Menschliche Geschichten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. November“Geldsäckulum, gstinkerts!” Dieses Wort von Uwe Dick eignet sich trefflich als Motto für ein weiteres Jahrhundert des “Ökonomischen Diktats”. Oder für eine Fußballweltmeisterschaft, die unter den widerlichsten Machtzwängen absolutistischer Geldherrschaft zustande gekommen wurde. “Massenblödien, Quasselödien, Kassenschmähdien!”, ruft Uwe Dick in den aktualitätsfixierten Mediendschungel. Der letzte deutsche Fußballtrainer, der sich noch traut, in Interviews plötzlich menschliche Geschichten anzusprechen, meint dazu: “Wenn du auf die Welt schaust, was für Wahnsinnige da überall an der Regierung sind, und wie sie sich die Taschen voll machen – das ist halt teilweise im Fußball auch so. Das ist unser großes Problem, das wir gesellschaftlich haben.” Christian Streich

Menschliche GeschichtenReisen wir in die Vergangenheit (die Fotos vom “Weltmeisterzug” hat die Grupa Szukająca Włazu bereitgestellt) und schauen wir uns im Jahr 1954 um, als die deutschen Nationalspieler für die Dauer ihrer WM-Teilnahme Verdienstentgang bezahlt bekamen und sonst nichts. Sönke Wortmann hat 2003 einen Spielfilm über das “Wunder von Bern” gedreht, der zunächst wie ein flachlustig rührseliges Heldenepos daher kommt, auf den zweiten Blick (oder für das entsprechende Feingefühl) aber auch eine ganz andere Geschichte erzählt. Der eigentliche Held ist nämlich der 11-jährige Matthias, der stellvertretend für uns alle die Folgeschäden und Traumatisierungen in Nachkriegsdeutschland erleidet. Doch Sönke Wortmann gelingt es, sämtliche Gefahren und Bedrohlichkeiten durch “wundersame Wendungen” dahingehend umzudichten, dass er eigentlich jenes Wunder erzählt, wie eine “Heilung der Vergangenheit” tatsächlich stattfinden kann.

Brita Steinwendtner wählt wiederum einen anderen Weg, um die Geschichten, die uns Dichter*innen erzählen, mit deren Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen und sie dergestalt zu “verlebendigen”, also auch für uns Nachgeborene erlebbar – und somit wirksam zu machen. Im neuen Band “An den Gestaden des Wortes” aus ihrer Reihe “Dichterlandschaften” reist sie nicht nur durch die Zeit, sondern auch zu den Orten, wo sich deren Wirklichkeit, Imagination und Inspiration mit einander verbunden haben – und sie lädt uns ein, mit ihr auf eine magische Reise zu gehen.

Geschichte mit Gefühl nachvollziehbar zu machen, das verwandelt Geschichte in zutiefst menschliche Geschichten.

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”

 

Zusammenhang

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. Oktober“In the blood of Eden lie the woman and the man with the man in the woman and the woman in the man.” Den gleichnamigen Peter-Gabriel-Song hören wir am Anfang in der Interpretation von Regina Spektor. Frau und Mann – wo ist der Zusammenhang? Womöglich wird etwas von unserer gemeinsamen Menschverwandtschaft in uns selbst deutlich, wenn wir erleben, wie verschiedene Frauen Songs covern, die ursprünglich von Männern komponiert, getextet und vorgetragen wurden. Wie etwa das von R.E.M. stammende “The one I love” in einer beachtlichen Version von Widowspeak oder aber der Jimi-Hendrix-Klassiker “Hey Joe” in der Verbearbeitung von Charlotte Gainsbourg. Unter der Oberfläche unseres Gewohntseins lauern viele Seelen.

ZusammenhangWar es nicht C. G. Jung, dessen Archetypen Animus und Anima einen schönen (und naturgemäß weiterzudenkenden) Entwurf zum Verständnis der innerseelischen Wechselwirkungen vorstellte? “Jung betonte, dass Animus und Anima, wie alle Archetypen, von sich aus günstige und ungünstige, helle und dunkle, gute und böse Wirkungen entfalten.“ Ja, da schau her. Wie dämlich wirken dagegen die plumpen Versuche, uns ein stereotyp eindimensionales Mann/Frau/Selbstbild aufpfropfen und ins Bewusstsein schwindeln zu wollen. Der Mensch stirbt innerlich ab, er/sie/es geht an innerer Langeweile und Bewegungslosigkeit zugrunde, wenn die wildgewordenen Psychobrachialmechaniker versuchen, uns davon zu befreien, was ihnen oder sonstwem Angst macht. Die perversen Auswüchse solcher Umtriebe auf ganze Gesellschaften beleuchtet die Dokumentation “The Century of the Self 2” Warnhinweis in unser aller eigenster Sache: Menschen sind kein Industrieprodukt!

Der Mensch stirbt vor Schreck, wenn er plötzlich erkennt, dass er die Hälfte seines inneren Wesens erfolgreich ausgerottet hat. Der Mensch kann aber durchaus auch mit dieser anderen Hälfte in sich zusammen wirken und sich dergestalt auf jenes unendliche Abenteuer einlassen, das in den interessanteren Kreisen gemeinhin das Leben genannt wird. Hören wir hierzu das Punk-Duett von NOFX und Sarah Sandin bei “Lori Meyers” sowie Käptn Pengs hip-hopoide Würdigung zweier Menschen, die sich in Füchse verwandeln – und was danach geschah – in “Sie mögen sich”.

“Frau und Mann, aus und an, schau dich an, du bist der Zusammenhang …”

Wir hängen zusammen

 

Aphrodite’s Child – 666 (Album)

> Sendung(en) allhier nachzuhören: Aphrodite’s Child 666 (das ganze Album) sowie Aphrodite’s Child & Peter Gabriel (von der Apokalypse hin zur Passion)

Artarium vom Sonntag, 16. Oktober (von 16:00 bis 18:00 Uhr): Wer kann die Zahl des Tieres verstehen? In der Apokalypse/Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, wird sie als 666 (sechshundertsechsundsechzig) bezeichnet. Und die möglichen Deutungen sind – Rabimmel Rabammel – zum schwindligwerden zahllos und seltsam. Die griechische Rockband Aphrodite’s Child hat das biblische Buch als Ausgangspunkt für ihr legendäres Album 666 ausgewählt – und daraus vor über 50 Jahren (Juhubiläum!) ein psychoakustisches Kopftheater erzeugt, dass es einem noch heute sämtliche Bedeutungsebenen durcheinander schiebt. Nun bringen wir das zeitlose Meisterwerk, das wir unlängst in Ausschnitten betrachtet haben, auf vielfachen Wunsch in seiner ganzen Gesamtheit zu Gehör. Daher die Doppelstunde.

Aphrodite's Child 666 Album CoverAnschließend an das überlange Konzeptdoppelalbum mit seinen ca. 79 Minuten Laufzeit werden wir auch wieder auf die Verfilmung von “Die letzte Versuchung” mit dem genialen Soundtrack “Passion” von Peter Gabriel zu sprechen kommen, allerdings diesmal mit ausführlichen Klangbeispielen, ganz im Sinn der Beobachtung “Wenn Griechen sich an biblischen Themen abarbeiten…” sowie der daraus erwachsenden Möglichkeiten zum Selberdenken. Nikos Katzanzakis beschrieb sein Romanprojekt als “den mühevollen Versuch, Christus leibhaftig darzustellen, ohne die Verdunklungen, Verfälschungen und Unwichtigkeiten, mit denen er von den Kirchen und Kuttenträgern ….. entstellt wurde”. Das hat ihm noch posthum die Verweigerung seines Friedhofsbegräbnisses durch die griechisch-orthodoxe Kirche eingebracht, und die römisch-katholische setzte sein Buch 1954 auf den dazumals noch bestehenden Index der verbotenen Bücher. Jössas! Unser Prädikat: Unbedingt lesenswert. Und vor allem anregend – zur längst überfälligen Entzauberung des Kindes, das man nicht mit dem Bad ausschütten muss.

Peter Gabriel Passion Album“Das bunte Kind, es grinst aus deinem Inneren, ist immer noch zu jedem Mist bereit …” So heißt es in “Die Phantasie wird siegen” von Max Prosa. Die wilde Schaffenslust der vor der damaligen griechischen Militärdiktatur reißaus nehmenden Künstler_innen, die hinter der Entstehung des Kultalbums 666 stecken, ist hier beispielgebend dokumentiert. Erstaunlich dabei ist vor allem, dass Textdichter und Konzeptentwickler Costas Ferris schon damals eine Projektidee mit dem Titel “Passion” in Arbeit hatte, die dann wegen des Erscheinens von “Jesus Christ Superstar” zurückgestellt wurde. “Da hat wider einer seinen Katzanzakis gelesen”, denk ich mir, und: “So treffen sich die roten Fäden all der schöpferischen Ideen – naturgemäß.” Wie dem auch sei, auch wir glauben an den Zusammenhang hinter dem Anscheinenden und empfehlen dazu Übungen in Phantasie. Sagen wirs einmal ohne Krieg, jenseits von Gut und Böse: Die Phantasie wird siegen – und die Realität wird vergehen – ganz einfach so …

 

Aus einer Zeit vor unserer Zeit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. September – Es war einmal eine Zeit, in der man den Übergang von alten, bösen Zuständen in neue, bessere Zukünfte förmlich zu riechen und zu schmecken glaubte. Nie wieder sollten irgendwelche hoffnungslos rückwärtsgewandten Trottel mit ihren wahnsinnigen Ideologien die Welt in Krieg und Zerstörung stürzen. Vielmehr sollte ein neues Zeitalter der friedlichen Entwicklung anbrechen und mit der Zeit alle Ursachen von Ungerechtigkeit und Unterdrückung auf der ganzen Welt überwinden. Halleluja! In Griechenland begannen drei Freunde damit, psychedelische Popmusik herzustellen. Sie nannten sich Aphrodite’s Child und feierten erste Erfolge, als ein paar hoffnungslos rückwärtsgewandte Trottel dort eine Militärdiktatur einführten und so jeglichen künstlerischen Freiraum abwürgten.

Aus einer Zeit vor unserer ZeitKein Wunder, dass unsere Freunde sich (gemeinsam mit vielen anderen Regimegegnern) vor den Gefahren des Gefoltertwerdens erstmal in Sicherheit brachten, auch um ihre progressiven Musikprojekte weiter unzensiert vorantreiben zu können. Sie gelangten auf verschlungenen Wegen nach Paris und spielten dort das Konzept-Doppelalbum 666 ein, das bis heute als wegweisend und stilbildend für die gesamte Zeit des Progressive-Rock gilt. Ungeachtet all seiner Entstehungsumstände (es wurde zum Beispiel im legendären Europa Sonor Studio aufgenommen, wo Pink Floyd später ihren Klassiker Dark Side Of The Moon herstellten) ragt das Meisterstück von Aphrodite’s Child weit über die Zeit seiner Entstehung hinaus – auch bis in unsere Zeit hinein. Warum? Weil es die Bilder der Apokalypse des Johannes (Offenbarung) und somit das “Ende der Welt” zum Thema hat – und diese an sich schon verstörenden Motive mit verschiedensten Stilmitteln in zugängliche Zeitlosigkeit “übersetzt”. Weil es dabei von vorn herein ein offenes Ende hat und dadurch der Phantasie des Publikums freien Lauf lässt.

Weil es uns keine “richtigen” Deutungen und Bedeutungen aufdrängt. Weil es nicht mit irgendeiner Weltsicht missioniert, stattdessen diese Flut von surrealen Bildern in künstlerischer Überdrehung derart auf uns einprasseln lässt, dass, wenn überhaupt, Deutungsmöglichkeiten in unserer Vorstellung entstehen, aber halt immer mehrere. Wenn Griechen sich an biblischen Themen abarbeiten – wer erinnert sich da nicht an Nikos Kazantzakis’ Roman “Die letzte Versuchung” und an seine skandalumwehte Verfilmung von Martin Scorsese mit Willem Dafoe als Jesus?Ich schweife ab …

Damit mir das in der Sendung nicht passiert, oder aber erst recht, je nachdem, habe ich den Musikschichtenforscher und Assoziationsexperten Andreas Woldrich von der löblichen Sendereihe “Battle & Hum” als Gesprächsgast eingeladen. Und das kann dem diesmaligen Thema, das ein in sich vielfaches ist, auf jeden Fall nur gut tun!

Einige Hintergründe zu den oft verstörenden Abgründen auf diesem Album finden sich auf dieser Vangelis Papathanassiou gewidmeten Seite. Wir wissen auch nicht, welche Apokalypse gerade stattfindet und ob sie echt ist oder Theater. Oder wie …

 

Die Heartgun Premiere

> Sendung: Artarium, vom 18. SeptemberEmotionale Intensität. Dieser Begriff taucht immer wieder auf, wenn man mit den zwei Menschen hinter der Musik – und hinter den Texten, den Videos, der Performance von Heartgun über ihre Arbeiten spricht, die jetzt am Sonntag, 25. September um 19:30 erstmals im Off-Theater der breiten (und offentlich bereiten) Öffentlichkeit präsentiert werden können. Denn “die Essenz aus einigen Jahren Prozess”, wie sie ihr inzwischen vielfach umgestaltetes Programm selbst beschreiben, ist als einstweiliges Ergebnis intensiver Einlassungen auf innere und äußere Herausforderungen zu verstehen – und demensprechend dicht zu erleben. Bernie Rothauer und Alexandra Niedermoser führen uns vor, wie jede Krücke zum Zepter werden kann – im Zauberland des unverwüstlichen Trotzdem.

HeartgunDie auch coronabedingt lange Vorbereitungszeit auf die doch endlich stattfindende Premiere konnte zum Ausgestalten immer neuer Details verwendet werden, und so entstand ein komplexes Programm aus Musik, Videos, Texten, Klangbearbeitung und Lichteffekten, was an sich schon eindrucksvoll und intensiv wäre, bei Heartgun aber zunächst “nur das Setting” oder eben “das Bühnenbild für die eigentliche Handlung” darstellt. Die findet nämlich zeitgleich in den Akteuren selbst, in den Köpfen des Publikums und somit in der Resonanz zwischen allen an diesem Abend Beteiligten statt. Wie kann das geschehen? Nun, indem diese “Show” sich nicht bloß im Vorzeigen des Erarbeiteten erschöpft, sondern über den Begriff der Darbietung weit hinaus geht – ich möchte es als ein tiefgehendes und umfassendes “Darleben” bezeichnen, bei dem die Unmittelbarkeit des Erlebens auf unterschiedlichste Weise spürbar wird.

Das erklärt auch die weiße Maske, mit der Sängerin Xandra auftritt. Sie dient ihr zur Abgrenzung von den jeweiligen Rollen, in die sie sich auf der Bühne radikal einlebt – und unserem Vorstellungsvermögen als emotionalphantastische Projektionsfläche. Es geht bei Heartgun insgesamt um das Streben nach der Essenzeines Liedes, eines Themas, einer Stimmung – und darum, dieses Destillat dem Publikum so frei zu vermitteln, dass es berührt, bewegt, erschüttert – und im besten Fall zu eigenen Weiterentwicklungen anstiftet. Eine Kunstverkostung der etwas intensiveren Art.

Wir wollen euch darauf Appetit machen, indem wir einige Elemente/Beiträge dieser kommenden Aufführung vorab im Radio vorstellen, so die Coverversion des zeitlosen Cranberries-Hits “Zombie” oder die für das Selbstverständnis von Heartgun wichtige Eigenkomposition “Not Enough”. Des weiteren gibt es eine Livelesung von Texten aus dem aktuellen Programm sowie die Aufnahme von “Move On” aus der Probe mit Publikum im Nadea-Studio. Und naturgemäß unterhalten wir uns auch – etwa über Hintergründe und Herangehensweisen – auf dass ihr einen Vorgeschmack spürt

“Das Geheimnis liegt im Gleichgewicht aus Verborgenem und Dargestelltem.“ Peter Gabriel

 

Hesse Between Music

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. September Hermann Hesse war ein Grenzenüberschreiter. Bald nach dem ersten Weltkrieg begann er, sich für die Einflüsse von Psychoanalyse, Traumdeutung, Lebensreform und fernöstliche Weisheit zu öffnen. Dadurch erschuf er ein in vielen Nuancen schillerndes Werk jenseits der damals anerkannten bürgerlichen Konventionen – jedoch ohne seine bildungsbürgerliche Herkunft, speziell in der Sprache, gewaltsam zu vermeiden. Nach seinem Tod entdeckte die Hippie- und Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA sein literarisches Vermächtnis wieder neu – und in Deutschland brachte die Gruppe Between 1974 das beachtenswert vielschichtige Album “Hesse Between Music” heraus, das wir heute in seiner vinylen Originalversion zu Gehör bringen.

Hesse Between MusicAuch die Musik von Between war zutiefst grenzenüberschreitend in ihrer gesamten Konzeption. Ein Kritiker schrieb damals: “Einflüsse experimenteller, klassischer und mittelalterlicher Musik, verbunden mit außereuropäischen Elementen, vor allem aus Lateinamerika und Asien. Da entsteht wirklich Musik ‚between‘: Und das heißt hier allemal: es wird differenzierter, klischeedurchbrechender Musik gemacht als anderswo in diesem Genre.” Welches Genre? Oh, ihr abendländischen Kritiker, die ihr Schachterln scheißt bis die ganze Welt damit heillos zugemüllt ist! Schranken über Schranken, beschränkt, voll für den Schrank: Das Recht ist stets auf Seiten des Schrankes. Doch folgen wir der vielversprechenden Spur, die uns “Hesse Between Music” ursprünglich aufgezeigt hat, kommen wir mitten hinein in die Geschichten, die sich uns von selbst erzählen, aus denen unsere Geschichte eigentlich besteht. Es ist eine ungeheuerlich vielseitige Zusammenschau von Gedanken, Bildern und Seinszuständen, die uns da kongenial durchwirkt von Klangräumen, Melodien und Stimmungen begegnet – wie ein Theaterstück, welches wir plötzlich selber sind.

Beim ersten aufmerksamen Eintauchen in diese außergewöhnliche Hörwelt war ich einigermaßen überwältigt von der gleichzeitigen Vielheit all der unterschiedlichen Eindrücke, die da auf mich ein – und durch mich hindurch strömten. Unangestrengt wohlgemerkt, heiter gelassen versöhnt mit der eigenen Endlichkeit im Angesicht des Unendlichen, zufrieden schmunzelnd wie nach dem besten Essen aller Zeiten. Da tauchte in mir die Frage auf, wer um Himmels willen diese Dramaturgie erfunden haben könnte, und ich stieß naturgemäß auf einen weiteren Grenzenüberschreiter: Den Radiopionier sowie langjährigen Musikpropheten Joachim Ernst Berendt … 

Hier ist der Miterfinder des SWF, “Jazz-Papst” der Deutschen, Wegbereiter der World-Music und Autor von Nada Brahma – Die Welt ist Klang als verantwortlicher Produzent des Albums an der Schnittstelle von Musiktradition und ihrer friedvollen Überschreitung zu erleben. “Die Welt ist Klang” war für ihn bis zuletzt eine zutiefst politische Aussage, getreu dem Motto seines 1942 als evangelischer Pfarrer im KZ Dachau umgekommen Vaters: “Protestant sein heißt protestieren.”

 

Die Schatzinsel

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. August – Schon seit einigen Jahren erklingt an jedem dritten Sonntag im Monat im Anschluss an unser Artarium eine Sendung namens “Gitarre und Meer: Eine Seereise mit Captain Carsten”. Und fast immer, wenn wir da noch ein Weilchen zuhören, entdecken wir die eine oder andere Perle, die uns angenehm überrascht. Denn von einem, der auszog, im Musikum Mattsee Gitarre zu lehren, (und darüber hinaus mit konzertantem Flamenco auftritt) haben wir kein so weites Spektrum an Musikstilen erwartet, wie es sich da immer wieder aus dem Radio heraus entfaltet. Grund genug, den geheimnisvollen Captain (der auch noch tatsächlich von der norddeutschen Küste herstammt) auf unsere Schatzinsel einzuladen. Die Perlentaucher sind halt neugierig auf alles, was Resonanz erzeugt.

Die SchatzinselWährend der Hase diesmal mit dem Glücklichmachen von Festspiel-Mitwirkenden beschäftigt ist, werde ich mit dem Captain gemeinsam ein paar versteckte Schätze heben, die uns vielleicht vertraut sein mögen, doch im Zusammenspiel von Musik- und Lebensgeschichte einige ganz neue Aspekte gewinnen können. Zu One Hundred Years von The Cure etwa fiel dem Captain (in Erinnerung an allerlei ”scheinbar apokalyptische Klänge” aus seiner Jugendzeit) folgendes ein: “Markant ist musikalisch immer die erbarmungslose kleine Sekund abwärts, die den Song aussichtslos erscheinen lässt. Wie auch schon bei Astronomy Domine von Pink Floyd. Syd Barrett hat das bei Gustav Holst – Die Planeten (Mars der Kriegsbringer) entliehen.” Ham wir mal wieder was gelernt! “Ein Musiklehrer halt.”, stellte der Hase zutreffend fest. Und ich fand wieder einmal heraus, wie gut das wiederholte Anhören gerade bei repetitiv minimalistisch geprägter Musik ist, um deren Sinn zu erfassen.

Doch keine Angst – das wird hier keine Musikfachsimpelsendung. Vielmehr wollen wir den sympathischen Kollegen von der “Sendung nach uns” einmal kennenlernen – und euch sein sehr offen und assoziativ gehaltenes Sendungskonzept vorstellen, das dem unseren durchaus wesensverwandt ist und diesmal als “Captain Carstens Capriolen 2” stattfinden wird. Eine Sendung, die den Musikgenuss mit interessanten Anekdoten und Hintergrundwissen anreichert und zu einer bekömmlichen Mahlzeit (mit Zutaten aus allen sieben Weltmeeren) zusammenkomponiert. Wohl bekomms

Die Salzburger Strandpiraten im Strom der Kulturgezeiten bitten zu Omnomnom!

 

With Every Breath

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. August“Shabbat Shalom!” – Wirklich? An einem Sonntag? Pardon, unsere Sendung findet halt programmgemäß immer an einem Sonntag statt. Und nachdem sie danach zeitlich unbefristet nachzuhören ist, kann das ganze Album “With Every Breath – The Music of Shabbat” freilich auch zu solcher Gelegenheit angewandt werden. Die darin enthaltenen Titel widerspiegeln nämlich allesamt die Tradition der Shabbat-Liturgie nebst chassidischen Liedern in zeitgemäß zugänglicher Verbearbeitung, mit viel Leidenschaft und Kunstverstand vorgebracht von der Synagoge “B’Nai Jeshurun” aus New York. Aufgenommen, abgemischt und herausgebracht hat dieses stimmungsvolle Kleinod der ebenfalls in New York ansässige Musik-Club “Knitting Factory” mit hauseigenem Label

With Every BreathSeinen Weg in unsere Ohren fand es durch die geschätzte Kollegin Mirjam Jessa (eine jener Stimmen, die der Stimmung gerecht werden) 1999 in der von ihr mitbegründeten Ö1-Sendereihe “Spielräume”. Es war dazumals noch einigermaßen umständlicher als heute, sich ein Album von einem Indie-Label aus den USA einfliegen zu lassen, doch die darauf enthaltene wegweisende Kulturgrenzauflösung war aller Bemühung wert. So bringen wir jetzt diesen weithin unbekannten Schatz wiederum anderen zu Gehör, auf dass die Welt rund um unser akustisches Einflussgebiet ein Stück schöner wird. Wie wir auch die Gedanken eines gewissen Rabbiners aus Nazareth weiter entwickeln können, in diesem Fall etwa zu: “Liebe deine Übernächsten!” Apropos Rabbiner, die B’Nai Jeshurun Synagoge ist da wohl mit zwei besonders kreativen Exemplaren gesegnet, Rabbi José Rolando Matalon und Rabbi Marcelo Bronstein, die auf diesem Album auch sprechsingend zu erleben sind. Und deren Hazzan (Kantor) Ari Priven zeichnet für die vielschichtigen, vielstimmigen und vielfältigen Musikdarbietungen verantwortlich. Alles in allem vom Glück verfolgt, heißt es bei André Heller. Alles in allem hörenswert, heißt es bei uns.

“Wenn du glaubst, dass Gott existiert, aber nicht entsprechend handelst, verhältst du dich wie jeder andere Gläubige. Das ist nicht besonders interessant. Wenn du nicht an Gott glaubst und dich verhältst, als ob es ihn nicht gibt, dann bist du ein säkularer Philosoph… Interessant wird es aber, wenn man die beiden Positionen in einem Paradox verknüpft. Also in der humanistisch agnostischen Haltung, wonach ich glaube, dass es keinen Gott gibt, aber ich mich um der Tradition willen so verhalte, als ob er existierte. Ganz verrückt wird es dann mit Kirkegaard, der eigentlich sagt: Ich weiß, dass es Gott gibt – aber ich verhalte mich so, als ob er nicht existiert.” Slavoj Žižek

Trauen wir uns über unsere gewohnten Grenzen hinaus: Rettung lauert überall.

 

Kreisler singt Kreisler

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. JuliGratulieren? Papperlapapp! Zumal wir sicher nicht “das offizielle Österreich” sind. Wir freuen uns einfach, dass dieser Georg Kreisler (vor nunmehr 100 Jahren) in unsere Welt gekommen ist und uns im Verlauf seines Lebens mit den abgründigen Kostbarkeiten seiner Lieder und Texte berührt hat. Und immer wieder auch aufgerichtet, wenn wir am eigenen leidenden Leben zu verzweifeln anfingen. Denn “du bist nicht allein” ist eine immens tröstliche Erfahrung, wenn einem die Mehrheitsnormalitäter seiner Hoppladochnichtheimat das Verurteil des Nichtdazugehörens einbläuen, wegen wasauchimmer für einem ideologischen Scheißdreck. Wir sind alle längst abgeschafft und leben gegen das Zerquetschtwerden des Lebendigen an. Trotz alledem. Auch darum lieben wir ihn.

Georg KreislerUnd darum taucht er immer wieder an entsprechender Stelle in unseren Radioarbeiten auf. So zum Beispiel am Wohlfühlfriedhof, bei Nikolaus Habjan und Franui oder überhaupt beim Erinnern an andere Episoden des angewandten Antisemitismus in Salzburg und Österreich. Einmal abgesehen vom zeitgeschichtlichen Hintergrund ist da noch eine andere Wesensverwandtschaft, die es zu würdigen gilt, nämlich die Eigenart, allen Widerlichkeiten der eigenen Lebenserfahrung auf so kreative Weise zu begegnen, dass etwa die taz zu seinem 100. Geburtstag titeln konnte: “Die Kunst hat ihn gerettet.” Und mit der ihm eigenen Feinfühligkeit landet Georg Kreisler auf seiner immerwährenden Suche nach der möglicherweise doch (für alle Beteiligten) irgendwie “besseren Welt” unausweichlich bei der radikalen Ablehnung “jedweder Herrschaft von Menschen über Menschen”, von staatlichen Besitzansprüchen, die auf der Idee von Eigentum beruhen. Das kann – angesichts der apokalyptischen Weltsituation – auf die Dauer nur frustrierend sein. Einen “verzweifelt Liebenden” nannte ihn Konstantin Wecker.

Sandra Kreisler, die wir als Wortfrontfrau kennenlernen durften, hat nach längerem Zögern 2003 einige der für sie bedeutsamen Lieder ihres Vaters neu interpretiert und ihnen so eine weitere Dimension von Zeitlosigkeit hinzugefügt. Besonders “Meine Freiheit, Deine Freiheit” ist uns als eine jener Coverversionen begegnet, die das Original an Originalität geradezu übertreffen. Exzellentes Klavierspiel von Jochem Hochstenbach verschmilzt da mit Sandras feinstem “Acting while Singing”. Mehr dazu kann man/frau in diesem wieder hervor gespülten AVIVA-Interview erfahren.

Sandra Kreisler kann ihrem Vater also nicht nur das Wasser reichen. Sie kann auch durchaus darin umrühren.

Naturgemäß