Wenn Worte reden könnten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. Februar“Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass ein Bühnenprogramm von mir auch immer energetisch zu sein hat. Es muss Druck aufgebaut werden. Dann bleiben die Leute wach, wenn man Glück hat, wobei ich hier ein bißchen Pech habe, glaub ich, in der ersten Reihe, aber das ist mir ganz wichtig, es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Fernsehen ankucken find ich…” So sprach Jochen Malmsheimer bei unserer ersten Begegnung nach einem seiner furiosen Auftritte in der ARGEkultur. Und seitdem ist er in unseren Sendungen immer wieder als Beitragstäter aus der Welt des entfesselten Worts gut zu hören gewesen – und das wird er auch heute wieder: “Wenn Worte reden könnten oder Vierzehn Tage im Leben einer Stunde” macht Literatur zum Bühnenerlebnis.

Wenn Worte reden könntenDass er diesmal auch prominent in der Nachtfahrt vorkommt, das hat mit der inneren Auswirkung seiner Wortfluten zu tun. Die reißen einen nämlich geradezu mit hinein in einen Strudel aus Szenen, Stimmen und Stimmungen, dazu noch in derart mehrfacher Gleichzeitigkeit, dass es einem beim bloßen Zuhören die Glückshormone durch sämtliche Synapsen spült. Jochens präzise formulierte Beobachtungen aus dem seltsamen, bizarren und absurden Verhaltenszoo der an- und verwesenden Menschenleute sind für sich allein schon köstliche Kunst, entfalten jedoch durch die Übersteigerung ins Phantastische noch eine weitere Wirksamkeitsebene, mit der wir unvermittelt in die unendliche Bilderwelt unserer Vorstellungskraft eintreten. Vor allem aber müssen wir immer und immer wieder lachen, zumal wir die meisten der hier dargestellten Schrägheiten aus dem Menschentum schon selbst beobachtet und dabei innerlich kommentiert haben, nur eben nicht so verdichtet ausformuliert.

Der Witz ist das Zusammentreffen einer möglichen mit einer unmöglichen Ebene. Es von der Bühne herab (oder aus dem Ohrenkopf) präsentiert zu bekommen, dass wir den unsäglichen und oft unerträglichen Irrwitzigkeiten des uns umplempernden Weltgedümmels durchaus auch wortgewaltsam entgegentreten können, das lässt uns, jedenfalls in der Phantasie, Selbstwirksamkeit erfahren. Erinnern wir uns dabei an das Mediopassiv (Hartmut Rosa), so stellen wir fest, dass wir weder allmächtig noch ohnmächtig sind, sondern sowohl aktiv als auch passiv am Dasein beteiligt.

Wir sind grundsätzlich der Ansicht, dass Jochen Malmsheimer erlebt gehört. Es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Radio anhören. Daher rufen wir: Treten sie zu – im Hörtheater unseres Vertrauens! Wenn Worte reden könnten, dann könnten Zahlen rechnen? Worte können unsere Welt verwandeln, wenn man sie lässt.

Radio Artarium feat. Gunkl & Malmsheimer

 

Das Unverfügbare

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. Januar – Zwischen der Versenkung in den Abgrund der Endlichkeit und dem ausgewachsenen Weltuntergangshumor gibt es einen Übergang, der mitunter kaum wahrnehmbar ist. Ähnlich wie derjenige zwischen Euphorie und Depression, der sich im winzigkleinen “synaptischen Spalt” abspielt. Oder überhaupt der zwischen Wollen und Vollbringen. Überall dort, wo es zu einem Übergang zwischen dem Einen und einem Anderen kommt, ist das Unverfügbare. Der Soziologe Hartmut Rosa (dessen Arbeiten über Beschleunigung und Resonanz wir bereits eine Sendung widmeten) hat inzwischen ein wohltuend gescheites Buch über das Phänomen der Unverfügbarkeit geschrieben, dem wir uns heute in einigen Aspekten zuwenden wollen, etwa im Vergleich der Druckausgabe mit dem Hörbuch.

Das UnverfügbareGetreu unserem bekannten Bestreben, einen Autor auch jenseits seiner Bücher erlebbar zu machen, stellen wir die von Axel Wostry gelesene Hörprobe einem von Hartmut Rosa vor Studenten gehaltenen Vortrag gegenüber. Einem Vortrag übrigens aus der Ringvorlesung der Europa-Universität Flensburg, deren zweiteiliger Aufbau (jeweils vor und nach der Corona-Pandemie) das Thema Unverfügbarkeit auf drastische Weise veranschaulicht. Der Wettbewerb “Eine Uni – ein Buch” (aus dem die Veranstaltung in Flensburg hervorging) ist sowieso ein Höhepunkt an fächerübergreifender Bildungsvermittlung, wie er hierzulande leider nirgends, und zwar nicht einmal in Ansätzen, stattzufinden scheint. Warum ist das so?

An dieser Stelle (gar nicht unabsichtlich) zurück zur Versenkung in den Abgrund des Endlichen und zu der restlos unguten Stimmung, die beim Betrachten der eigenen Ausweglosigkeit aufkommt. Noch dazu inmitten einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Betrügern und Berserkern zugrunde gerichtet wird, dass es nur so kracht. Wie heilsam wäre in dieser Situation ein herzhaftes Lachenkönnen und das Gefühl, sich mit Sprachwitz und Verstand zumindest gegen eine der Erscheinungsformen der allumbrodelnden Verblödungsindustrie zur Wehr setzen zu können! Versuchen wir es diesfalls mit Jochen Malmsheimer und seiner fulminanten Parodie einer Radio-Talk-Show zum Thema “Hebe-Kipp-Fenster und Schiebe-Dreh-Türen”. Inmitten all des uns zerquasselnden Entertainzements so etwas wie “Weltuntergangshumor”.

 

Wir Spätmodernen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Januar – Es war einmal ein Büchermensch, der in ein Gefängnis gesperrt worden war, mitten zwischen all die Berufsverbrecher mit ihren unterschiedlichen Gewaltausbildungen. Eines Tages fragte ihn der Anführer einer Einbrecherbande: “Was sollen wir mit dir anfangen, du blasses Bürscherl?” Worauf er antwortete: “Vielleicht bringt euch das eine oder andere, von dem ich euch erzähle, auf neue Gedanken. Vielleicht sogar dort, wo ihr bisher noch nicht hingedacht habt. Wenn nicht, ist es einfach Unterhaltung.” Und mit der Zeit wurde er, ob er wollte oder nicht, zu einem angesehenen Mitglied der Häfenbruderschaft. Was können wir daraus lernen? Die Moral von der Geschicht – ist die Geschicht. (Axel Corti). Und alles ist relativ – auch das mit der Freiheit und der Unterhaltungsindustrie. (frei nach Albert Einstein).

Wir SpätmodernenWir stehen doch alle im Fluss des Lebens und suchen nach dem einen oder anderen Körnchen WahrheitWillkommen in der Metapher – das für uns von besonderem Wert sein könnte. Nach einem neuen Impuls, der uns über den Stillstand hinaus befördert und uns glücklich macht. Nach dem nächsten Thema oder einfach einer winzigkleinen Idee, damit wir unserem Leben jenseits des “da kommt eh nichts mehr” wieder einen Sinn geben können. Und wenn nicht, dann befinden wir uns im Suchen selbst schon mitten “im Flow” und von Natur aus im Glückszustand zwischen Überforderung und Langeweile. Ein vielfach Hoch auf die daran (auch ganz ohne äußere Drogen) beteiligte Hirnchemie. Wir sind allesamt Kinder, die allein schon in der Tätigkeit des Goldwaschens oder Perlentauchens oder eben Sinnsuchens aufgehen. Betrachten wir also, was meist unbeobachtet vor sich geht – und zeigen wir einander, was wir dabei alles entdecken können.

In unserem Fall sind das Bücher, Gedanken und Themen, die wir in uns aufnehmen und die wir durch uns weiter entwickeln. Gedichte und Geschichten, die etwas in uns zum Klingen bringen und die sich dadurch auch in etwas Eigenes verwandeln, das wir wiederum weitergeben können. Und Musikstücke, die in ihrer Stimmung dazu beitragen, die vielen einzelnen Gedankenfäden zu einem größeren Erzählteppich zu verweben und Gefühlszustände, Erinnerungsfragmente sowie innere Bilderfluten mit dem Außenwelttheater in Zusammenhang zu bringen. Was hast du so gemacht?

Ach ja – Jeff Beck ist jetzt auch gestorbenDoch Venus in Furs wird uns bleiben.

 

Lou Reed – New York Songs

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Januar“Well I know one thing that really is true: This here’s a zoo and the keeper ain’t you – and I’m sick of it. I’m sick of you!” Lou Reed war immer schon beides zugleich: Beißend und liebevoll. Auch in seinem wohl gesellschaftskritischsten Album “New York” aus dem Jahr 1989, welches wir hier fast zur Gänze vorstellen. Liebe Österreicherl und -innerln, der sagenumrankte Gründer der Velvet Underground, langjährige Freund von Andy Warhol und schlussendliche Ehemann von Laurie Anderson serviert der Welt und uns darauf ein Lied über den verlogenen Schönsprech von politischem Personal, der als freundliche Fassade dessen innere Bosheit überdeckt: “Good Evening Mr. Waldheim”. Oder haben wir längst vergesserln, dass “damals” nur sein Pferderl bei der SA gewesen sein soll?

Lou Reed & John CaleIllustrieren wollen wir die heutige Songsammlung allerdings mit dem Cover der kurz darauf – anlässlich von Warhols Tod – entstandenen “Songs For Drella”. Und um der sensiblen Seite des Rockpoeten gerecht zu werden, haben wir auch den Titel “Hello it’s Me” in unsere Playlist eingearbeitet. Wie heißt es im Rolling Stone: “Reed verfolgte fortan das Ziel, die Empfindsamkeit des Romans in die Rockmusik zu übersetzen.” Dem haben wir nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass wir davon überzeugt sind, es tut einer in alle Richtungen auseinander fallenden Welt gut, wenn Menschen in ihr leben, die vermeintliche Gegensätze miteinander in Verbindung bringen können. Oder die sich zumindest daran abarbeiten, dieses wieder und wieder zu versuchen. Und so stellen wir diese knappe Stunde, in der lyrischer Text und expressive Musik verschmelzen, genau zwischen eine Spontanerzählung und eine Klangweltreise – um wieder einmal einen Zusammenhang zu stiften inmitten einer Radiofabrik, von der man oft sagt, zwischen ihren Sendungen gäbe es “die härtesten Übergänge”.

Heute, bald 10 Jahre nach seinem Tod (an den Folgen einer Lebertransplantation) befindet sich Lou Reed fraglos unter den ganz großen Poeten und Propheten der Musikwelt, wie zum Beispiel Leonard Cohen, Patti Smith oder Bob Dylan, eine gar beachtliche Ahnenreihe unserer Generation, die allesamt jenseits ihrer jeweiligen Einordnung in irgend einen Verwertungszweck zeitlose Schönheit und Wahrheit erschufen, an denen sich jede wie auch immer geartete Weltwidmung bis in alle Zukunft die Zähne ausbeißen wird. So ist das nämlich, nicht nur mit der Poesie!

I’m sick of you.

 

Ein unkastrierter Kater

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. JanuarMichael Köhlmeier hat es also wieder getan: Er hat ein Buch geschrieben. Einen weit ausladenden Roman. Noch dazu aus der Perspektive eines Katers, der in seinem siebten Leben seine sechs vorangegangenen erzählt, also quasi seine Memoiren schreibt, die wir auf knapp 1000 Seiten lesen oder (fast noch besser) als gut 40-stündiges Hörbuch von ihm selbst vorlesen lassen können. Der Kater heißt Matougenauer Monsieur Matou – und das bedeutet, dass er ein unkastrierter Kater ist, worauf er großen Wert legt, wie wir in seinem Bericht, unter vielem anderen, erfahren. Denn die sieben Leben dieses sprechen und schreiben könnenden Katers fangen bei der französischen Revolution an – und reichen bis zur studentischen Gegenwart in Wien und Berlin.

Katzen und ein unkastrierter KaterInklusive seiner jeweils dazwischen liegenden Aufenthalte “im Weggemachten”, einer von uns Menschen eher unbeholfen als “Jenseits” beschriebene Dimension. Eine Zwischenwelt des Übergangs von einem vergangenen in ein neues Leben, das sich die darin befindlichen Katzen selbst aus einem “Katalog” auswählen können. Hier berührt uns der in dieses Buch verdichtete Schatz aus all den verschiedenen Lebensthemen und Arbeiten seines Autors – und den wollen wir in dieser Sendung endlich zu Gespür bringen. Denn nichts ist sinnloser und missverständlicher als die unbeholfenen Versuche, diesen vielschichtigen Roman, der viel mehr als nur die Summe seiner Teile ist, auf irgendeine pseudosachbezogene Weise vorstellen, verkaufen, kritisieren oder interpretieren zu wollen. Diesem vielfach vollzogenen Schuss ins eigene Knie (gern auch in den Ofen, lieber Matou, der du dich sieben Leben lang an der Verwendung von Metaphern durch uns Menschen abarbeitest) liegt ein weltumspannender Irrtum zugrunde – nämlich das Nichtverstehen und somit das Nichtunterscheidenkönnen von rechtshemisphärisch und linkshemisphärisch geprägten Denkprozessen. In linkshemisphärisch geprägten Kategorien ist Köhlmeiers Welt nicht zu begreifen.

Was in vielen Rezensionen als ermüdender Mangel an Ordnung und Struktur beklagt wird (etwa das sprunghafte Erzählen des Katers Matou quer durch philosophische Gedanken, spontane Einfälle, Erinnerungen sowie geruchs-, geräusch-, gefühls- und vorstellungsbedingte Assoziationen, in Vor- und Rückblenden und sich zeitlos dehnenden Augenblicken undsoweiter), das ist die rechtshemisphärisch gestaltete Vielwelt aus Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit, mit der das vielleicht gar nicht so geheime Leben der Phantasie im Erzählen wie im Zuhören Wirklichkeit wird

Michael Köhlmeier – Take a walk on the wild side

 

Lauf, Hase, lauf …

> Sendung: Artarium vom Weihnachtssonntag, 25. Dezember – Und wieder einmal ist es soweit: Christentum, Brauchtum, Konsumall das ineinander geschichtet und übereinander aufgetürmt, so undurchdringlich zuviel und alles auf einmal – da möchte manch Menschenkind gern die Flucht ergreifen oder lieber gar nicht dabei gewesen sein. Lauf, Hase, lauf … Es war übrigens Georg Danzer, der zusammen mit Wilfried Scheutz erstmals die Perspektive des Hasen in einen Popsong einführte, um so das ohnmächtige Ausgeliefertsein angesichts von Gewalt und Verfolgung deutlich zu machen. “They crept on your tail, I know you wonder why, you’re so easy to hurt” heißt es in der englischen Version. Und das veranschaulicht auf erschreckende Weise, wie schutzbedürftig wir alle wären – als Kinder, die wir immer sind – oder eben als Hasen.

Der Gott allerdings, der da im Text “der Jagd ein Ende macht” muss etwas ganz anderes sein als all die blöden (und bösen!) Bilder, die uns andauernd von ihm gemacht werden, egal von welcher Über-Ich-kompatiblen PR-Abteilung oder Weltanschauungsindustrie. Es geht doch stets ums Ausgenutztwerden, um falsche Heilsversprechen oder um den mit Todesstrafe drohenden Kinderschreck. Das “Fest der Liebe” ist, so wie es sich den Empfindsamen heute oft tatsächlich darstellt, eher eine Gefahr, der es zu entrinnen oder die es zu überleben gilt. Liebe Mitopfer der Menschenvernichtungsmaschine, wir sind auf eurer Seite – weil wir “die dunkle Seite” von Weihnachten genauso erleiden wie ihr. Wir können euch leider das Leid über die Ungerechtigkeit auf der Welt nicht einfach wegblasen, auch wenn wir nur allzu gern den Frieden auf Erden ausrufen und ihn von dem Moment an zusammen mit euch erleben möchten. Wir können euch leider auch den Schmerz über die Gemeinheit und Gefühllosigkeit von Menschen, die euch Schaden zufügen, nicht einfach so wegmachen. Aber wir können unseren Schmerz und unser Leid mit euch teilen, um auf diesem Weg gemeinsam durch die Finsternis unserer Einsamkeit zu gelangen.

Wollen wir dem Abgrund in uns standhaltendenn noch leben wir – und uns ein paar wirklich “besinnliche” Betrachtungen rund um die speziellen Seinszustände gefühlsmenschlicher Nachtfahrten zu Gemüte führen. Die eigenen Kinder nicht “in den Krieg geben zu wollen” etwa. Oder als Jugendlicher mit Elektroschocks ”von der Homosexualität geheilt werden zu sollen”. Im Rückblick eine Lebensbilanz voll von vergeblichen Versuchen zu entdecken. Und plötzlich ratlos und bestürzt vor dem drohenden Ende der Welt zu stehen: “We must stop this mindless consuming!”

United Vibrations – I am we

 

Rainald Grebe – 1968

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. DezemberRainald Grebe, den wir als Inbegriff des Herumhupfens kennen und schätzen gelernt haben, ist ernsthaft krank. Er leidet an einer unheilbaren Autoimmunkrankheit namens Vaskulitis und hat seit 2017 bereits sechs Schlaganfälle überlebt. Eigentlich könnte er jederzeit direkt von der Bühne in ein Pflegeheim geratenaber er macht weiterhin seine Kunst, wenn auch in entsprechend veränderter Form. So hat er uns etwa unlängst einen “Abend Popmusik” (Konzertfilm) beschert, der im Zusammenspiel mit der Band “Fortuna Ehrenfeld” entstanden ist. In dieser knapp 2-stündigen Tour de Force durch zahllose Stilzitate tauchen (dank Jenny Thiele am Keyboard) auch entlegenere Kostbarkeiten auf – wie zum Beispiel ätherisch-erzählschwebige Laurie-Anderson-Stimmungen.

Rainald Grebe - 1968Wir wollen heute allerdings ein etwas älteres Konzeptalbum von Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung zelebrieren, und zwar das 2008 “zum 40. Geburtstag” des sprichwörtlich gewordenen Jahres erschienene “1968”. Die darin enthaltene “Zeitmaschine” hat es zusammen mit dem von uns immer wieder gefeierten “Guido Knopp” sogar bis in elaborierte germanistisch-kulturhistorische Fachzeitschriften geschafft. Den diesbezüglichen Artikel “Poetik der Einebnung: Zur Amalgamierung von Raum und Zeit in den Liedern Rainald Grebes.” von Gerrit Lembke kann man sich hier im Doc-Player ab Seite 35 zu Gemüte führen. Doch auch abseits der intellektuell beflissenen Detailwürdigung gelingt diesem Album eine ebenso gefühlvolle wie lehrreiche Zeitreise durch die nachkriegsdeutsche Revolution – die eigentlich nie stattfand, dafür dann halt anders und auch wieder nicht wirklich. Wollt ihr die totale Marktwirtschaft? Oder Follow the white rabbit!” Ja, Kinder: When I was young.

Über die ungemein vielfältige und inzwischen fragil gewordene Künstlerwelt des Rainald Grebe hat Peter Blau heuer in der Ö1-Sendereihe Gedanken ein famoses Portrait gestaltet, das es hier nachzuhören gibt und das wir ausdrücklich empfehlen. Wir reisen aber lieber noch einmal zurück in jene Versöhnungs-Stilepoche, in der wir dem Autor von “Rheinland Grapefruit. Mein Leben” erstmals begegnet sind und durch die wir ihn als echten In-betweener zwischen den Genres und Generationen ins Herz geschlossen haben. Und vielleicht ganz einfach – weil es so schön rockt!

Ich habe noch Briefe mit dem Füller geschrieben
und mit Münzen telefoniert.
Hat es mir geschadet?
Hat es mit geschadet?
When I was young.
When I was young.

 

Menschliche Geschichten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. November“Geldsäckulum, gstinkerts!” Dieses Wort von Uwe Dick eignet sich trefflich als Motto für ein weiteres Jahrhundert des “Ökonomischen Diktats”. Oder für eine Fußballweltmeisterschaft, die unter den widerlichsten Machtzwängen absolutistischer Geldherrschaft zustande gekommen wurde. “Massenblödien, Quasselödien, Kassenschmähdien!”, ruft Uwe Dick in den aktualitätsfixierten Mediendschungel. Der letzte deutsche Fußballtrainer, der sich noch traut, in Interviews plötzlich menschliche Geschichten anzusprechen, meint dazu: “Wenn du auf die Welt schaust, was für Wahnsinnige da überall an der Regierung sind, und wie sie sich die Taschen voll machen – das ist halt teilweise im Fußball auch so. Das ist unser großes Problem, das wir gesellschaftlich haben.” Christian Streich

Menschliche GeschichtenReisen wir in die Vergangenheit (die Fotos vom “Weltmeisterzug” hat die Grupa Szukająca Włazu bereitgestellt) und schauen wir uns im Jahr 1954 um, als die deutschen Nationalspieler für die Dauer ihrer WM-Teilnahme Verdienstentgang bezahlt bekamen und sonst nichts. Sönke Wortmann hat 2003 einen Spielfilm über das “Wunder von Bern” gedreht, der zunächst wie ein flachlustig rührseliges Heldenepos daher kommt, auf den zweiten Blick (oder für das entsprechende Feingefühl) aber auch eine ganz andere Geschichte erzählt. Der eigentliche Held ist nämlich der 11-jährige Matthias, der stellvertretend für uns alle die Folgeschäden und Traumatisierungen in Nachkriegsdeutschland erleidet. Doch Sönke Wortmann gelingt es, sämtliche Gefahren und Bedrohlichkeiten durch “wundersame Wendungen” dahingehend umzudichten, dass er eigentlich jenes Wunder erzählt, wie eine “Heilung der Vergangenheit” tatsächlich stattfinden kann.

Brita Steinwendtner wählt wiederum einen anderen Weg, um die Geschichten, die uns Dichter*innen erzählen, mit deren Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen und sie dergestalt zu “verlebendigen”, also auch für uns Nachgeborene erlebbar – und somit wirksam zu machen. Im neuen Band “An den Gestaden des Wortes” aus ihrer Reihe “Dichterlandschaften” reist sie nicht nur durch die Zeit, sondern auch zu den Orten, wo sich deren Wirklichkeit, Imagination und Inspiration mit einander verbunden haben – und sie lädt uns ein, mit ihr auf eine magische Reise zu gehen.

Geschichte mit Gefühl nachvollziehbar zu machen, das verwandelt Geschichte in zutiefst menschliche Geschichten.

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

Flasch

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”