Dream Home Heartache

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. MaiIn Every Dream Home A Heartache – der Song von Roxy Music aus dem Jahr 1973 ist eine jener besonderen Perlen, die noch Jahrzehnte nach dem erstmaligen Erscheinen ihre erstaunliche Wirkung entfalten. Es gibt eine unüberbietbare Liveversion auf dem Album Viva!, dem wir schon einmal eine ganze Sendung gewidmet haben. Heute wollen wir das Stück selbst und seinen Einfluss auf unser Empfinden noch etwas genauer unter die Lupe nehmen. Und so betrachten wir die Geschichte, die uns Bryan Ferry darin verkörpert, deren Text in zwei widersprüchlich erscheinenden, doch auch zutiefst miteinander verbundenen Begrifflichkeiten kulminiert: Dreamhome und Heartache. Was bedeutet das eigentlich – und ist in unser aller Leben wirklich das Süße stets mit dem Bitteren vermischt?

Dream Home Heartache

Exhibition by Magdalena Dukiewicz. Stand4 Gallery, Brooklyn, NY

Im Begleittext zur Ausstellung von Magdalena Dukiewicz heißt es: “Home, a simple four-letter word loaded with diverse meanings … reminds us that home is both where the heart is and where heartache can be.” Und in einer Darstellung namens Stay Home Gallery: “The yellow light coming from inside of the house … is both welcoming and hostile – the place is a shelter that can become a prison.”

Damit ist die Ambivalenz der Gefühle mit all dem, was Home, Dahoam, Heimat, Heim in uns auslösen kann, erst einmal ausgebreitet. Vertiefter noch: “Ich fühle mich nicht so recht zuhause in mir. Ich irre wie fremd in mir umher. Ich habe mir alles so hergerichtet, dass ich mich bei mir geborgen fühle – und dennoch fehlt mir andauernd etwas. Ich spreche mit einer aufblasbaren Sexpuppe – und sie anwortet mir nicht. Ich mache doch alles, um die vollkommene Glückseligkeit zu erreichen – und doch stürze ich immer wieder ab.” Verdichtet ließe sich das dann in etwa so zusammenfassen: “Aus der Mitte entspringt ein Loch.”

Es verwundert also nicht allzusehr, dass etwa Rozz Williams, der tragische Held und Gründer von Christian Death, den Roxy-Music-Song 1995 noch einmal auf seine ganz eigene zutiefst abgründige Art und Weise zum Leben erweckte. Oder dass Andreas Spechtl, den der geheimnisvolle Drogentod von Walter Benjamin 1940 in Portbou lange Zeit in Atemlosigkeit hielt, auf DMD KIU LIDT ausgerechnet jenes Bitter-Sweet von Roxy Music coverte, das Bryan Ferry auch für den Babylon Berlin Soundtrack neu einspielte. Gemeinsam ist all diesen Menschen das Neuerschaffen von etwas …

Oder wie es Bryan Ferry im Interview mit Another Man ausdrückt: “Here’s a guy in the song who has everything and nothing. That’s a very tragic resonance throughout time, people who think they’re trying to get the world and they have nothing. – I always wrote as a character. In some songs it rings more true to me, then there are others that are obviously me assuming a role. As an artist, you have to do that otherwise your horizons would be so limited. You have to expand your consciousness to become someone else, to become another ‘me’.”

Die Grenzen zwischen Kunst und Existenz. Und wenn ja – wohin wir gehen …

 

Meine Pfingstfestspiele

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. Mai – In der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es wörtlich: “Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.” Na dann nehmen wir doch gleich unser Menschenrecht “uns an den Künsten zu erfreuen” in Anspruch und veranstalten wir hier unsere eigenen Pfingstfestspiele. Das freie Radio bietet die Möglichkeit, Menschen mit Musik in Verbindung zu bringen und so dem tieferen Sinn jedweder Festspiele gerecht zu werden, nämlich “Raum für Kunst zu sein, die man so noch nicht kennt”. Genau dem widmet sich diese Sendereihe auch seit ihren Anfängen. Eine gute Gelegenheit zu einer kleinen aber feinen Musikfeierstunde, die Bekanntes in neuer Interpretation genauso vorstellt wie Entlegenes, das eben erst entdeckt wird. Pfingstfestspiele halt.

Meine PfingstfestspieleEine Programmidee auf dem kurzen Weg vom Konzept zum Ergebnis umsetzen zu können, auch das ein Menschenrecht für den sich selbst verwirklichenden Künstler. Es muss nicht immer Hochkultur sein mit all den langen Vorlaufzeiten und den zahllosen Mitwirkenden. Von den gewaltigen Geldmitteln überhaupt ganz zu schweigen. Es darf ein mit wenig Aufwand erzeugtes Biotop sein “….. und irgendwann einmal zwischen Nachmittag und Abend kommen dort zwei Verliebte vorbei oder ein Dichterling – oder sonst irgendjemand, einfach Menschen, und die genießen das, denen sagt das was.” Kaum ereignet sich diese schwer fassbare Berührung, entstehen Gefühle, verknüpfen sich Synapsen zu neuen Verbindungen, tun sich bislang ungedachte Möglichkeiten auf. Ein bezauberndes Beispiel für so eine bio(u)topische Produktion ist der Song “Wann strahlst du?” von Erobique und Jacques Palminger, kongenial vorgetragen von der deutschen Schauspielerin Yvon Jansen im Hildegard-Knef-Stil. Über die Entstehung dieser Art von Musik kann man in diesem wie auch in jenem Artikel nachlesen …

Ich liebe die Träumer, die Aufbruchsgeister
Die überall Samen erkennen
Die Fehlschläge nicht zu ernst nehmen
Und immer das Gute benennen
Nicht die, die die Zukunft auswendig kennen
Begeisterung als Naivität anschau’n
Und dir ihre altbekannten Ängste
Als Ratschläge verpackt um die Ohren hauen

Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?

Ich liebe die, die jeden Einfall ausprobieren
Der Erfahrung ein Schnippchen schlagen
Zwischen Misserfolgen heil hindurchschlängeln
Und deren Augen leuchten, wenn sie fragen
Nicht die, die denken, es lohnt sich doch nicht
Die alles schon immer gewusst haben
Die sagen: „Wozu? Es macht doch keinen Unterschied.“
Und ihre Neugier mit Erfahrungen begraben

Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?

Ich liebe die, die staunen können
Über die Blume auf dem Schrott
Die lieber im Jetzt als im Morgen leben
Und die einfach austreten aus dem Trott

Nicht die, die im Vielleicht und im Irgendwann
Alle Energie vergraben
Und sich mit grauem Trübsinn
Ganz einbalsamiert haben

Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?
Ich schulde dem Leben das Leuchten in meinen Augen
Wann strahlst du?
Wann strahlst du?
Wann strahlst du?

Pfingstfestspiele oder Die Ausgießung des Esprit

 

IDLES – TANGK

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. Mai – Das heutige ganze Album zerlegt unsere Hörgewohnheiten. Und eine viel zu lang hingenommene “Gefühlsrealität”, die uns gefickt eingeschädelt war, warum auch immer. Zerberstend fallen Wut und Verzweiflung über uns her, bis aus den Trümmern der vergehenden Ordnung ein Kind der Liebe hervor wächst. Das Album heißt TANGK und sollte besser nicht in irgendein Genre gezwängt werden, denn es verwendet wohl deren mehrere, steigt aber kraftvoll über solche Kategorien hinaus. Zudem geht es bei TANGK nicht ums Musikbusiness, sondern um Selbsterfahrung, um einen Weg des Gesundwerdens. Daher muss TANGK von den IDLES auch selbst erfahren werden, wozu wir euch jetzt ohne weitere Umschweife einladen. Der Hase hat dazu schon mal genau hingehört:

Idles -TangkDas erste Mal GRACE zu lauschen (was durch Zufall bzw. den Youtube-Vorschläge-Algorithmus passierte) war ein magiegeladener Moment. Ich spürte, wie die Wirklichkeit durchlässig wurde, sich schließlich auflöste, um mich nahezu gleichzeitig in eine neue, veränderte Wirklichkeit zu beamen. Oder war es vielmehr ich, der sich verwandelte? Geht dies Hand in Hand? Nichts war wirklich anders und doch war ich nicht mehr derselbe wie noch knapp vier Minuten zuvor. “No god, no king // I said, love is the thing”, ein Zauberspruch, ein Mantra, eine absolute Wahrheit, wie mir aus der Seele gesungen, in sternheller Nacht, wellenumbrandet, den Sturm in den Venen, zartmütig, bedacht. graceful. delicate. wild.

Ich verfolge das Schaffen von IDLES schon ein paar Jahre. Songs wie Colossus oder Divide & Conquer fand und finde ich großartig, nicht zuletzt wegen ihrer Härte, Widerborstigkeit und Joe Talbots Sprechschreigesang, aber die Werke auf ihrem heuer erschienenen, fünften Studioalbum TANGK haben auf mich fast schon eine hypnotische Wirkung, selbst nach mehrmaligem Hören, nein, dadurch sogar potenziert. Schon beim Opener IDEA 01 wird die Komplexität der Musik deutlich, die durch Loops, Schichtungen, Verzerrung, rhythmische Eigensinnigkeit, atmosphärische Sounds, Poesie und gut fünfzehn Jahre gemeinsamer Kreativarbeit entsteht. Vielleicht etwas weniger aggressiv und die Gehörgänge fickend als auf vergangenen Alben, aber genauso tanzbar, vor Lebenskraft pulsierend, räudig wo es sein muss, gefühlvoll, verletzlich, ohne pathetisch zu werden. Es ist ein Album der Liebe, der Dankbarkeit, der Kraft. Ein Album über “die Facetten von Liebe, die nicht so konventionell aber sehr wichtig sind: Empathie, Geduld, Ehrlichkeit, Gemeinschaft, harte Arbeit und Heilung, Vergebung.”, wie es Sänger und Texter Joe Talbot in diesem NME-Interview beschreibt. Stärke aus Zerbrechlichkeit. Freude aus Schmerz. Liebe trotz allem.

IDLES ist ein sehr rundes, stimmiges, komplexes und aufrichtiges Werk gelungen, das nicht nur durch Musik und Text beeindruckt, sondern auch durch die Produktion (unter anderem hat Radiohead-Produzent Nigel Godrich mitgewirkt), durch das Artwork und die Musikvideos. Außerdem ist es mehr als sinnvoll in solch psychotischen Zeiten Liebeslieder zu dichten, ich würde sogar sagen, es ist gesund.

all is love and love is all

 

Burn The World

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. März – Um das Jahr 1990 herum tauchte in Salzburg ein junger Mann aus England auf, der uns mit Hingabe und Begeisterung von einem Musiker namens Roy Harper erzählte. Dieser sei schon seit den 60ern in der britischen Musikszene aktiv und habe einige der erfolgreichsten Rockgrößen maßgeblich beeinflusst, ja sogar mit ihnen zusammen gespielt, ohne jedoch selbst jemals “berühmt” geworden zu sein (außer in Insiderkreisen). Wer denn da so alles dabei gewesen sei, fragte ich, und hörte Namen wie Led Zeppelin, Pink Floyd, Jethro Tull, Kate Bush und Paul McCartney. Davon durchaus beeindruckt kaufte ich mir eine (damals noch) Schallplatte, auf der das eigenartige Stück “Burn The World (Part 1)” enthalten war, das auch der Ausgangspunkt für unsere heutige Hörreise sein wrd …

Roy Harper - Burn The WorldDenn der gute Mann da auf dem Cover ist nicht nur eine sozusagen unberühmte Berühmtheit. Es hat sehr gute Gründe, weshalb ihn so viele anerkannte Größen aus der Wunderküche der Rockmusik als einen wesentlichen Ideengeber für ihr künstlerisches Schaffen und ihre Weiterentwicklung begreifen. Nicht nur, dass er ein beachtlicher Gitarrist und ein hochkomplexer Lyriker ist, nein, da ist nocht etwas anderes: Roy Harper ist eine Art nimmermüder Ideenschleuderer, ein Darstellungsschamane seiner eigenen Innenwelt, der einfach nur einen Entwurf nach dem anderen “raushaut” zur freien Entnahme und “to whom it may concern”. Der Begriff Ent-Wurf ist hier wichtig, denn seine Werke sind irgendwie unfertig, sind Skizzen, Andeutungen, Ideen, gerade so weit ausgearbeitet, dass man erkennen kann, worum es geht – und doch zugleich so interpretationsoffen und zum Selbstweiterbasteln einladend, dass man sie gern aufgreift, sich anverwandelt und zu etwas Neuem und Eigenem umformt, gestaltet, transformiert. So gelangt das, was einer sieht, durch viele andere nach außen

Burn the World – ein Verwandlungsphänomen. Und gerade diese 1990 entstandene Arbeit über das Verbrennen der Welt – was wird hier angesprochen – Klimawandel? Revolution? Gewalt? Hass? Vergebung? Tod? Auferstehung? Wiedergeburt? – diese Collage aus Bildern und Visionen, aus An- und Bedeutungen, aus Klängen, Schreien, rasenden Empfindungen und einem offenen Ende – dieses im Jahr 1990 als gut 18minütiges Livesolo in London aufgezeichnete Inspirationskonglomerat kann uns zum Verwandeltwerden wie zum selbstmächtigen Verwandeln anregen.

Burn the World – es ist höchste Zeit.

 

I killed my mother

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. März – Es kommt sehr darauf an, wozu man “hässliche Bilder” verwendet. Indem man etwa über die Beschaffenheit von Gewalt berichtet, wie sie entsteht, gegen wen sie sich richtet und was sie letztendlich bewirkt. Der junge Regisseur Xavier Dolan ist ein Meister in der Darstellung des Abgründigen und führt uns vor Augen, wie sich weitgehend verheimlichter Missbrauch von Macht für seine Opfer anfühlt und auf ein ganzes Gemeinwesen auswirkt. In seinem ersten Spielfilm “I killed my mother” flößt er uns fast unmerklich ein Gefühl dafür ein, auf welch verzweifelt tragische Weise die unerkannte Schuld der Verursacherin mit dem alles Lebendige bedrohenden schlechten Gewissen des ihr Ausgelieferten kollidiert. Dabei hat sich die Mutter doch nur Enkelkinder von ihrem schwulen Sohn gewünscht.

I killed my MotherÜber die Bildwelten des queeren Kino-Wunderkinds mag man sich aus Geschmacksgründen streiten, zu den von ihm gewählten Themen passen sie allerdings stets wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wie das Video zu “College Boy” von Indochine eindrucksvoll zeigt. Dieser Kurzfilm/Clip wurde wegen seiner drastischen Gewaltdarstellung noch dazu in Verbindung mit “christlicher Symbolik” vehement kritisiert und ist daher im Zuge der Mundgerechtmachung des kommerziellen Internets (andere nennen es Zensur) kaum irgendwo im Original zu finden. Ähnlich ergeht es auch vielen Videos der französischen Anarchistenband Achab, deren “Un Monde formidable” wir uns und euch im heutigen Kontext nicht vorenthalten wollen. Thomas Bernhard, Edward Snowden, Julian Assange? – Als Nestbeschmutzer (und Schlimmeres) gilt, wer auf verborgene Verbrechen hinweist.

Womit wir wiederum beim eingangs erwähnten Film “I killed my mother” ankommen. Was auf der einen Seite als völlig normal gilt, als ganz und gar natürlicher Wunsch “jeder Mutter”, nämlich von ihren Kindern Enkelkinder “zu bekommen”, das erweist sich auf der anderen Seite als unerkannter emotionaler Missbrauch, der bei seinen Opfern Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Gesundsein und Lebenwollen hervorruft. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr also, die aufzudecken, zu benennen und einer sie weitgehend ignorierenden Gesellschaft ins Bewusstsein zu stellen, sicher kein Verbrechen ist – sondern ein unschätzbarer Verdienst am Gemeinwohl.

Noch dazu unter Zuhilfenahme von so wunderbarer Musik wie etwa dieser hier.

PS. Portrait von Xavier Dolan aus dem Jahr 2011, das auch die recht spezielle Entstehungsgeschichte seines ersten Films “I killed my mother” beleuchtet.

 

Peter Gabriel – i/o (das Album)

> Sondersendung: Artarium vom Sonntag, 10. MärzJa, da schau her, eine Doppelstunde. Warum denn das? Weil Peter Gabriel (nicht der evangelische Pfarrer aus Hallein) ein neues Album herausgebracht hat. Und das ist uns eine Betrachtung wert, die über das übliche Vorstellen und Abspielen desselben hinaus geht. Nicht, dass wir es nicht spielen würden – allerdings erst in der zweiten Stunde, nachdem wir zuvor einige inhaltliche Anregungen aus dem Gabriel’schen Gesamtwerk beleuchten wollen. Über das Album i/o selbst (das bei uns im Dark-Side-Mix stattfinden wird) ist eh schon allerhand Sinnvolles gesagt worden. Über seine eigenartige Entstehung lässt sich auch auf Wikipedia noch einiges erfahren. Dass Peter Gabriel uns sowohl im Artarium als auch bei der Nachtfahrt schon länger begleitet, dürfte bekannt sein.

Peter Gabriel i/o CoverDas erste, was uns aus dem neuen Album ins Auge sprang, war das KI-generierte Video zu “Panopticom”. Allein dieser Begriff und die dazu angestellten Überlegungen aus der wundersamen Welt im Kopf des Erfinders würden längere Studien erfordern. Die Ideen dahinter sind aus einer selbstermächtigenden Umkehrantwort auf jenes im 18. Jahrhundert von Jeremy Bentham erdachte “Panopticon” entstanden, das später als Grundkonzept für die Gefängnisarchitektur diente und als Urstruktur jedweder zentralisierter Überwachung gilt. Dass sich ein ausgewiesener Menschenrechtsaktivist wie Peter Gabriel, immerhin Mitbegründer von Organisationen wie Witness und The Elders, für die Umkehrung oder besser noch Auflösung unterdrückerischer Machtverhältnisse einsetzt, liegt auf der Hand. Dass er uns in seine vielschichtigen Überlegungen dazu, dahinter und noch darüber hinaus einlädt, das ist eine Herausforderung an unsere Phantasie – und erfordert eben ausführlichere “Studien” im Sinn eines Überwindens von überkommenen Vorstellungen, Denkstrukturen und Gefühlsgewohnheiten

Doch wie soll das gehen? Hier kommt die andere Seite von Peter Gabriel ins Spiel, die uns schon immer fasziniert und beeindruckt hat. Und hier tut sich eine mögliche Verbindung zwischen der Innenwelt jedes Einzelnen und der “Welt da draußen” mit all ihren scheinbar so unverrückbaren Gegebenheiten auf. “Sind es die falschen Geschichten, die wir uns kollektiv erzählen?” fragt sich der Biologe und Genetiker Johannes Vogel. Der selbst- und therapieerfahrene Musikkünstler Peter Gabriel hat sich in seinen Arbeiten immer wieder dort hinein versetzt, wo diese entstehen.

In der Psyche von Menschen in Extremsituationen wird deutlich, was da alles aus dem Abgrund des Unbewussten empor steigt, um uns entgegen aller Absichten “fernzusteuern”. Zum Beispiel “Intruder” (1980) oder “Mercy Street” (1986) oder auch “Darkness” (2002)immer wieder lebt sich Peter Gabriel als Protagonist innerseelischer Vorgänge dar, die mit seiner eigenen Gefühlswelt verbunden sind, und das spürt man auch. Jetzt führt er auf “Live and let live” einen neuen Begriff ein – “Forgiveness”, einen Schlüssel zur persönlichen wie auch kollektiven Befreiung.

 

Wie auch immer das gemeint sein sollte, wir wollen es uns genauer anschauen.

 

PS. Mitlesen macht schlau: Die Songtexte zum ganzen Album von Peter Gabriel.

 

Navigating by the Stars

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. FebruarWir spielen heute das ganze Album “Navigating by the Stars” von Justin Sullivan, dem wir über die Jahre schon in vielerlei verschiedenen Facetten seines Schaffens begegnet sind. Zunächst einmal in seiner bekanntesten Erscheinungsform als Sänger und Texter von New Model Army oder im Anagramm ihrer selbst Raw Melody Men. Sodann auch gemeinsam mit Joolz Denby als Teil des Trios Red Sky Coven, das Musik mit Geschichten und Gedichten verknüpft. Und nicht zuletzt als genauso feinsinniger wie gefühlvoller Kulturkritiker, der uns bei generellen Gedanken zum Wesen des Zuhörens befruchtete. Also wenn sich jemand schon so oft und auf vielfältige Weise in unseren Sendungsthemen und Musikauswahlen bemerkbar gemacht hat – dann bitte auch sein erstes Soloalbum!

Justin Sullivan - Navigating by the StarsDoch einmal abgesehen von der reinen Vollständigkeit des lyrischen Kosmos gibt es ein paar weitere Gründe, weshalb wir Navigating by the Stars für höchst hörenswert erachten und es euch daher auch unbedingt ans Herz legen wollen. Ich zum Beispiel mag keine in die Jahre gekommenen Poseure, die wie ständig wiederauferstehende Folklorezombies eine einstmals eingeschlagene Stilrichtung zum Blödspaß und Kassengeklingel des Publikums bis zum Erbrechen wieder und wieder wiederholen. Das hört (und spürt) sich für mich an wie tagein tagaus das Immergleiche essen und dabei nicht einmal merken, dass es längst fad schmeckt. Justin Sullivan dagegen ist ein Künstler, dessen Gefühlswelt und Ausdrucksform sich seiner Lebenserfahrung gemäß verändert, ohne dass seine Person dabei nicht mehr zu erkennen wäre. Das ist durchaus etwas Erwähnenswertes in diesen Zeiten gestaltloser Beliebigkeit um des Geldes Marktes Erfolges willen. Ihn beschäftigen die Themen, die das Leben in seine Welt spült, mit zunehmendem Alter anders als früher und das hört man auch.

Schon auf früheren Alben von New Model Army finden sich einige ruhige, nach innen gekehrte Balladen, die von Endlichkeit und Verwandlung erzählen, wie zum Beispiel das zutiefst berührende “Marrakesh”. Oder das ganz stille Lied “Nothing Touches”, in dem eine zunehmende Gefühllosigkeit und das gleichzeitig vorhandene Bedürfnis nach unmittelbarer Berührung dargestellt werden. Jetzt zum Vergleich “Sentry” aus Navigating by the Stars, das die andauernde Ambivalenz von einerseits Sinnsuche und andererseits Zusammenhanglosigkeit in Gestalt des einsamen Soldaten zeigt:

I’ve seen so much more than I wanted to see
The flies all swarming round in the blistering heat
Layer upon layer here of the same old curse
The red blood draining until the blood red earth
In the end we tell the stories just the same
And only the names are changed

Dass wir mit diesen Gefühlen nicht am Grund des Abgrunds aufschlagen (und gibt es in der Bodenlosigkeit überhaupt so etwas), das vermittelt uns auf vielfältige Weise (im Text, in der Musik, in der Stimmung, im Arrangement) das in unseren Augen und Ohren Meisterstück dieses Albums “Green”. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Übergangs von einer Welt in die nächste, von einer Gefühlsbefindlichkeit in die Erweiterung derselben und von einem Bewusstseinszustand in einen anderen (um hier nur einige zu nennen). Nie war Fliegen beim Zuhören selbstverständlicher

Tonight again I′ll dream I’m walking across the room in the moonlight
I′ll throw the windows open wide
Smell the falling dew outside
I’ll climb out onto the roof
Close my eyes
And I’ll begin to fly

 

Leoparden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. Januar – Warum eröffne ich die heutige Sendung mit einem Joseph-Goebbels-Zitat? Wo es doch eigentlich um mein ganz persönliches Begleitwesen gehen soll – den Leoparden. Das hat viel mit dessen Vielgestaltigkeit in meinem Leben zu tun, taucht er oder sie (und manchmal sind es auch viele) doch oft als Beschützer, als Weggefährte, als Ideenspenderund als zutiefst beruhigende Erinnerung an meine Lebendigkeit auf. Meine ursprüngliche Wesensart, die jahrzehntelang unter traumatischen Verrenkungen verschüttet vor sich hin schwelte, in der zugemüllten Umgebung von Familienangehörigen, die durch ihren Glauben an den Nazischwachsinn geradezu lebensgefährlich waren für jedes lebenwollende Kind (wie ich eines war – und nach wie vor bin). So reimt sich das

Panther sind eben auch LeopardenDer Panther, den Rilke in seinem Gedicht so meisterlich beschreibt, ist übrigens ebenfalls ein Leopard. Das wusste ich mit ungefähr sieben Jahren noch nicht. Damals verliebte ich mich in einen der 3 Jungs aus der Comicserie Roy Tiger, nämlich Khamar, der mit seinem Begleittier Sheeta (einem schwarzen Panther) nicht nur irgendwie kommunizieren konnte, sondern von ihm sogar aus realen Gefahren gerettet wurde. Sowas wollte ich auch, und zwar dermaßen, dass ich mir von meiner Mutter zu Ostern nichts anderes wünschte, als eine Begegnung mit diesem Typen, egal ob in Salzburg oder in Indien. Ihre Antwort war niederschmetternd und versetzte mein Verständnis von Phantasie und Realität (und ihr sich wechselseitig bedingendes Verhältnis) für lange Zeit in einen unlösbaren Konflikt. Ich erhielt am Ostermorgen einen Brief von Khamar, allerdings in ihrer Handschrift, die ich sogleich erkannte. Das allein schon war eine Beleidigung.

Der Inhalt des Briefs jedoch zerstörte meine Welt. Mein Angebeteter teilte mir darin mit, dass ein Treffen mit mir unmöglich sei, und zwar mit folgender Begründung: “Mich gibt es nur in deiner Phantasie, nicht aber in der Wirklichkeit.” In der Handschrift meiner Mutter wohlgemerkt. Damals verließ ich sie innerlich für immer und kam auch später nur noch in manchen Bestandteilen wieder zu ihr zurück, soweit dies für mein Überleben eben notwendig war. Heute zerknurren mir meine Leoparden diese Angst, die mich so lang davon abgelenkt hat, mich selbst wieder als Ganzes zu erleben.

Was das jetzt wiederum mit Wolfgang Niedecken zu tun hat? Einmal abgesehen von den Leoparden-Assoziationen, die sein meisterliches Bob-Dylan-auf-Kölsch-Album “Leopardefell” bei mir hervorruft, ist er ein Bruder im Geist, was das Verbearbeiten von traumatischem “Nicht-mehr-miteinander-reden-können” oder “Einander-nicht-mehr-erreichen” anbelangt. In seiner Autobiographie “Für ’ne Moment” beschreibt er beeindruckend, wie schleichend das Schweigen zwischen ihm und seinem Vater ausbricht. Bei “Diskretion” aber beginnt jemand in mir erkennend zu schnuppern

Verdammp lang her   …   Den Text von BAP auf Kölsch und Hochdeutsch gibts hier.

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

Tarot Suite (Mike Batt & Friends)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JanuarDas neue Artariumjahr beginnt mit einem ganzen Album, nämlich ­“Tarot Suite” von Mike Batt & Friends. Und was für Friends da versammelt sind: Neben dem London Symphony Orchestra treten da etwa Rory Gallagher, Roger Chapman, Mel Collins und natürlich der Meister selbst (an den Keyboards) auf. Umso erstaunlicher, dass dieses grandiose Konzeptalbum aus dem Jahr 1979 in der Musikwelt weitgehend unbeachtet geblieben ist, was sich an diesem Artikel/Thread beispielhaft nachvollziehen lässt. Woran auch immer das liegen mag (wahrscheinlich ein sehr multifaktorielles Geschehen), wir erachten “Tarot Suite” für ein sträflich unterschätztes Meisterwerk der Musikgeschichte. Hier begegnen sich Klassik und Rockmusik in einer seltenen Synthese, gehen geradezu ineinander auf.

Mike Batt and Friends - Tarot SuiteDazu kommt noch die vielschichtige Konzeptarbeit, die jedes einzelne Musikstück mit mehreren Aspekten der “Großen Arkana” (Tarotkarten) verknüpft. Dies wurde im Artwork des Albums (wie zu jener Zeit nicht unüblich) hingebungsvoll erläutert – und stellt doch nur eine von vielen Ebenen der ganzen Geschichte dar (was bei der Komplexität der darin verhandelten Themen verständlich ist). Mir ist dieses epische Werk zu Beginn der 80er Jahre durch einen Zufall begegnet, als ich es nämlich  in einem Lokal hörte und sogleich davon fasziniert war. Es war “aufs erste Hinhören” so viel Verschiedenartiges auf einmal wahrzunehmen, dass ich mir diese im wahrsten Wortsinn symphonische Dichtung unbedingt besorgen musste, um sie einerseits allein und andrerseits mit kunstsinnigen Freunden gemeinsam wieder und wieder anzuhören, mir die vielen darin versteckten Geschichten sozusagen Schicht um Schicht zu erschließen. Das ging dann soweit, dass wir vier Unzertrennlichen eines Nachts in Begleitung dieses Soundtracks für Seelenreisende rundum illuminiert ins Steinerne Theater pilgerten.

Gerade im Salzburg der 70er Jahre, wo der scheinbar für alle Zeiten einbalsamierte karajanoide Kanon das einzig wahre und ewiggültige Kunstverständnis nachgerade flächendeckend (bis in unsere Herzen und Hirne) verbreitete und es mit Zähnen und Klauen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigtegerade in dem Kontext war symphonische Musik, die zum Beispiel völlig selbstverständlich eine E-Gitarre als Soloinstrument im Orchester verwendete, schon eine ordentliche Offenbarung. Und dann erst der Inhalt: Eine Erzählung für eine emanzipatorischen Entwicklung.

Vieles davon wird in dem rockigen Titel “Imbecile” erkennbar, der die Tarotkarten des Narren sowie des Magiers zu einem Zwiegespräch versammelt, das an seinem Ende in ein friedvolles Verständnis des jeweils Anderen übergeht und so eine Perspektive des Wandels erzeugt. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verwandelt sich in ein Wir. Das, was uns – in allem was uns trennt – gemein ist, tritt als das hervor, was wir gemeinsam sind. Diese letzte Strophe – meisterlich dargeboten von Roger Chapman – soll uns hier textlich auf die inhaltlichen Ebenen einstimmen:

 

“We both are right”, said the sorcerer
“And both of us are wrong
For though we walk this road we don’t know where it leads
We only know it’s long

You have something to learn from me
And I can learn from you
You with your jokes and simple plans
And me with my tricks and sleight of hands
Together we could get through

Imbeciles, we are dancing down a darkened road
Though the stars are out, not one of us knows the way
Imbeciles up ahead of us and millions more behind
And we’re laughing and smiling
That’s why I say we’re all of us Imbeciles”

 

Karajan wouldn’t have liked it.