fassaden) zu richten. Und der Name des Geschichtslehrers, den der jetzige ukrainische Präsident in “Diener des Volkes” verkörpert, ist ein vielsagender:

Wassyl Holoborodko ist tatsächlich ein ukrainischer Dichter, der zu Sowjetzeiten verboten war, weil er sich weigerte, mit dem KGB “zusammen zu arbeiten” – also seine Kolleg*innen zu bespitzeln und zu verraten. Dieser Code funktioniert nicht nur in der Ukraine – er würde auch in Russland funktionieren. Genau davor fürchtet sich dieser … Wer Gedichte verbietet, ist uns zutiefst zuwider! Zumindest aber ist er ein Soziopath und, um es mit Gunkl auszudrücken: “Den dürfts ned einsperren, den müssts wegsperren! Weil den darf man nimmer unter die Leut lassen …”

Dann ist noch Hoffnung.

 

Diener des Volkes

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. MärzEs ist Medienkrieg. Seit dem 24. 2. wird jetzt reizüberflutet. Auf allen Kanälen. Und das meiste davon ist nur schwer zu ertragen, so viel reißerisches Aktualitätsgehechel, überforderndes Dahergeplapper, pseudoauthentisches Social-Media-Gefuchtel und penetrantes Meinungsgequengel, dass einem sogar das Leben im Hals stecken bleiben will. Was also noch anschauen zum Thema “Ukraine”, ohne dass einem gleich der Hasskasper ins Gemüt scheißt? Wir empfehlen dazu zwei weiterführende Filmwerke, die uns ein bisschen mehr über die Gefühlslage in jenem “tapferen Land” erzählen, von dem zur Zeit überall so viel zu hören ist. Speziell die Serie “Diener des Volkes”, durch deren Wucht Wolodymyr Selenskyj ins Präsidentenamt geweht wurde (und die Wladimir Putin bestimmt hasst).

Diener des VolkesKurz nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine sah ich die ersten paar Folgen dieser ganz hervorragend gemachten Serie, die mit Witz und Verstand sowohl intellektuell als auch volkstümlich funktioniert. Und ich dachte bei mir: “Kein Wunder, dass Putin da jetzt einmarschiert und alles zerstört! Wenn so etwas wie diese Satire mitsamt der daraus entstehenden Politkampagne je in Russland um sich greifen sollte, dann weiß er, dass er endgültig einpacken und zusperren kann.” Selenskyj, der seine Karriere als Komiker (und seine Popularität als Fernsehstar) ja von Moskau aus entwickelt hat, ist wiewohl Hauptdarsteller zuallererst jedoch Autor und Erfinder der Geschichte rund um den Geschichtslehrer Holoborodko. Und als solcher versteht er es meisterlich, Sympathie mit dem “kleinen Helden” auszulösen. Da hat einer seinen Charlie Chaplin aber gut verstanden! Oder, wie ein Wähler einst sagte: “Wenn jemand gute Witze macht, ist diese Person ein kluger Mensch.”

Unsere zweite Filmempfehlung, die vielfach ausgezeichnete Kurzdokumentation “Winter in Lviv” aus dem Jahr 2017, beleuchtet das schwere Leben ganz anderer Diener (hier tatsächlich Dienerinnen) des Volkes, nämlich der “Engel am Boden”. Das eindrücklich ruhige Portrait der Rotkreuzschwestern vom Medico-Sozialen Zentrum in Lviv sowie einiger ihrer Klientinnen bietet uns einen gut fühlbaren Eindruck von deren täglichem Kampf. Der Einrichtung, die für die Überlebenden von Nazi-KZs wie von Sowjet-Gulags da ist, gehen Geld und Medikamente aus…

Thematische Klammer des beeindruckenden Films ist ein ukrainisches Sprichwort:

       “Nicht die alten Leute frage um Rat, sondern die, die gelitten haben.”

 

Lyapis Trubetskoy

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. MärzHierzulande weiß man wenig über die Lebenswelt und Kultur jenseits des kyrillischen Vorhangs. Eigentlich nur das, was uns die jeweiligen Welterklärer in den staats- und marktnahen Medien beibringen. Oder das, was sich aufgrund hoher Reichweite in sozialen Netzwerken durchsetzt. Dabei gibt es in den postsowjetischen Ländern, von denen derzeit dauernd die Rede ist, durchaus kritische Kunstschaffende, die uns vermitteln können, wie sich das Leben dort seit 30 Jahren anfühlt. Die Innenwelt wohlgemerkt, die Phantasien und Gefühle jenseits von Staatsmacht und Kommerz. Die belarussische Band Lyapis Trubetskoy zum Beispiel, die 2014 am Maidan in Kiew aufspielte, und der russische Videokünstler Alexey Terehoff, der einige ihrer besten Musikvideos produziert hat.

Lyapis Trubetskoy AgitpopSchon die Schreibweisen Ляпіс Трубяцкі (belarussisch) und Ляпис Трубецкой (russisch) bereiten uns gewisse Suchmaschinenprobleme. Hinter der digitalen Hemmschwelle jedoch tut sich ein bilderflutender Kosmos auf, der uns unmittelbar ins Fühlen und Verstehen jener ach so geheimnisvollen Gesellschaften hinein zieht, die dort hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang ihr ganz eigenes Wesen entwickeln … Immer aus der Sicht jener nicht im herrschaftlichen Mainstream des verordneten Funktionierens leben wollenden “Abweichler und Widerständler” bieten sie tiefe Einblicke in die feuchten Träume der Machthaberer und auch in die Albträume der Ausgepressten. Wie so ein Post-KGB-Kapitalismus funktioniert, haben sie in ihrem legendären “Kapital” gezeigt (das daher auch in Russland verboten wurde). Verschwitzte Allmachtsphantasien aller Arten werden in “Bolt” atemlosmachend vorgeführt. Gewaltsexuelle Räusche und Verlustängste, die uns schon beim “Aufmarsch der Zipfelmänner” inspirierten.

Was uns die Dichter damit sagen wollen, das entzieht sich (eben weil es Poesie ist) der “offiziellen” Interpretation – das können (und sollen) wir selbst entdecken. Was ist die Botschaft von Броненосец und seiner Verschmelzung von Sergej Eisenstein mit politischer Stencil-Art? Ты ни при чём? Sind wir gefühllos gepanzert gegen das Leiden der Welt? Oder Воины Света, das als “Warriors of Light” zur Hymne des ukrainischen Maidanaufstands verklärt wurde, wie ist der Text zu verstehen?

Verstehe, wer will – hier ein paar mögliche Übersetzungen – wer Ohren hat, zu sehen, der spüre! Was für Drogen nehmen diese Leute? Oder, wie Ostap Bender das in “Zwölf Stühle” weiter gedacht hat: “Was kostet das Opium für das Volk?”

Путинарода (Putinaroda)

Und hier noch das (in unserer Signation verwendete) 12 обезьян von Sänger Sergej Michaloks aktueller Band BRUTTO. Wir finden, SO kann sich der Frieden anfühlen

 

Da Stascheißa Koarl

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. Februar – Die fast schon legendäre Antwort auf die zu vermeidende Frage “Wer?” aus Josef Haders Soloprogramm “Privat” führt uns in die entlegeneren Gegenden angewandter Dialektologie. Mundartwischensaft sozusagen. Ich verwende hier die wienerische Fassung, wie man sie etwa auf der CD (Live im Audimax Wien) findet. Weit verbreitet ist auch der “Stoascheißer Koarl”, eine allgemeinbajuwarische Variante, die weder Dirk Stermann noch Peter.W. richtigrum aussprechen können, ganz ähnlich wie “Oachkatzlschwoaf”. Daher soll Josef Hader in Teilen Deutschlands auch vom “Steinscheißer Karli” erzählt haben. Wie all dem sei (mit den Feinheiten der phonetischen Schreibweise wollen wir gar nicht erst anfangen), dem Hervorbringer desselben sei jedenfalls herzlich zum 60. Geburtstag gratuliert.

Da Stascheißa KoarlDas ist uns ein Bedürfnis und so spielen wir einige Ausschnitte aus seinem wegweisenden Programm “Privat”, mit dem vor nunmehr über 25 Jahren das Kabarettgenre einer regelrechten Revolution ausgesetzt wurde. Es ist bestimmt kein Zufall, dass genau dieses Programm das meistgesehenste der heimischen Satireszene wurde. Ich kann mich auch noch erinnern, wie es in jeder gut sortierten Wohngemeinschaft der 90er Jahre anzutreffen war und für viele meiner Bekannten ein inspirierendes Vademecum durch die Irrungen und Wirrungen der damals um sich greifenden Globalisierung darstellte. Erlösendes Lachen inmitten erodierender Weltbilder drang tröstlich vergnügt durch ein österreichisches Seelenvakuum, das sich seiner eigentlichen Bodenständigkeit im Dreck des Menschlichen weitgehend entfremdet hatte. Eine Anstiftung zum Heimischwerden in sich selbst – trotz alledem.

Meiner Meinung nach lebt dieses Programm (das in Wirklichkeit ein “Stück” ist) von den zahllosen Begegnungen und Interaktionen seines Autors mit einem Publikum, das er in den 80ern immer wieder spontan auf der Straße “bespielte”. Die immense Tiefe und Weite von “Privat” (die mir gerade beim Wiederhören auffällt) schöpft aus einem so breiten Spektrum von verschiedenen Gestalten, wie sie einem eben nur “auf der Straße” widerfahren können. Diese alle in den Stimmungen, Handlungen und Personen seines Kopftheaters zu verdichten ist seine wahre Meisterleistung.

Oder wie Uwe Dick über sein Einpersonenstück “Der Öd” sagte: “Es gibt kein Ich und in jedem von uns streiten sich mehrere Stimmen. Ein Psychodrama. Die Summe vieler, die ich täglich aushalten muss.” Wir sehen, die Idee ist nicht neu – doch die Umsetzung ist einzigartig – und “Privat” ist nach wie vor hoch wirksam. Daher empfehlen wir die Einnahme dieses Gewaltheilmittels wiederholt durchzuführen, am besten ohral (also über die Ohren), weil beim bloßen Hören (ohne begleitendes Bild) unsere Vorstellung dazu angeregt wird, sich die phantastischen Szenarien in aller Dichtheit auszumalen.

Und wie erscheint Josef Hader selbst die heutige politische Großwetterlage?

“Einerseits wissen wir genug, um uns zu fragen, was das Ganze soll. Andererseits sind wir zu deppert, um eine Antwort darauf zu finden. Das ist eigentlich eine Gemeinheit.”

Auf dem Weg in die Altersweisheit hier im profil-Artikel. Wie gesagt, wir gratulieren.

 

André Heller – Mein Hauskonzert

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. Februar“So, ein Lied übers Sterben – Sterben, eines meiner freudigsten Themen.” Der Wiener Allroundkünstler und Zeit seines Lebens Poet und Chansonnier André Heller feiert demnächst seinen 75. Geburtstag. In einem jetzt schon legendären Hauskonzert (es war am 6. Januar auf ORF III zu sehen), von dem es bald hieß, es sei “das eigentliche Neujahrskonzert” gewesen, gelingt ihm die erstaunliche Verschmelzung der Genres und Generationen, die seinen musikalischen Lebensweg geprägt haben. Und zwischendrin erzählt er Geschichten, die alle Grenzen zwischen damals und heute, Diesseits und Jenseits, Realität und Phantasie auflösen – in dem einen rauschhaften Moment gelingenden Lebens, der wie das Leben selbst hier und jetzt stattfindet. So wie in “Papirossi”

André Heller - Mein HauskonzertDas inwendige “Sowohl als auch” von Freude und Traurigkeit, Liebe und Verlust, Wehmut und Seligkeit in der Themenauswahl verdankt er auch der Wiederentdeckung seiner jüdischen Kulturtradition. In Liedern wie “Leon Wolke”, “Onkel Jakob” oder einem genial neu arrangierten “Dem Milners Trern” kommt jene Lebensweisheit ganz unaufgeregt wieder zum Vorschein, die wir heute in Österreich so schmerzlich vermissen. Und weil das schöpferische Grenzgängertum des André Heller auch an den eigenen Übergängen von Leben und Tod rüttelt, und wir gerade unseren lieben Kollegen Roman Reischl verloren haben, spielen wir diesmal einen Zusammenschnitt von besonderen Momenten aus dem besonderen Hauskonzert. Live und unplugged mit Robert Rotifer, Ernst Molden, Der Nino aus Wien, Voodoo Jürgens, Marwan Abado und den Neuen Wiener Concert Schrammeln et cetera pp.

Ebenfalls zu hören André Hellers Anekdote vom “toten Hundertwasser”, in welcher er mehrfach vom Wienerischen ins Hochdeutsch wechselt – und wieder zurück:

I bin in a Taxi eingstiegn – jedes Wort ist wahr, das ich jetzt erzähle – und da Taxler schaut mi on und sogt: „So a Ehre fia mi, doss sie mit mia foan, Herr Hundertwasser.“ I sog goa nix. I sog goa nix und denk ma, wonna wü, doss i da Hundertwasser bin, bin i da Hundertwasser.

Wir foan los, i schau – in seinem Rückspiegel die Entwicklung seines Gesichtes an – ea foad, und plötzlich merk i – da braut sich ein Gedanke zusammen in dem Taxifahrer – und i waaß ned, denk ma, boid wiada irgendwos sogn, vielleicht kummda auf wos drauf oda wos – und dann macht er was ganz Gefährliches: während ea so foad dreht er sich so um zu mir – und sogt: „Es is mia jetz so unongenehm – sie sand jo scho tot.“

Und i bin weidagfoan und ea woa sicha, do hintn sitzt da dode Hundatwossa und die Gschicht hod si.

In diesem Sinn …

 

Geschichten und Geschichte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. JanuarEs gibt Geschichten, die uns Menschen erzählen, die etwas selbst erlebt haben. Und es gibt “die Geschichte”, die in Büchern steht, weil sie eine ominöse “Schreibung” irgendwann festgehalten hat. Die von Menschen selbst erzählten Geschichten wirken wie eine Schutzimpfunggegen die Ansteckung mit irgendwie willkürlich oder einseitig “uminterpretierter Geschichte”. Die Entwicklung des österreichischen Geschichtsverständnisses im Hinblick auf die NS-Vergangenheit – vom Opfermythos über die Waldheim-Affäre bis hin zur Anerkennung der Mittäterschaft – beweist ihre Abhängigkeit von den jeweils vorherrschenden “gesellschaftlichen Strömungen”. Die erzählten Geschichten von Zeitzeug*innen stellen Ankerpunkte dar, um “die Geschichte” daran festzumachen.

Arik Brauer GeschichtenUnd so begegnen uns heute drei Menschen, die, wiewohl jüdischer Herkunft, auf unterschiedlichste Weise dem Vernichtungswahn der NS-Verbrecher entrinnen konnten. Ihre Geschichte(n) übermitteln wir ebenso unterschiedlich ins Hier und Jetzt. In eine Gegenwart, die vor allem Anwesenheit bedeutet. In die Begegenwart sozusagen. Etwa Arik Brauer, dessen Kindheit (und Überleben) in Wien die wunderbare Helene Maimann in einem intimen Filmportrait nachzeichnet. Endlich, nach über 50 Jahren, erfahren wir die Geschichte, die hinter dem Lied vom Spiritus steckt. Damals, vor 50 Jahren, zu Beginn der sagenhaften 70er, einer Zeit der Aufbrüche und Umwälzungen, entdeckte ich noch ein anderes Lied des phantastischen Realisten, das meine Welt gründlich verändern sollte: Sein Köpferl im Sand. In dieser von mir erlebten Geschichte kommt der zweite Überlebende zum Vorschein, nämlich Bruno Kreisky, dessen Geschichte von einer rundum befreienden Atmosphäre alle hier erzählten Geschichten verbindet. “Österreich modernisieren” ist ja derart paradox, es könnte ein jüdischer Witz sein.

“Wie Österreich ausgschaut hat, bevor der drankam, das könnts ihr Jüngeren euch gar nicht vorstellen.” Das sagt der Dritte im Bund, André Heller, über jene Aufbruchszeit. Und erst kürzlich beschrieb er den Aberwitz seines Daseins – im Rahmen von “Mein Hauskonzert”“Wenn der Mussolini nicht 1938 meinen Vater aus dem Gefängnis gerettet hätte, dann würd ich heut nicht dastehen und singen können.” Wie wesentlich wird sein Dasein für die nachfolgenden Generationen und weit über den jüdischen Kulturkreis hinaus sein? Hören wir dazu die Neufassung von Dem Milners Trern.

Weiterführend empfehlen wir die Zeitschrift “Alpendistel” sowie die dazugehörige Sendereihe, wo man sich über die Entwicklung von Erinnerungskultur, auch über den Tod der Zeitzeug*innen hinaus, nützliche Gedanken macht. Zum Beispiel ein Feature mit Robert Kleindienst über seinen aktuellen Roman “Zeit der Häutung”.

 

Lieber Augustin

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. Januar“Wie sie sehen, bin ich sehr beschäftigt. Ich habe eine Epidemie draußen wüten.”, erklärt sich Gevatter Hein dem Volkssänger Augustin bei ihrer Begegnung in der “Roten-Dachl-Schenke”. Doch ungeachtet der unheimlichen Szenerie bringt dieser den Tod (der als Person auftritt) dazu, mit ihm Brüderschaft zu trinken. Und überlebt daraufhin sogar seinen Sturz in eine offene Pestgrube. Nun meinen manche, diese alte Überlieferung aus Wien habe einen durchaus aktuellen Bezug zur gegenwärtigen Corona-Pandemie und sollte gerade jetzt wieder aufgegriffen werden. Chapeau! Wir wiederholen daher das sozialsatirische Hörspiel “Augustin” von Ambros, Tauchen, Prokopetz aus dem Jahr 1980, das wir schon einmal unter dem Titel Weine Frohnachten spielten.

AugustinDer Dreh- und Angelpunkt dieser (so unnachahmlich dargebotenen) Volkssage ist die bereits erwähnte Begegnung von Augustin mit dem Tod: Sich verbrüdern, dem anderen ins Gesicht schauen und erkennen, wer er ist, das alles sind Symbole des Dialogs auf Augenhöhe. Man kann das auch als “vorbehaltloses Annehmen der eigenen Endlichkeit” verstehen – in einer Gesellschaft, die zum Thema Tod und Sterben ein hoch ambivalentes Verhältnis pflegt: Einerseits verdrängen und abschieben ins Krankenhaus und ins Hospizandererseits aber überhöhen und zelebrieren mit Totengedenken und Friedhofskult. Die sprichwörtlich “fröhliche Morbidität” des speziell wienerischen Umgangs mit der Vergänglichkeit (und ihre Verbearbeitung durch Ambros/Prokopetz während der 70er Jahre) hat inzwischen ihren festen Platz in der Literaturkritik wie auch in der Wissenschaft gefunden. Heute jedoch fragen sich manche, ob solch “halblustig verblödelte” Darstellung von Lebensrausch und Seuchentod überhaupt noch gesendet werden DÜRFE – angesichts des Ernsts der Lage ringsin und um uns

Tatsächlich jährt sich der Beginn der Pandemie gerade zum zweiten Mal (am 23. Januar 2020 wurde die erste COVID-Infektion außerhalb Asiens nachgewiesen). Gerade deshalb tut es gut, mit einer gewissen ironischen Distanz auf jedwedes Infektionsgeschehen zu blicken – und dabei hemmungslos, heimlich, verschrullt (oder wie auch immer) zu lachen. Gerade die Karrikatur einer Situation (und sei diese noch so unangenehm) kann uns dabei helfen, ihr gelassener gegenüber zu treten. Und so tun wir, was der ORF (aus unerfindlichen Gründen) nicht tut: Die CD einlegen, auf “Play” drücken – und geht dahin! Fürchtet euch nicht und bedenket:

“Des Leben überleb ma ned.”

 

Stiller Has

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 16. Januar“Das absolute Niemandsland ist nicht in Aarau und nicht in Wallisellen. Es liegt zwischen Vorarlberg und Wien. Erst dort merkt man, was wir an der Schweiz haben.” Endo Anaconda, schillernder Dichter des bärndeutschen Dialekts und als “Stiller Has” legendärer Alchemist zwischen Mundart und Blues. Zwischen Abgrund und Widerspruch blitzt entfesselte Lebenslust hervor, wie wir das sonst nur von alten Meistern wie Artmann, Kreisler, Qualtinger kennen. Da verwundert es nicht, dass der einst als Andreas Flückiger in der Schweiz geborene Wortmetzger und Sprachjongleur auch österreichische Wurzeln hat, was man noch immer deutlich hören kann: Statement zum bedingungslosen Grundeinkommen. Im “Herz der Trostlosigkeit” lauert ein sehr lauter Stiller Has, der nicht schweigen mag:

Endo Anaconda (Stiller Has)“Die Werbung ist für mich ein Gradmesser für die Verkommenheit und Verlogenheit der Geschäftswelt. Sie versucht uns ein Leben im Einzimmerknast schmackhaft zu machen, mit Autos, Gadgets und Schnellfrass.”

Interview im Walliser Boten vom 28. September 2021

Sprachlich bemerkenswert ist außerdem dieser Versuch einer Erklärung (des Phänomens Stiller Has, verfasst von Martin Steiner), in dem es vor fast 20 Jahren heißt: “Wer vom Stillen Has lautstark und wortgewaltig über die Bühne gezogen wird, müsste sich eigentlich von ihm abwenden. Doch der Hase verkauft in der Schweiz mehr Alben als diejenigen, die ans große Geld wollen.” Und weiter: “Schon im Bandnamen lassen sie wissen, dass der Stille Has so manches Osterei an Weihnachten versteckt. Stille Ostern, frohe Nacht.”

Stiller Has (Endo Anaconda) Das gefällt uns – ebenso wie der Umstand, dass viele Lieder und Texte im kommerziellen Internet kaum aufzufinden sind – was ja für deren Qualitäten jenseits blöden Gelddruckenwollens spricht. Auf der Homepage der Band lassen sich einige Schwyzer Gstanzln dem Versuch des Verstehens über alle Dialektgrenzen hinaus unterziehen. Wir grüßen unsere allemannischen Sendungspartner von Radio Proton mit einem köstlichen “Znüni näh”, was überall in Vorarlberg verstanden werden sollte. Für alle anderen sei es hier übersetzt: “Die vormittägliche Jause zu sich nehmen.” Mahlzeit! Ihrer Natur gemäß soll diese Sendung nun “ein ganzes Album” vorstellen, wofür wir das rein berndeutsche “Geisterbahn” vorgesehen haben. Allerdings gibt es eben auch das weitgehend verschollene “Stelzen”, worin sich “auf österreichisch” dargebotene Lieder wie “St. Veit”, “Schweinderl” und “O Herr” befinden. Na, wir werden sehen

Ihr könnt auch schon mal … sehen … hören … spüren

 

Umtausch und Widerspruch

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. Januar – Dies ist nicht der abertausendste Ratgeber für den gelingenden Umtausch von zutiefst unpassenden Geschenken. Auch nicht die x-millionste Widerrufsbelehrung für irgendeinen Kaufvertrag mit dem versprochenen Konsumglück. Geiz ist Heil – das wissen wir seit Karl Markt. Dies ist eine umfassende Reklamation, wie das etwa “Wir sind Helden” schon vor Jahren formuliert haben: “Guten Tag, guten Tag, ich will mein Leben zurück”. Und zugleich unser Widerspruch gegen die herrschenden Geschäftsbedingungen im Namen der poetischen Revolution. Was uns hier angedreht wurde, das funktioniert nicht nur nicht – das widerspricht sich sogar selbst und ist das genaue Gegenteil von dem, als was es uns schmackhaft gemacht worden ist. Also dann: Umtausch!

Widerspruch in sich selbstZum Beispiel “die” oder “eine” Weihnachtsgeschichte – das war heuer wirklich unbefriedigend. Da hab ich erst nach den Feiertagen eine passendere Version entdeckt, die “Ärb’gsuche” von Elisabeth Schrattenholzer. Gegen die möcht ich die alte gern eintauschen. Oder die Republik Österreich, die drückt und zwickt ja auch an allen Ecken und Enden. Ich möcht stattdessen lieber etwas, dessen Verfassung keine ideologische Notgeburt aus der Zertrümmerung der Habsburgermonarchie ist, sondern ein wirklich demokratisches Gemeinwesen. Was – so etwas gibts auf der ganzen Welt nicht? Schöne Bescherung! Dann wirds höchste Zeit, dass wir so etwas endlich herstellen. Derzeit existieren wir in einer Scheindemokratie. In einer Geldscheindemokratie, in der ausschließlich der materielle Gewinn der jeweiligen Begünstigten zählt. Wie entlarvend Sprache doch ist: Es zählt einzig das Zählbare. Was würde der Weise vom Berg dazu sagen? Sepp Forcher zur Lage der Nation.

Es gilt die Unmutsverschuldung. Und unser Unmut ist nicht unerheblich. Ganz im Gegentum. Wir sind zernervt und zornig angesichts dieses Staatszappeltheaters, das in tolaler Überforderung mit sich selbst eine Notverordnung nach der anderen hervor rülpst. Das hätten wir gern ganz gründlich und am besten noch vorgestern umgetauscht. Aber nicht gegen ein anderes autoritäres Regime, das einem längst stinkenden Fisch einen neuen (ewiggestrigen) Kopf aufsetzt (der noch übler stinkt): Verschwörungsepileptiker sind keine Medizin gegen den neoliberalen Ständestaat.

Meine Stimme gegen die der ganzen Talkshownation
Meine Fäuste für ein müdes Halleluja und Bohnen
Meine Zähne gegen eure zahme Revolution
Visionen gegen die totale Television

Es war im Ausverkauf im Angebot die Sonderaktion
Tausche blödes altes Leben gegen neue Version
Ich hatt es kaum zu Hause ausprobiert da wusste ich schon
an dem Produkt ist was kaputt – das ist die Reklamation

Guten Tag – ich will mein Leben zurück

 

Niveau ist keine Hautcreme

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. DezemberInnehalten inmitten des inflationären Geplappers und unterscheiden. Zwischen leerem Geschepper und lebendiger Kunst. Sprache entlarvt. Zuverlässig. Hohle Phrasen sind kein Ersatz für das Eigene. Die stillste Zeit (wie auch immer sie zustandekommen mag) bietet Gelegenheit, genau hinzuhören. Mit allen Sinnen hinzuspüren, inwieweit der Mensch hinter den Worten auch etwas Wesentliches mitzuteilen hat. Oder ob da nur billiges Heischen um Zustimmung (Applaus, Reichweite, Gewinn) stattfindet, das uns seltsam ungesättigt zurücklässt. Sprache auf hohem Niveau bewirkt Verständnis, befördert Einsicht und Mitgefühl und ist zudem rundum wohlschmeckend. Nährwert, nicht Mehrheit. Nicht industrialisierter Leerraumfüllstoff im Menschenmassenmatsch.

Niveau ist keine HautcremeEin Fest der Freude im Radio? Na, dann freuen wir uns doch alle noch einmal über den endlichen Abgang des jüngsten Alt- bezw. längsten Kurzkanzlers aller Zeiten. Er war ein abschreckendes Beispiel für die Schändung der Sprache mit synthetischen Textbausteinen:  Pseudorhetorische Reizwortreihen, die an angemaßter Pose nur noch vom Liederwürgen eines Andreas Gabalier übertroffen werden. Aber fürchtet euch nicht, es gibt fürwahr hochkulturellere Abgänge zu vermelden. So legt unsere langjährige Lieblingsfestspielpräsidentin nach unglaublichen 26 Jahren ihr Amt nieder. Da machen wir uns jetzt aber schon Sorgen, denn an wem sollen wir uns künftighin reiben? Keine konnte so an einem zupfen wie sie! Ihre Bodenständigkeit war ein essenzieller Beitrag zur Identifikation auch der nicht so kunstinteressierten Bevölkerung mit der Institution der Salzburger Festspiele. Und bei aller gebotenen Kritik – wir verdanken ihr durchaus mancherlei Perlen niveauvoller Vortragskunst.

So empfahl sie uns “den wunderbaren Philosophen und Politiker Nida-Rümelin” und siehe da, wir sind mitten in den postitiven Beispielen für “jemand, der etwas zu sagen hat und der das auch verständlich und übereinstimmend tut”. Rhetorik ist eben ein Mittel der Kunst – entscheidend ist, ob dahinter ein Mensch steht oder ein Blob. Besonders deutlich kommt das im Lebenswerk von Georg Stefan Troller zum Ausdruck, der vor kurzem seinen 100. Geburtstag feierte und in einem beachtlichen Gespräch “sein geheimes Drehbuch” enthüllt. Es soll unser Schlusswort sein

Sein Portrait von Ron Kovic (Geboren am 4. Juli) ist Wahrheit in Menschengestalt.