Vorwärtsrückwärts

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. FebruarDie Frage war: Worüber können wir eine Sendung machen in diesem Faschings-, Fastnachts-, Karnevalskontext, wo sich doch ringsum ein Politkasperltheater nach dem anderen abspielt. Denn merket wohl: nach dem Verarschungsdiestag kommt unweigerlich der Arsch am Mittwoch, da kann man die Bretter, die die Welt bedeuten, noch so fest vor den eigenen Kopf halten (oder sie dem weltanschaulichen Gegenunter über denselbigen schlagen) “Ich blick verzweifelt rings – und lechz’ – nur öde Schnösel links und rechts.” Es wird also in deinem Sinn weiter gejandlt, lieber Ernst. Gute Güte, Vorwärtsrückwärts ist eine der allerfeinsten Wortschöpfungen aus jener Zeit des kalten Krieges, in der die jeweilige Richtung nicht schwel zu velwechsern war. – Oder war auch das schon ein Irrtum?

VorwärtsrückwärtsGibt es die Unterscheidung von vorwärts (links) und rückwärts (rechts) überhaupt – oder wollen alle Eliten doch immer nur an die Macht (oben)?Vilfredo Pareto hat das in seiner Elitensoziologie  etwa so beschrieben. Er hat auch Mussolini beraten, wie man “das Volk” mittels eines entmachteten Parlaments verscheißert. Grüße nach Thüringen! Da sitzt einer bis über beide Ohren im Vogelschiss der deutschen Geschichte und spielt mit dem Landtag Bauanoasch. Was fällt uns dazu noch ein? Volksmusik? Ich weiß zwar, wie die berühmten Bratwürste riechen, aber nicht, wie sich thüringische Musikkultur anfühlt. Oder ob und inwieweit es dort überhaupt Künstler*innen gibt, die sich mit derlei Tradition beschäftigen und selbige dann zeitgemäß, unterhaltsam und eben auch kritisch interpretieren (verbearbeiten). Aus Österreich und aus Bayern hätten wir da ein paar Beispiele anzubieten, nämlich die Herren Attwenger, die seit Jahren ihre musikalischen Herkunftswurzeln lustvoll durch sämtliche Stilrichtungen schießen, und den furiosen Weiherer, der mit seiner klugen Mischung aus Liedern und Gschichtln den fast schon zu Tode zerbrauchten Begriff “Heimat” wieder allgemein zugänglich macht. Denn ist es nicht unser aller

“Vorwärtsrückwärts oder Das unheimlich totale Leben” ist übrigens der Titel eines Romans von Franz Mechsner aus dem Jahr 1981, den es nur noch antiquarisch zu kaufen gibt. Er enthält eine Szene, in der ein junger Mann bei einer Demonstration in Wien auf ein Denkmal klettert. Als ich das Buch las, fand ich mich genau darin wieder.

 

Schroeder Roadshow

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 16. Februar – Unlängst wurde in Salzburg wieder einmal der Dokumentarfilm Up to Nothing – Aufruhr im Mozartdorf gezeigt, eine Koproduktion von Studio West und ARGEkultur aus dem Jahr 2011. Er vereint die Erinnerung einiger der damals Beteiligten mit zahlreichen Originalaufnahmen von Hermann Peseckas aus den späten 70ern und frühen 80ern, als eine vielfältig zusammengewürfelte Bewegung namens ARGE Rainberg sich hierorts aufmachte, der bürgerlich-bräsigen Kulturverstopfung neuen Wind ins ledrige Gesicht zu blasen. Die daraus entstandenen kleinen und dezentralen Kulturstätten mag man inzwischen wohl nicht mehr missen, ihren langen Marsch durch die Institutionalisierung könnte man schon kritischer bewerten – was bleibt, ist das Erbe der Selbstermächtigung.

SCHROEDER DeutschlandIn dem Zusammenhang erinnere ich mich an ein spektakuläres Konzert der Schroeder Roadshow (es muss etwa 1980 gewesen sein) im damals noch für alle freien Produktionen  offenstehenden Petersbrunnhof. Das Publikum bestand beileibe nicht bloß aus “studentischem Milieu”, sondern aus allen nur erdenklichen “radikal alternativen” Leut*innen jedweder Hin-, Her- oder Zukunft. Die unzufriedenen Jugendlichen in dieser Stadt saßen eben nicht verträumt auf den Bergen herum, um “das bunte Treiben” da unten zu beobachten – sie waren ein wesentlicher Teil davon. Genau genommen bildeten sie das Myzel, aus welchem die öffentlich auftretenden Schwammerln der Bewegung erst hervorwachsen konnten. Längst hatten sie im Kongresshaus die erste Bravo-Boyband durch Farbbewurf abserviert, das Schwert des Paulus vor dem Dom in blutiges Rot getaucht oder der Bierjodlgasse einen komplementären Straßennamen verliehen. Die Hanfjodlgasse wurde als Fotopostkarte beinah schon zum Kultobjekt. Da sieht man, was ein gut gemachtes Zeitdokument alles an Überlegungen auslöst.

HUNDT SCHROEDERDoch zurück zu Schroeder (und zu Uli Hundt, dem Fastnamensvetter). Schon in den 70ern kam Gunther Hofmeister begeistert mit deren selbstgeschnitztem Debutalbum (nebenstehendes Plattencover) an und eröffnete uns eine völlig neue Sichtweise auf gesellschaftliche Realitäten. (Es gibt keine Realität ohne Realitäter). Löblicherweise hat das mit der Schroeder Roadshow zeitweis verbandelte Trikont-Label dieses verschollene Kleinod als Mp3-Download wieder zugänglich gemacht (um wohlfeile 4,99 €). Wir allerdings bringen diesmal ein noch viel verscholleneres Opus von Schroeder zu Gehör, vernehmlich ihr drittes Studioalbum “Live in Tokio” von 1980. Auf selbigem sind die saftigsten Songtexte enthalten, die “wir Salzburger Jugendliche” sämtlich auswendig kannten – und beim erwähnten Auftritt lauthals, am Schluss sogar von der Bühne herab mitbrüllten. Diese Texte sind heute noch genauso zur etwas anderen Wahrnehmung des Weltgeschehens geeignet wie damals: Fragen wir uns einfach, was aus dem Potential eines Aufbruchs wird, sobald die Machthaberer zugreifen…

Schrei dich frei!

 

Unendliche Gedichte …..

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. Februar – Die unendliche Geschichte dieser fast endlosen Gedichte, die uns eine Geschichte erzählen und die wir als Balladen zu erkennen gelernt wurden. Für die gesamte Gattung war es ein fast ebenso endloser Weg von den Tanzliedern der Troubadoure über Francois Villons “Ballade von der Mäusefrau” bis zu Goethes Zauberlehrling und der Taucherglockenbürgschaft von Friedrich Schiller. Auf diesem “langen Marsch durch die Geschichte” haben dann auch sämmertliche Spracheologen des gezupften Worts ihre akademischen Claims abgesteckt, so dass wir heute wissen, was eine Ballade istund was nicht. Oder? Was ist zum Beispiel “Jetzt eine Insel finden” (ein Gedicht von Konstantin Wecker aus den 1980er Jahren)? Und wie ist das mit den “Rock-Balladen” im weitesten Sinn?

Unendliche Grüne HölleSuchen wir dazu als einschlägige Institution das Hotel Rock’n’Roll auf (oder den 3. Teil von Michael Glawoggers posthum vollendeter Spielfilmtrilogie). Hier erscheint uns neben dem notorischen Schorschi auch Sven Regener als Pfarrer, der über das letzte große Gitarrensolo räsoniert. Womit wir schnurstrachs wieder im unwegsamen Sumpf der Genrezuschreiberei unterzugehen drohen. Und das ist noch höflich formuliert für so ein elaberiertes Schachterlscheißen und Gscheitmeiern. Atemlos hechelt das Abendland: “Die ich rief, die Geister, werd ich nun nicht los” und versinkt in seiner eigenen Behauptung. Das Unendliche ist was ganz anderes als die Quersumme zweckdienlicher Definitionen. Das Unendliche ist spürbar im Erleben von Liedern und Gedichten: “Das Luftholen im richtigen Moment ist unwiederholbar und verdichtet einen Augenblick zur Ewigkeit” wie Konstantin Wecker bereits bemerkt. Lyrik und Epik schließen einander ja eben nicht aus, ätsch Aristoteles! Und wenn jemand jetzt dies oder das Ballade nennt, unseren Segen soll ersiees haben. Für heute bin ich mal Sven, der Segener. Also wirklich! Es geht immer ums Vollenden – des Unvollendeten. Ums Unvollendliche. Grad im Beethovenjahr.

So wollen wir diesmal den Herren Sven Regener, Konstantin Wecker, Nino aus Wien und Jochen Distelmeyer lauschen – und vor allem Norbert Wally (The Base) mit der überaus passenden Ballade “I bet it rains” aus dem Hotel Rock’n’Roll Soundtrack.

 

Aviv Geffen & Steven Wilson

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. Januar – Die Idee zu einer vertiefenden Sendung über das Zusammenwirken der beiden Musiker Aviv Geffen und Steven Wilson kam uns bereits vor zwei Wochen in den Sinn, als unsere Präsentation des ersten Blackfield-Albums von einigen technischen Schwierigkeiten begleitet wurde. Aus der Notwendigkeit, die ersten 10 Minuten lauter Stille (oder Roaring Silence – danke, Manfred Mann), nachträglich mit entsprechendem Inhalt zu füllen, entstand eine interessante Collage über die traumatischen Erfahrungen von Aviv Geffen sowie seine daraus resultierenden Friedensaktivitäten. Was aber verbindet ihn mit Steven Wilson und worin besteht das Momentum ihres gemeinsamen Schaffens? Wo kommen die beiden her? Eine Annäherung in Anekdoten und Klangbeispielen.

Aviv Geffen und Steven Wilson - Kongeniale KollegenBeleuchten wir dazu einmal die Väter dieser zwei Künstler und wie verschieden sie doch sind. Der eine ist Dichter und Liedermacher, war zunächst Offizier in der israelischen Armee und wandte sich danach so radikal der Friedensbewegung zu, dass sein Werk aus einigen Medien des Landes sogar verbannt wurde. Dabei ähnelt Yehonatan Geffens Frühwerk (ganz im Geist der 70er Jahre) den damals in Österreich populären Liedern von Arik Brauer – witzig, verspielt, sozialkritisch. So etwa sein Klassiker “Hatsarich Haze” (hier mit Textübertragung aus dem Hebräischen). Ein Dichter und Dissident also. Durchaus eine Inspiration. Der andere wollte, dass sein Sohn schon als kleines Kind Gitarre lernt, Steven Wilson aber mochte das gar nicht. “Erst” mit 11 Jahren interessierte ihn das Instrument und dessen Klang wieder: Er schrubbelte mit einem Mikrofon an den Saiten entlang und stellte aus diesen Sounds erste übereinander geschichtete Aufnahmen her. Daraufhin baute ihm sein Vater eine Mehrspurmaschine – und gleich auch noch einen Vocoder. Er war nämlich Elektronikingenieur. Auch ein Glück! Wozu das letztendlich (nach gut 30 Jahren) führen sollte, konnte damals keiner wissen. Heute ist es gut zu hören!

Seit 2009 arbeitet sich der multiple Autodidakt nun schon an den progressivsten Alben der 70er und 80er Jahre ab – als ein bis in ultimativste Feinheiten mehr als nur originalgetreu remixender Tontechniker. Seine diesbezügliche Arbeitsweise sowie das Verzeichnis der von ihm bearbeiteten Werke sind höchst beeindruckend. Und wenn ich das grandiose “Würm”, den finalen Part von “Starship Trooper” vom “The Yes Album”, in der Steven-Wilson-Version höre, nein, vielmehr erlebe, dann…

Eure Ohren werden Augen machen!

PS. Naturgemäß noch einmal das legendäre Video zu “The same asylum as before“ von Steven Wilsons Soloalbum “To The Bone” (zudem als Visual auf seiner Tour).

 

Radio Empfängnis

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. DezemberSeit Jahren (und wenn ich das sage, dann meine ich das auch so) begrüßt der Herr Hase unsere Zuhör*erinnern “an den Empfängnisapparaturen ihres Vertrauens”. Dieses Sprachspiel, das zunächst die Begriffe “Empfang” und “Empfängnis” vertauscht, wurde uns erstmals durch Jochen Malmsheimer in seinem privatradiokritischen “Kochen mit Jochen” dargereicht. Von den Empfängnisgeräten zu den entsprechenden Apparaturen war es dann nur noch ein kleiner (und durchaus logischer) Schritt. Nunmehr feiert sich heutigen Datums eine weitere Empfängnis, die ohne detailliertere Kenntnis katholischer Kirchengeschicht gar nicht so leicht herzuleiten ist: Mariä Empfängnis oder offiziell Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Jungfrau und Gottesmutter Maria. Jössasmarandjosef

Radio EmpfängnisDabei geht es nämlich nicht um die Zeugung von Jesus durch den heiligen Geist (oder das bayrische Weißwurstzipferl), sondern um eine Spitzfindigkeit im theologischen System. Ein letztlich von Papst Pius IX. 1854 verkündetes Dogma, dessen Entstehung gut 750 Jahre an Diskussionen alter Männer mit lustigen Hüten erforderte. Nur gut, dass die damals noch kein Radio hatten, Sender und Empfänger und so. Dieses Programmschema ist jedoch auch seit Jahrhunderten genauso eingefleischt wie deren Kommunion: Mund auf, Hostie rein, Kopf ab zum Gebet – und Amen und aus. Der Sender sagt, was zu tun ist – und die Empfangenden gehorchen. Jesus befiel – wir folgen dir! Wer nicht gehorcht, fliegt raus und wird umgebracht. Mahlzeit! Womit wir beim Höhepunkt menschlichen Fortschritts angelangt wären – der grenzenlosen Freiheit des heiligen Marktes und seiner lieben Frau, der Wirtschaft. Jetzt singen wir alle das Hohelied auf ihr ewiges Wachstum: “Gebeinebreit bist du unter dem Weihrauch und gebeinebreit ist die Frucht deines Treibens, Umsatz.” – Was war das nicht für eine Zeter- und Zerrerei, ob und wie lang die Geschäfte am 8. Dezember geöffnet sein dürfen, um den Gewinn der Eventkrampfstandler noch ins Unengliche zu überhöhen! Wenns dem Wirtshaus gut geht, gehts dem Wirten gut. Alle anderen sind eh blöd genug, sich vom jeweiligen Oberstkellner empfängern zu lassen – und tragen sogar noch ihre Haut zum Markte. Kling, Glöckchen, klingelingeling – kauf, zahl und geh sterben, depperte Menschheit.

Wir aber senden selbst. Und wir kritisieren beides: Den katholischen Hirnbimbam genauso wie den entfesselten Marktwirrwarr. Was immer einem “von oben” gefickt eingeschädelt angeschafft wird, kann allein schon deshalb nicht gut sein. Oder wie es Georg Kreisler ausdrückt: “Jede Art von Macht ist falsch.”

 

Gerald Fiebig – New Enamel

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 10. November – Vor einiger Zeit erreichte uns das freundliche Angebot des Augsburger Autors und Klangkünstlers Gerald Fiebig, sein Radiostück “New Enamel – Vom Karl-Marx-Hof zum Utopiaweg” in unserem etwas anderen Kunnst-Biotop auszustrahlen. Es handelt sich dabei um den finalen Teil einer für das Ö1 Kunstradio produzierten Trilogie rund um die Februarkämpfe 1934. Das zentrale Element der Komposition sind die Lebenserinnerungen seiner Großmutter, deren Vater Hermann Wurmbrand im Republikanischen Schutzbund gegen den Austrofaschismus kämpfte. Die damaligen Ereignisse sind inzwischen auch als Österreichischer Bürgerkrieg bekannt. Weshalb jedoch bringen wir diese gespenstische Zeitreise ausgerechnet jetzt im November – und nicht im Februar?

Gerald Fiebig - Karl Marx HofUnd warum hat der ORF, der den ersten Teil dieser Trilogie heute noch feiert, deren Schlussstück nicht gesendet? Das hat wohl mit einem “ersten Eindruck” zu tun, den die radiophone Komposition zunächst beim Zuhören bewirkt: Weil viel erzählt und zitiert wird, kommt einem das Stück wie ein klassisches Feature entgegen. So erlebte ich das beim ersten Mal. Zumindest die erste halbe Stunde lang. Doch dann springt mich die Hörwelt plötzlich lauthals an und wiederholt monoton das Geplärr der Kristallnacht. Von dem Punkt an war klar: Die Dramaturgie des “Hörspiels” ist viel hintergründiger als eingangs vermutet – und: Das müssen wir zum Gedenken an die Novemberpogrome des 10. November 1938 öffentlich machen. Gerade jetzt, wo unser ältester KZ-Überlebender und Zeitzeuge Marko Feingold gestorben ist – und das grölpöbelnde Dumpftum der neurechten Rattenfänger schon wieder grausige Urständ feiert, ist emotional berührende Zeitgeschichte fast schon lebensrettend. Gerald Fiebig verdichtet hier die Erinnerungen seiner Großmutter mit thematisch passenden Geräuschen und literarischen Einschüben zu einem Erlebnisraum mit starker Anziehungskraft. Genau das macht das Gelingen der erwähnten Zeitreise erst aus, die Begegnung mit den Gespenstern, leben sie denn – oder bin ich dort?

Welch ausgefeilte Arbeit hinter dieser Produktion steckt, könnt ihr im Konzept & Manuskript dazu nachlesen – und weiterführend auf seiner Homepage erforschen…

Der Bezug zum Projekt Hörstolpersteine (in unserer Signation) ist bestimmt KEIN Zufall. Genauso wie die Reverenz an den großen Georg Danzer: Der alte Wessely

 

Als der eiserne Vorhang fiel

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. Oktober“Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten”, sprach einst Walter Ulbricht. Kurz darauf mauerte und zäunte sich die DDR erst so richtig ein. Von 1961 bis 1989 erhob sich die Berliner Mauer als (fast) unüberwindbare Barriere zwischen Ost und West, dazu noch ein ebenso (fast) undurchdringlicher Zaun entlang der gesamten innerdeutschen Zonengrenze als Teil des eisernen Vorhangs zwischen kommunistischen und kapitalistischen Ländern. Am 9. November 1989 (also vor 30 Jahren) wurde die Berliner Mauer wieder geöffnet, und mit ihr “fiel“ nach und nach auch der restliche “eiserne Vorhang”. Aber auch vor diesem “Fall” versuchten Menschen aus verschiedenen Gründen, die Systemgrenze durchlässig zu machen. Und das waren in den meisten Fällen keine Berühmtheiten…

Als der eiserne Vorhang fielZum 30. Jubiläum dieses Vorgangs überschlagen sich die Amtsmedien wieder mal mit Gedenksendungen, dass einem dabei schwindlig wird. Mich verdrießt aber bei dem ganzen Tohuwadoku, wie Jahr für Jahr die immergleichen Prominent*innen ihre längst bekannten Erinnerungen in alle verfügbaren Kameras sülzen, wohingegen die “einfachen Leute” dabei so gut wie nie vorkommen. Als ein braves freies Medium, in dem vorzugsweise auch jene zu Wort gelangen, “die in den sonstigen Medien unterrepräsentiert sind”, bringen wir diesmal eine der vielen “kleinen” Geschichten zu Gehör, aus denen die “große” Geschichte ja ursprünglich besteht, bevor sie von den “Siegern” für ihre Zwecke interpretiert werden kann. Und diese “erzählte Wirklichkeit”, umrahmt von künstlerischen Darstellungen ihrer Zeit, soll einen geistigen Freiraum bewirken, in dem sich vortrefflich vorstellen lässt, wie es auch noch ganz anders sein könnte. Beziehungsweise, was Grenzen bedeuten. So wollen wir auch auf die etwas andere Gedenkveranstaltung “mauern MAUERN” der SAG am 4. 11. im Salzburger Literaturhaus hinweisen, bei der Mauerfall sowie eiserner Vorhang der Befragung durch dichterische Phantasie unterzogen werden.

Eine große Inspiration war und ist uns der Song “Sommer 89” von Kettcar. Danke!

Zur Einstimmung gäbs hier noch zwei Zeitzeugenberichte: “Flucht in die Zukunft” aus der Perspektive burgenländischer Fluchthelfer- und Unterstützer*innen sowie “Tausend Augen auf dem Kassettenabspielgerät” aus Erinnerungen der Rockband Silly im Hinblick auf Songtexte und Zensur in der DDR.

 

Wer die Qual hat

> Sendung: Artarium vom Wahlsonntag, 29. September – Es ist halt schon so, dass sich die “Wirklichkeit da draußen” auch auf unsere inneren Wirklichkeiten auswirkt. “Wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.” Wenn Friedrich Nietzsche damals schon von Fernsehen und Social Media gewusst hätte, dann würde er über einen “Abgrund, der einem ins Gesicht springt” nachgedacht haben. Und wäre ihm Edward Bernays‘ Propaganda bekannt gewesen (von Joseph Goebbels bis zu den Werbespots unserer Tage), dann hätte er wohl gemeinsam mit uns “gefickt eingeschädelt” gesagt. Die Qual der Wahl ist nämlich, dass wir keine haben. Denn ganz egal, für welches Produkt wir uns (angeblich so frei) entscheiden, es stammt (so wie alle anderen auch) aus dem gleichen Geschäft, dem Supermarkt.

Wer die Qual hatEine geniale Wortschöpfung, dadurch finden dann alle, die dort einkaufen, den Markt super. Und dass sich die meisten von uns Begriffe wie Demokratie oder Meinungsfreiheit nur mehr in Verbindung mit einem marktwirtschaftlichen System (eigentlich Kapitalismus) vorstellen können, auch das ist Ergebnis einer smarten PR-Aktion von Edward Bernays – im Auftrag von US-amerikanischen Wirtschaftsverbänden. Dass der Nazipropagandist Goebbels seine Methoden zur Beeinflussung der Deutschen ausgerechnet von einem Juden abgekupfert hat, ist eine spezielle Fußnote der Geschichte. Edward Bernays war nämlich Nachfahre eines berühmten Rabbiners und zudem in zweifacher Hinsicht Neffe von Sigmund Freud, dessen Bücher der hatscherte Brüllaff Goebbels wiederum verbrennen ließ. Was lernen wir daraus? Dass Politik generell nichts mit Wahrheit zu tun haben muss, um erfolgreich (pfuigack) zu sein. Oder schauen wir uns einmal in der politischen Gegenwart um: Microtargeting, Cambridge Analytica, Social Engineering, unsere Welt ist voll von inhaltsleeren Politdarstellern, die sich mit miesen Tricks an die Macht schwindeln. Auch unsere kleine Welt Österreich. Wer über die richtigen Methoden (schlag nach bei Bernays) und genügend Geld verfügt, kann die Massen zum gewünschten (Wahl)ergebnis manipulieren. “Manufacturing Consent” oder “Du hast keine Wahl, also nutze sie!” Wer die Qual hat, hat die Qual.

“Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh” Das ist der Titel der Lebens- und Überlebenserinnerungen von Marko Feingold, der am 19. September von uns gegangen ist. Wir haben ihn bei einigen Sendungen und Projekten kennen gelernt und wollen sein Vermächtnis (vor allem seinen legendären Humor) in einem kurzen Nachruf würdigen. Etwas Wesentliches jenseits des aufgeregten Politbimbams

 

The Young Gods play Woodstock

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. September – Jetzt ist es dann aber auch wieder einmal gut mit der ganzen 50-Jahre-Woodstock-Revivalerei. Wiewohl sich einige unserer Kolleg_innen erfrischend anders als der sonstige Medienmainstream mit diesem Jubiläum befasst haben, so etwa Erwin Müller in Flower Power Radio (der gleich in mehreren Folgen den Konzertmitschnitt mit allerlei Anekdoten und Hintergrund-Informationen garnierte) oder Karl Krenner in Karls Roaring Sixties (der auch Liveaufnahmen vom Festival präsentierte, die weder im bekannten Film noch auf den ebenso populären Live-Tonträgern zu hören waren), so ist uns doch insgesamt eine ziemliche Überdosis an Woodstock-Sentimentalität um die Ohren geflogen. Also, machen wir Schluss damit: “Woodstock in die Wurschtmaschin!”

the young gods play woodstockDoch wer uns kennt, weiß längst, dass derlei Verwurschtung und Zertrümmerung hierzuohrs stets nur würdigend und künstlerisch anspruchsvoll sein kann, niemals flach verächtlich machend oder gar plump herablassend. Dazu haben wir sodann auch tatsächlich ein passendes Gesamtkunstwerk gefunden, und zwar “The Young Gods play Woodstock”, die nicht mehr ganz so offizielle Aufnahme vom Willisau-Jazzfestival 2005. Das schweizerische Post-Industrial-Kollektiv rund um Franz Treichler führt diese wegweisende multimediale Ver(be)arbeitung des Woodstock-Mythos in Gestalt einer Verschmelzung von Originalfilmsequenzen und Originalsound mit bearbeiteten Samples sowie ihrer eigenen Livemusik auf. Das dabei entstandene Werk ist gleichzeitig eine Verbeugung vor der damaligen Ideenwelt – und eine gelungene Übertragung des damaligen Kreativgeists in die gegenwärtige Zukunft. Und das nicht ohne Ironie! Ein Höhepunkt ist zum Beispiel Erika Stucky als Roger Daltrey (See me, feel me) oder als Joe Cocker (With a little help from my friends). Ein weiterer sind die subtilen Anspielungen auf jene Bands, die nicht oder nur fast am Festival teilnahmen (The Rolling Stones, The Doors)…

Leider gibt es von diesem Projekt kaum noch brauchbare Aufnahmen im Internet. Dieses Video vom Paleo Festival Nyon 2009 kann allerdings einen ersten Eindruck von der Bühnenshow vermitteln. Und das von mir ausgewählte (ich habe mir erlaubt, den gut eineinhalbstündigen Willisau-Bootleg auf etwas über 40 Minuten zu kürzen) “Star Spangled Banner” kommt dem feuchten Traum vieler Gitarristen, einmal mit Jimi Hendrix gemeinsam auf der Bühne zu spielen, noch am nähesten (zumal man den Verblichenen ja nur schwer wieder zum Leben aufblasen kann). In diesem Sinn also “Purple Haze” – in der Young-Gods-Version – zur geneigten Einstimmung.

 

The Wall zum Geburtstag

Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. September (Doppelstunde) – Haben wir jetzt endlich alle Jubiläen beinand? Neben Woodstock und dem 2. Weltkrieg gäbs da noch Roger Waters und The Wall. Das legendäre Pink-Floyd-Konzept-Doppelalbum kam im Herbst 1979 erstmals als Studioversion über uns – und entwickelte sich schon bald zu einer interdisziplinären Darstellungsvielheit, die bis heute immer wieder zu neuen Wegen des Musik- und Geschichtenerlebens inspiriert. So entstand etwa 1982 unter der Regie von Alan Parker ein wahrhaft genresprengender Film (Ausschnitt) zu The Wall, in den Jahren zuvor war die Rockoper noch von Pink Floyd selbst gelegentlich als Livekonzertspektakel aufgeführt worden, und 1990 inszenierte sie Roger Waters anlässlich des Falls der Berliner Mauer noch einmal neu – am Brandenburger Tor

Roger Waters - The Wall Live (Film)Doch damit nicht genug ging der inzwischen in Ehren ergraute und nichtsdestotrotz nimmermüde Pink-Floyd-Miterfinder noch von 2010 bis 2013 mit einer behutsam weiter entwickelten Version von “The Wall Live” auf Welttournee. Der Fokus seines schier unendlichen Work-In-Progress verschob sich dabei mit der Zeit vom bloßen Beobachten allgemeiner Entfremdung hin zu einer furiosen Kritik an den dafür ursächlichen Verhältnissen. Der heute 76-jährige Roger Waters ist zu Recht zornig und weist mit dem Finger des Propheten in die klaffenden Wunden unserer Welt: Krieg als ultimative Erscheinung staatlicher Gewalt gegen den Einzelnen. Bei ihm heißt das zugrunde liegende Prinzip Staatsterrorismus – und speist sich auch aus seinem Nichterinnern an den Verlust seines Vaters Eric Fletcher Waters, welcher 5 Monate nach Rogers Geburt in der völlig verunglückten allierten Landeoperation bei Anzio zu Tode kam. Sein lebenslanges Abmühen an diesem so umfassenden Grundtrauma, und dass er es bis heute in künstlerische Ausdrucksformen zu übersetzen versteht – das macht uns den Mann einfach sympathisch. Man höre etwa “The Fletcher Memorial Home”

Roger Waters - mehr als nur der Schöpfer von The Wall

Nachdem wir uns jetzt jahrelang durch (oft recht räudige) Live-Bootlegs und obskure Audience-Videos (bis hin zur leider nicht mehr auffindbaren Konzert-Reconstruction vom Mai 2012 in San Francisco, bestehend aus ebensolchen) durchgequält haben, ist mittlerweile ein ordentlicher Konzertfilm erschienen, der am 6. September 2014 (dem 71. Geburtstag des Künstlers) erstmals gezeigt wurde. Wir spielen den Sound-Rip des Spektakels heute zu seinem 76. Geburtstag (sowie zum 58. des Hundes) und erinnern an das erstmalige Auftauchen von verstörenden Bildern: “Another Brick in the Wall”

So you thought you might like to go to the show

PS. Hier noch die berührende Geschichte, wie Roger Waters nach über 70 Jahren vom Anzio-Veteranen Harry Shindler Genaueres über den Tod seines Vaters erfuhr.