Versenkte Erinnerung

Artarium am Sonntag, 17. November um 17:06 UhrLiebe Leute! Da müht man sich jahrzehntelang herum, dass die Erinnerung ans BÜCHERVERBRENNEN nie vergessen wird, und auf ein Mal taucht (im wahrsten Wortsinn) noch ein Wahnsinn im Umgang mit unerwünschtem Gedankengut auf, das BÜCHERVERSENKEN, von den Staatsbehörden des Austrofaschismus 1934 kurz nach den Februarkämpfen in Auftrag gegeben und im Mündungsbereich der Traun in den Traunsee durchgeführt. Ungefähr 800 Titel aus der Arbeiterbibliothek Ebensee wurden dafür “aussortiert” und sodann ins Wasser geworfen. Sie sollten “in der Versenkung verschwinden” und mit ihnen auch alle darin enthaltenen Gedanken. Ein Artikel in der Alpendistel 5/2024 erinnert uns daran, wie sich das Vergangene nach wie vor auf uns auswirkt.

Versenkte Erinnerung (Das Freie Wort)Darum gefällt uns auch das dort vorgestellte Erinnerungsprojekt von Alexander Jöchl und Sabrina Kern, weil es durch die Auswahl von zeitgenössischen Buchtiteln durchaus umstrittenen Inhalts die nötige Verbindung zur Gegenwart ermöglicht. Und, das möchten wir anmerken, zur Vorvergangenheit. Denn das Ausmerzen von Büchern (mitsamt den in ihnen enthaltenen Gedanken) findet aktuell etwa in den Schulbibliotheken von Florida statt, hat aber auch etwa als Index librorum prohibitorum jahrhundertelange katholische Tradition und so das “christliche Abendland” entscheidend geprägt. Der Gegenwartsbezug des angesprochenen Projekts “Versenkungen” wird durch die Selbstbeschreibung deutlich: “Ein besonderer Schwerpunkt (bei der Auswahl der zeitgenössischen Titel) liegt auf antifaschistischem, antirassistischem, queer-/feministischem sowie postkolonialem Wissen in Form von Büchern.” – Und was ist mit der Belletristik?

Unter den überlieferten Autorennamen der Bücherversenkung 1934 finden sich nämlich nicht nur die üblichen Sachbuchverdächtigen wie Marx, Lenin oder Stalin, sonder eben auch Maxim Gorki, Fjodor Dostojewski, Upton Sinclair und Émile Zola. Wäre heute zum Beispiel ein Titel wie “The Handmaid’s Tale” von Margaret Atwood ausgewählt worden, um gefälligst dem Vergessen anheim gefallen worden zu sein? Ein entsprechendes Video mit dem Titel “The Unburnable Book” ließe derartiges vermuten. Lassen wir uns zum Übertragen von Erinnerung in die Gegenwart anregen:

Dazu verwenden wir eine Textpassage aus Maxim Gorkis Roman “Die Mutter” und lassen sie aus der klanglichen Unterwasserwelt von Deprogramming Division wieder im Hier und Jetzt auftauchen. Unser kleines Hörmahnmal soll die Gefühlswelt der Arbeiter*innen von Ebensee und ihre damaligen Wünsche und Hoffnungen zeigen – sowie eine Brücke in unser aller Erleben schlagen, wenn es darum geht, wie wir uns selbst in den Gedanken von Büchern wiederfinden und was uns das bedeutet, wenn wir dabei plötzlich bemerken, dass wir doch nicht allein sind mit unserer Situation.

Wenn wir im Schlamm der Geschichte nach Perlen tauchen …

 

Ernst (Thomas Andreas Beck)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 10. November – Seltsam, im Nebel zu stochern. Oder unter dem Teppich nachzuschauen, was da schon so lang drunter gekehrt wird. Oder doch nicht? Die Generation der Nachkriegskinder ist mit erheblichen Leerstellen im Familiengedächtnis aufgewachsen. Mit Auslassungen, Umdeutungen und Tabus in der Erinnerung. Thomas Andreas Beck allerdings macht sich auf die Suche nach genau diesen unterbewussten Strömungen, die unsere Welt nach wie vor prägen, sowohl in der gesamten Gesellschaft als auch in der Persönlichkeit jedes einzelnen. Und dabei geht er dorthin, wo es wirklich weh tut, nämlich in sich selbst. Auf seinem Album “Ernst” (das wir heute vorstellen) verschmilzt er dieses Innen mit dem Außen zu einer ausgewogenen Wahrnehmung des Weltwahnsinns, der in und um uns wütet.

Thomas Andreas Beck - Ernst in SalzburgVor einem Monat präsentierte er sein aktuelles Buch “Der Keller ist dem Österreicher sein Aussichtsturm” in der matchBox in Schallmoos und dabei wurde ich von zwei Songs aus besagtem Ernst in eine mir ebenso unbekannte wie wohlvertraute Welt versetzt. “Das ist Ambivalenz! Das ist große Kunst!”, jubelte ich in mir drin und beschloss gleichauf, diese Bewusstseinserweiterung, für die man nicht einmal Drogen nehmen muss, auf dem kreativen Hörweg mit euch zu teilen. Denn wie bereits John Peel von der BBC feststellte: “Radio is and always will be a more powerful medium than television because it allows the imagination of the listener to flourish.” Es waren die Titel “Strones” (ein Lied über den absichtsvoll in die Versenkung verschwundenen Geburtsort von Hitlers Vater am Truppenübungsplatz Allentsteig) sowie “Deponie” (eine Zeitreise in die eigene Kindheit – was auf mehreren Ebenen zugleich funktioniert, nämlich, weil es die Kindheit von vielen von uns berührt).

Dann ist mir noch etwas völlig Unerwartetes passiert (und es sind ja oft die Dinge, die “einfach passieren”, die einem wie von selbst neue Sichtweisen eröffnen). Ich nenne es jetzt einmal “Kreatives Verhören” (im Sinne von “da hab ich mich wohl verhört”). Aus dem Nebenraum hörte ich eine Nummer vom Album “Ernst” mit einem einzigen veränderten Buchstaben, wodurch aus der eigentlichen Aussage jeder Textzeile eine Frage entstand und ich das gesamte Lied als eine “offene Frage” auffasste, deren Antwort sich erst durch seinen Titel ergab. Hier die von mir “verhörte” Version:

Was frisst die Seele auf
Was macht dich hin
Was macht dich deppad
Viel deppader als sie

Was macht dich ängstlich
Was macht dich lieblos
Was macht dich neidig
Was macht dich blind
Was macht dich einsam
Was macht dich stumpf
Was macht dich starr
Was macht dich traurig
Was macht dich bitter
Was macht dich giftig
Was macht dich süchtig
Was macht dich krank
Was macht dich dunkel
Was macht dich brutal
Was macht dich gefährlich
Was macht dich mächtig

Was frisst die Seele auf
Was macht dich hin
Was macht dich tot
Viel toter als sie

Hass

Thomas Oberender empfiehlt: “Hören sie genau hin …”

PS. Um jedweder Velwechsrung von vorn herein (und auch im nachhinaus) vorzubeugen: Das oben abgedruckte ist die auf meinem “kreativen Verhören” basierende Version. Der originale Songtext ist allhier nachzulesen.

 

Schatten über Salzburg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. Oktober – Der Autor, Liedermacher und Kabarettist Peter Blaikner hat jüngst “einen Roman nach einer wahren Begebenheit” mit dem Titel “Schatten über Salzburg” herausgebracht. Der bezieht sich auf eine Besetzung des Petersbrunnhofs durch Neonazis im Jahr 1993 sowie verschiedene damit in Zusammenhang stehende Ereignisse. Nachdem es uns über die Jahre immer wieder beschäftigt hat, wie sich “das nicht Wahrgenommene” in seinem Keller (der unser Unterbewusstsein ist) weiter auswirkt, wollen wir die Themen dieses Romans auch in unserer speziellen Sichtweise wiederspiegeln. Denn “das Weggelassene” wie auch “das Hinzuerfundene” einer im Nachhinein “interpretierten Geschichte” hinterlässt in uns Leerstellen, blinde Flecken, Unklarheiten oder eben Schatten”.

Schatten über SalzburgNicht nur in der “großen Geschichte” (etwa der des ganzen Landes) entstehen solche Leerstellen, die von uns mit Bedeutung versehen und in Zusammenhang gebracht werden wollen – auch in den vielen “kleinen Geschichten” (aus welchen “Geschichte” eigentlich besteht) verlangt das Unbeantwortete nach Antwort. Es ist ein großes Verdienst dieses Buches, dass es die Wechselwirkung von allgemeingesellschaftlich verdrängten Unangenehmheiten und individuellen Verletzungen (die wiederum unerfüllte Sehnsüchte bewirken) aufzeigt. Peter Blaikner hält die dafür nötige Distanz zum Geschehen, um sowohl das persönliche Schicksal seiner Figuren als auch allerlei politische Machenschaften, in die sie sich verstricken und in die sie zugleich verstrickt werden, zu verdeutlichen. Beim Lesen gerät man so in einen Zustand des gleichzeitigen Mitfühlens wie eben auch Beurteilens …. und im besten Fall hoffentlich Verstehens. Das ist mehr als man von manch sprachfunkensprühender Weltniveauliterur (dazu gehört dieser Roman eher nicht) aufgetischt bekommt. Wiewohl durchaus kicherigmachende Ausdrücke (da zwinkert der theatererfahrene Kabarettist) das Unterhaltenwerdenwollen bedienen, so etwa ein “innerlich schallend lachender Vater”. Ich habe einige der geschilderten Ereignisse selbst miterlebt und befinde, das Buch lädt zum Selbstweiterdenken ein.

Meine Mutter war im Alter von 14 Jahren ein Vorzeigenazi. Noch 1944 (als bereits alle deutschen Fronten in Auflösung begriffen waren) schrieb sie ein “Kriegstagebuch”, in dem sie Tag für Tag fein säuberlich die Siegesmeldungen” der Reichspropaganda wiedergab. Für wen? Wozu? Alles in ihrer verletzten Kinderseele schrie: “Ich will nicht allein sein! Ich will dazu gehören!” Und auch heute noch schreit es in mir: “Ich will diese Angst nicht ertragen müssen!” (Diese Angst vor dem Terror des Ausgestoßenwerdens. Wer schreit da?). Die Frage ist, wie wir in der Gegenwart mit dem Erinnern umgehen.

Memory ist immer under Construction.

Und wo ist dein Schatten?

 

Reclaim the Radio

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. OktoberDer ORF überschlägt sich geradezu in seiner aktuellen “100 Jahre Radio” Selbstlobinszenierungaber unterschlägt dabei unter anderem, dass es Radio in Österreich schon seit 101 Jahren und 6 Monaten gibt. Auch wenn er das einigermaßen vorsichtig formuliert: “Der 1. Oktober 1924 gilt als die Geburtsstunde des Rundfunks in Österreich.” Was immer bei wem auch immer als was auch immer gelten mag – die tatsächliche Geburtsstunde war der 1. April 1923, als der aus privater Initiative entstandene Sender Radio Hekaphon in Betrieb ging. Der hatte zwar noch keine Konzession (Lizenz) und gilt (schon wieder dieses Wort) rückblickend als illegal, die damalige Regierung benötigte 9 Monate, um dafür den Begriff “Grober Unfug” zu gebären.

Reclaiming RadiowavesUm immerhin dem Freien Radioder dritten Säule des Rundfunks in Österreich – einen gebührenden Platz an der Jubiläumssonne des sonst so selbstbezogenen ORF einzuräumen, lässt die Regisseurin Heidi Neuburger-Dumancic ihren Dokumentarfilm Wellen der Zeit” auch in die Produktionswelt der Radiofabrik eintauchen. Der Film wird am Montag, 21. Oktober um 23:15 Uhr auf ORF 2 (gleich nach dem kulturMontag) zu sehen sein. Wir sind gespannt, inwieweit unsere Rolle für die Entwicklung einer vielfältigen Medienlandschaft (diesseits des unkontrollierten Geschwallers in Sozialen Medien und jenseits des marktschreierischen Gehupes der profitorientierten Sender) zur Geltung kommt. In diesem Zusammenhang ist “gelten” ein überaus interessantes Wort. Zwischen “es gilt als” und “zur Geltung kommen” tut sich ein breites Spektrum an Bedeutungen auf, von extrem passiv wie “Du giltst nichts” bis zur Selbstermächtigung von “Ich verschaffe mir Geltung”

Wie entstehen weit verbreitete oder als allgemein anerkannt geltende Vorstellungen davon, wie sich etwas zugetragen hat und was für eine Bedeutung es für uns heute hätte? Muss dafür die sprichwörtliche “Geschichtsschreibung der Sieger” sämtliche von ihrer Interpretation der Geschehnisse abweichenden Erinnerungen wie mit dem Dampfhammer ausmerzen? Oder genügt es (und das wäre ein viel subtilerer Weg, der nicht leicht zu erkennenen ist), das eine oder andere vielleicht störende Ereignis in der Erzählung wegzulassen und diese neue Version einfach oft genug zu wiederholen?

Wir wollen uns das am eingangs erwähnten Beispiel einmal genauer anschauen.

PS. Zur legendären Sendung “Dylaneske Wortbilder” aus unserem zeitlosen Archiv.

 

Still Corners – Strange Pleasures

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. OktoberImmer wieder anders … Sonst würd es uns auch langweilig werden. Also spielen wir das Album “Strange Pleasures” aus dem etwas anderen Musikbiotop “Still Corners”. Ich übersetz mir das in etwa so: Setzen wir uns in den einen oder anderen “ruhigen Winkel” des Weltgetriebes – und hören wir einfach nur zu, dem Gras beim Wachsen, der Luft beim Aufsteigen oder der Sonne beim Untergehen. Natürlich haben wir dabei alle möglichen Gefühle, eigene und auch fremde, vergangene, gegenwärtige – womöglich zukünftige? Ist das nicht ein “besonderes Vergnügen”, die Welt in uns und um uns herum von so einem “ruhigen Ort” aus zu betrachten? Und wenn es erst mehrere sind, Winkel wie Vergnügungen, dabei könnten uns die folgenden Miniaturen oder der Klang des Albums begleiten:

Still Corners - Strange Pleasuressommers letztes aufwallen : fliehen in die weite : fahrtwindsrausch : frei so frei : für kaum eine zeit und doch irgendwie ewig : so flüchtig dies gefühl so leicht in der schwere der dämmerung : nirgends ankommen wollen : reisend bleiben

einander die kehle geschnürt : unwissentlich : wir erblauen : uns bleibt nicht viel zeit

das bett zerrinnt nach allen seiten, doch mich schwemmt’s nicht davon : ich muss hier bleiben und wachen über alle nächte in denen du fern von mir bist : kein trost : jeder traum dreht sich um sich selbst

deine stimme knistert : am horizont explodiert ein wunsch

feuerfliegen sind leuchtkäfer sind glühwürmchen : wir irrlichtern zwischen ihnen : sehnen uns nach endloser nacht in der wir tanzen inmitten der flammen : gleiten, funkenbeflügelt

graue stadt voll bunter vibrationen : wir gehen ohne ziel, lassen uns ziehen, denken nicht nach oder vor : shiver and flow

meerwärts will das herz und sich der brandung entgegen werfen, ungebeugt und kühn : will untergehen, ein wenig untergehen, ein bisschen schweben bleiben nur

seltsam zurückgekehrt zu sein : kenne häuser, straßennamen, manch gesicht, doch wie in einem halbvergessenen traum : so fremd das vertraute : bin ich anders geworden, sehe also mit anderem blick das noch vorhandene damals oder veränderte sich alles andere ganz anders als geahnt?

im lichterflackern seh ich dich lachen : bässe lösen verkalkte gefühle : wir sind musik : jede faser will tanzen : wir wagen uns tiefer hinein in den rausch der nacht : was passieren wird wissen nicht mal die sterne

magnetischer moment : lichtstreifen wabern im augenwinkel : dicht gewebtes schwarz durch welches wir wege bahnen : wir sind still : wir sind still verloren : brauchen keinen retter : sind selig in der ungewissheit : wir genügen uns

den mondschein getötet : die sterne gelöscht : dem himmel die tiefe genommen : was ist wird werbung : ich glaube nicht an wunder aber an die macht der phantasie : noch gibt es so etwas wie hoffnung

sinken also in den äther : um uns tost die schöpfung : wirbelt, rast, zerbirst : wie im zeitraffer : wie in zeitlupe fallen wir hinauf, hindurch, hinweg : hinter den lidern blühende wüsten, ströme aus licht

wir erinnern uns an die zukunft : sie rauscht und flirrt

 

Ich bien ein lernfähiger Fersager

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. September – Als der Schriftsteller Michael Köhlmeier vor vielen Jahren die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen hielt, “outete” er sich dabei auch als Legastheniker. Seine Bücher habe er überhaupt nur auf dem Umweg über das gesprochene Wort zustande gebracht, nämlich indem er den jeweiligen Text in ein Aufnahmegerät sprach, von dem seine Gefährtin Monika Helfer ihn dann wiederum in Schrift transkribierte. “So hat er sich also die ausgefeilte Erzählweise (und Stimme) erarbeitet, mit der er berühmt geworden ist.”, dachte ich mir damals spontan. Ein der Not geschuldeter “Workaround”, der die Talente hinter seiner als “Behinderung” aufgefassten Eigenart erst recht zur Geltung bringen sollte. Überhaupt fühlt sich das Wort “Fersager” viel schöner an als mit V geschrieben.

Ich bien ein lernfähiger FersagerWomit wir schon bei einem Grundproblem des gesamten Formenkreises der sogenannten Neurodiversität angelangt wären: Es wird davon ausgegangen, dass eine bestimmte Art und Weise (nämlich die “bei uns” allgemein übliche) des Lernens “normal” sei und alles davon abweichende eine reparaturbedürftige Fehlleistung. Das allerdings ist nach heutigem Kenntnisstand nicht nur ein fester Blödsinn, sondern auch noch für die gesamte Gesellschaft schädlich, also schlicht schlecht. Warum das so ist? Es gibt generell so viele unterschiedliche Gehirnarten wie es Menschen gibt (man spricht von individuell ausgeprägten Funktionsweisen des Gehirns, die genauso einzigartig und unverwechselbar sind wie Fingerabdrücke). Wenn wir also (als Schule, als Eltern, als Geschwister – und überhaupt als Mitkinder) all die irgendwie andersartig denkenden Menschen, mit denen wir es zu tun haben, als selbstschuldige Fehlfunktionen ansehen und sie auch so behandeln, dann …

… sind wir Versager, weil wir ihnen das Menschenrecht auf Entwicklung ihrer ganz eigenen Lösungswege versagen. Und uns selbst die Möglichkeit, über die bisherigen Sichtweisen hinaus zu sehen, vorenthalten. Für mich fühlt sich das Wort “Fersager”  völlig anders an als “Versager”, aber ich kann zur Zeit noch nicht begründen oder genau erklären, warum. “Regeln sind nicht im Kopf, sie sind lediglich brauchbar, um bestimmte Leistungen im Nachhinein zu beschreiben.” Der Salzburger Lernforscher Herbert Fartacek bringt uns mit diesem Satz von Manfred Spitzer auf eine Fährte

Ich bien ein lernfähiger Fersager

 

Fontaines D.C. – Romance

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. SeptemberHoppala, da taucht auf einmal eine Band auf, die sehr eigenwillig und selbstbestimmt Musik macht und dann auch noch (wer hätte das erwartet) recht erfolgreich durchstartet. Erst unlängst wurden sie im Kulturmagazin ttt als “Poetic Punks” aus Irland vorgestellt und dabei irgendwie als der neue heiße Scheiß des kompromisslosen Post-Punk-Genre überwindenden, ja geradezu zersprengenden Kunstschaffens dargestellt. Derlei macht uns naturgemäß neugierig und hoppala, was die Jungs von Fontaines D.C. da über ihre Einstellung zum Musikmachen so alles absondern und was man sonst noch darüber hinaus von ihrer Geschichte als Poeten, Musiker und vor allem als fünf Freunde herauszufinden vermag, das ist Grund genug, das Album Romance von Fontaines D.C. zu spielen.

Fontaines D.C. - RomanceWas wir erfahren haben und was wir also mit euch teilen möchten, lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Wie schön ist es, wenn sich etwas derart organisch lebendig wachsend entwickeln darf wie diese Band! Da beschließen fünf junge Typen (die sich nie zuvor getroffen haben), auf ein renommiertes Musik und Kunst-College zu gehen (nennt sich BIMM und ist diesfalls in Dublin). Sie lernen sich kennen und bemerken, dass sie etwas verbindet, nämlich die Liebe zur Poesieund schon bald lesen sie sich gegenseitig ihre Gedichte vor, auch in den Pubs der Umgebung. So werden sie Freunde und im weiteren Verlauf bringen sie gemeinsam einige Lyrikbände heraus. Danach beschließen sie, eine Band zu gründen, die schnell überregionales Interesse weckt und die, wie wir heute wissen, sehr erfolgreich gewesen sein wird oder so. Für uns ist dabei der Schaffensprozess interessant: Aus was für inneren Haltungen und durch welche Wechselwirkungen in der Gruppe (die ein Freundeskreis ist) entsteht die besondere Qualität ihrer Musik, die ja offenbar mehr verkörpert als zur reinen Publikumsbelustigung notwendig wäre?

“Ich glaube, man muss ganz frei und unbeeinflusst von der Außenwahrnehmung sein. Ich glaube, in dem Moment, in dem man anfängt, seine Worte so auszuschmücken, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise wahrgenommen werden, ist man erledigt.” Soweit Gitarrist Carlos O’Connel. Und Sänger Grian Chatten gemeinsam mit ihm:
“Ein großes Ziel von mir ist, dass wir am Ende immer noch gute Freunde sind. – Für mich das einzige Ziel! – Ja, für mich wäre es mehr wert, wenn wir als Band nur halb so erfolgreich wären, dafür aber doppelt so enge Freunde.”

Suchen wir nicht auch oft nach einem besseren Leben in einer kaputten Welt?

 

Amelia (Laurie Anderson Album)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. September – Diesmal begegnen sich zwei starke Frauen in unserer Sendung: Die genresprengende Avantgarde-Klangwelten-Geschichtenerzählerin Laurie Anderson und die frühfeministische Weltumfliegerin Amelia Earhart. Anlass ist das soeben erschienene Album “Amelia”, mit dem Laurie Anderson der Vorreiterin einer umfassenden Emanzipation ihr Denkmal setzt. Und das in Form einer beeindruckend runden und ausgereift vielschichtigen Collage, die durch die Verbearbeitung von Originalaufnahmen und Zitaten aus Amelia Earharts Leben eine bemerkenswerte Klarheit und Intensität erzeugt. Und die zugleich eine emotionale Nähe zu der 1937 im Pazifik verschollenen Flugpionierin hervorruft, ganz als würde man jetzt gerade neben ihr im Cockpit sitzen und die Welt umrunden

Laurie Anderson - Amelia (Text)Über das rätselhafte Verschwinden der bekanntesten Pilotin ihrer Zeit kann seitdem nur spekuliert werden. Vielleicht ist sie doch nicht ins Meer gestürzt und ertrunken, vielleicht haben sie und ihr Navigator Fred Noonan auf einer einsamen Insel überlebt, wir wissen es nicht. Und naturgemäß sind Elvis-lebt-artige Verschwörungsphantasien nicht das, was uns interessiert. Sich in die Seinszustände von Menschen hinein versetzen dafür umso mehr. So hat etwa Heather Nova vor gut 20 Jahren in ihrem Lied “I Miss My Sky” die Gedanken und Gefühle von Amelia Earhart im Rückblick auf ihre Karriere und in Erwartung ihres Todes nachempfunden, ein großartiges Beispiel dafür, wie mit den Mitteln der Kunst das Leben Verstorbener ins Leben Lebender übertragen und über die Todesgrenze hinweg zum Fortwirken verwandelt werden kann. Und diese Kunst-Magie vollzieht auch Laurie Anderson mit ihrem Erzählkosmos, wobei sie eine feine Balance zwischen expressiven Textpassagen und subliminalen Klangbildern zu halten versteht. Oft ist es nicht zu unterscheiden, ob sie gerade singt oder erzählt.

“I am an artist, because I want to be free. I hate it when people tell me what to do.” So beschreibt Laurie Anderson ihre Grundhaltung, ihre Herangehensweise in diesem Advice To the Young Interview. Und auch Amelia Earhart wollte sich von nichts und niemand vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben gefälligst nach irgendwelchen Normen und Rollenklischees zu gestalten habe. Um aber von ihrer Kunst oder eben von ihrer Fliegerei leben zu können, sind auch diese starken Frauen darauf angewiesen, in der Welt da draußen “Geschäfte zu machen”. There’s no Business like Showbusiness.

Kunnst?

PS. Laurie Andersons Gedankenwelt rund ums Entstehen dieses Albums in einem ausführlichen “Interview ohne Interviewer” (ein ähnliches Setting wie es bei André Hellers Menschenkinder angewandt wird). Sehr sehenswert

 

Erwachsendenbildung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. September“Und solang ich irgendwie atmen und reden und fühlen kann, und mich bewegen kann, will ich diese Magie betreiben und mich dieser Magie zur Verfügung stellen.” Doch von was für einer Verwandlung, ja geradezu Anverwandlung spricht der Mensch hinter der Maske hier eigentlich? Wenn er den Jedermann als Zauberbuch bezeichnet, dann sicher nicht in der Vorstellung, dass Wasser sich in Wein verwandelt, wenn man es dort hinein hält. “Ich werde das Gedicht.”, sagt Philipp Hochmair an anderer Stelle, und damit kommen wir dem Wesen der von ihm angesprochenen Magie schon näher. Und der Beobachtung, dass wir alle, solang wir in dieser Welt leben, werdende sind und nie fertig mit dem Prozess der Wandlung. Das ist Erwachsendenbildung

ErwachsendenbildungGibt es überhaupt “Erwachsene” (etwa als Gegenteil von Kindern) oder sollten wir nicht eher alle im werden miteinander verwandt sein? Das Konzept der Abtrennung von der eigenen Kindheit, wie es sich zum Beispiel in den Paulusbriefen wiederspiegelt, ist nicht nur höchst fragwürdig, sondern erweist sich mit zunehmendem Alter als ein festes psychologisches Problem. Denn diese “unerlösten Kinder”, die sich nie richtig entwickeln durften (und so auch nicht ihre spielerische Genialität im Leben des “Erwachsenen” ausüben können), sind ja nach wie vor anwesend und es kostet immer mehr Kraft, sie in der inneren Verbannung festzuhalten. Kraft, die uns zum Leben fehlt. Halber Mensch. Und wie schön wäre es, einem Jugendlichen, der unter seinem Anspruch “endlich nicht mehr Kind und endlich erwachsen sein zu wollen” erkennbar leidet, mitzuteilen, dass man selbst auch gerade “nicht mehr dort ist, von wo man herkommt” und zugleich “auch noch nicht dort, wo es einen hin bewegt”.

Ankommen kann (und wird) man bei sich selbst. Oder eben nicht. Das ist das ganze Geheimnis der Gelassenheit, vor allem im Hinblick auf das eigene Endlichsein hier in diesem Erdenleben. Was also gäbe es für ältere Menschen sonst an einem weiteren Geburtstag zu feiern als die Aussicht, sich selbst als eine ureigene Symphonie in immer neuen Variationen bis ins zuletzt auch Unvollendete fortzuschreiben? Das mag andeuten, wie wir im Spannungsfeld der verschiedenen Zeitbegriffe zufrieden leben können, ohne uns zerreiben zu lassen vom Chronos (der seine Kinder frisst).

Was ist ein Kulturmagazin? Nun, ein Kunnstbiotop, in dem es möglich ist, so eine Magie zu betreiben, nämlich Schönes und Interessantes in Beiträge zu verwandeln und so das, was wir entdeckt haben, was uns anspricht und fasziniert, mit unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu verbinden und in veränderter Gestalt wieder anderen zu zeigen. Wir sind in Entwicklung begriffene Erwachsende und wir laden zum Miterleben wie auch zum Selbstweiterentwickeln ein. Erwachsendenbildung, eine bemerkenswerte Begrifflichkeit, die man sich in die Seele sinken lassen sollte:

Erwachsendenbildung.

 

Wursten von Hunden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. AugustFeiern wir das Finale der Festspielsaison mit einem genialen Werk aus der Welt des Melodic Hardcore oder Skate Punk oder wie es euch gefällt … Und gedenken wir zudem eines Meisters der angewandten Sprachzerlegung, dessen Gedicht franz hochedlinger gasse unseren heutigen Ausflug mit dem Chor der wütenden Kinder inspiriert: “wo gehen ich / liegen spucken / wursten von hunden / saufenkotz / ich denken müssen / in mund nehmen / aufschlecken schlucken / denken müssen nicht wollen” Poesie und Widerstand – aus der Erfahrung des “Nicht zur Geltung kommens” und “Keine Bedeutung habens”, die den endgültigen Kontrapunkt setzen zum Geklingel der Reichen und Mächtigen, deren ganze “Weltbeherrschung” damit verglichen keine bleibende Bedeutung hat.

Wursten von Hunden - The Decline (Trump)Der kleine Norbert war unlängst in seiner frühesten Kindheit unterwegs und entdeckte dort den Topf seines eigenen Zorns. Neugierig, wie das darin herum brodelnde Wutgebräu wohl entstanden war, bemerkte er seine ersten Versuche, zu etwas “Nein” zu sagen (also irgendwie nonverbal auszudrücken, dass er dies oder jenes so jetzt nicht wolle). Und zugleich erinnerte er sich, wie diesen Neinsageversuchen immer wieder so gar nicht entsprochen wurde. – Seine Bedürfnisse und Gefühle wurden also ignoriert und stattdessen wurde ihm mit aller Macht der Erwachsenen “drübergefahren”. Das stellt die früheste Erfahrung von Missbrauch und Gewalt dar und das ist auch das Gefühl, aus dem Wut, Empörung und berechtigter Zorn entstehen. Wenn jetzt noch dazu die Äußerung dieser Emotionen (etwa von narzisstischen Eltern) zurückgewiesen oder sogar bestraft werden, dann muss das Kind sie ja irgendwo zwischenlagern in einem inwendigen Gefäß wie dem erwähnten “Topf des Zorns”. Und da drin verbleiben sie dann auch (und wirken unerkannt weiter) bis man sie anderweitig ausdrücken kann …

Das eigenwillige Opus Magnum von NOFX, das als über 18 Minuten langer Punksong konzipierte “The Decline”, gibt uns Gelegenheit, unsere oft eingetopften und im Topf verstopften Emotionen wieder wahrzunehmen, auf dass wir ihre ungeheure Kraft zu etwas für unser jetziges Leben brauchbarem, erfreulichem, lustvollem und nahrhaftem “umerschaffen” mögen. Durch das Hören von Kunnst, die aus ihrer Wut über den Wahnsinn schöpft, dazu angeregt, unsere Gefühle wieder anderen zu offenbaren. Wir werden Großes schaffennach unseren eigenen Maßstäben, was “Groß” ist.

Wir sind ein Wursten von Hunden.

Zu diesem Behufe verwenden wir unter anderem eine erstaunliche Neuaufnahme: “The Decline Live at Red Rocks with Baz’s Orchestra”, kongenialst arrangiert von Bastien “Baz” Brisson, dem es mittendrin bei seinem Xylophonsolo geradezu den Martin Grubinger raushaut. Und wir wären kein “etwas anderes Kunnstbiotop” in einer Stadt der Festspiele, wenn wir nicht zum Schluss auch noch die Übersetzung der Punkhymne in eine orchestrale Musiksprache zu Gehör und somit zur Geltung brächten: “NOFX’s The Decline (A Punk Rock Symphony)”

Es heißt, wenn schon, dann “Erwachsendenbildung” …