Wir Spätmodernen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Januar – Es war einmal ein Büchermensch, der in ein Gefängnis gesperrt worden war, mitten zwischen all die Berufsverbrecher mit ihren unterschiedlichen Gewaltausbildungen. Eines Tages fragte ihn der Anführer einer Einbrecherbande: “Was sollen wir mit dir anfangen, du blasses Bürscherl?” Worauf er antwortete: “Vielleicht bringt euch das eine oder andere, von dem ich euch erzähle, auf neue Gedanken. Vielleicht sogar dort, wo ihr bisher noch nicht hingedacht habt. Wenn nicht, ist es einfach Unterhaltung.” Und mit der Zeit wurde er, ob er wollte oder nicht, zu einem angesehenen Mitglied der Häfenbruderschaft. Was können wir daraus lernen? Die Moral von der Geschicht – ist die Geschicht. (Axel Corti). Und alles ist relativ – auch das mit der Freiheit und der Unterhaltungsindustrie. (frei nach Albert Einstein).

Wir SpätmodernenWir stehen doch alle im Fluss des Lebens und suchen nach dem einen oder anderen Körnchen WahrheitWillkommen in der Metapher – das für uns von besonderem Wert sein könnte. Nach einem neuen Impuls, der uns über den Stillstand hinaus befördert und uns glücklich macht. Nach dem nächsten Thema oder einfach einer winzigkleinen Idee, damit wir unserem Leben jenseits des “da kommt eh nichts mehr” wieder einen Sinn geben können. Und wenn nicht, dann befinden wir uns im Suchen selbst schon mitten “im Flow” und von Natur aus im Glückszustand zwischen Überforderung und Langeweile. Ein vielfach Hoch auf die daran (auch ganz ohne äußere Drogen) beteiligte Hirnchemie. Wir sind allesamt Kinder, die allein schon in der Tätigkeit des Goldwaschens oder Perlentauchens oder eben Sinnsuchens aufgehen. Betrachten wir also, was meist unbeobachtet vor sich geht – und zeigen wir einander, was wir dabei alles entdecken können.

In unserem Fall sind das Bücher, Gedanken und Themen, die wir in uns aufnehmen und die wir durch uns weiter entwickeln. Gedichte und Geschichten, die etwas in uns zum Klingen bringen und die sich dadurch auch in etwas Eigenes verwandeln, das wir wiederum weitergeben können. Und Musikstücke, die in ihrer Stimmung dazu beitragen, die vielen einzelnen Gedankenfäden zu einem größeren Erzählteppich zu verweben und Gefühlszustände, Erinnerungsfragmente sowie innere Bilderfluten mit dem Außenwelttheater in Zusammenhang zu bringen. Was hast du so gemacht?

Ach ja – Jeff Beck ist jetzt auch gestorbenDoch Venus in Furs wird uns bleiben.

 

Ein unkastrierter Kater

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. JanuarMichael Köhlmeier hat es also wieder getan: Er hat ein Buch geschrieben. Einen weit ausladenden Roman. Noch dazu aus der Perspektive eines Katers, der in seinem siebten Leben seine sechs vorangegangenen erzählt, also quasi seine Memoiren schreibt, die wir auf knapp 1000 Seiten lesen oder (fast noch besser) als gut 40-stündiges Hörbuch von ihm selbst vorlesen lassen können. Der Kater heißt Matougenauer Monsieur Matou – und das bedeutet, dass er ein unkastrierter Kater ist, worauf er großen Wert legt, wie wir in seinem Bericht, unter vielem anderen, erfahren. Denn die sieben Leben dieses sprechen und schreiben könnenden Katers fangen bei der französischen Revolution an – und reichen bis zur studentischen Gegenwart in Wien und Berlin.

Katzen und ein unkastrierter KaterInklusive seiner jeweils dazwischen liegenden Aufenthalte “im Weggemachten”, einer von uns Menschen eher unbeholfen als “Jenseits” beschriebene Dimension. Eine Zwischenwelt des Übergangs von einem vergangenen in ein neues Leben, das sich die darin befindlichen Katzen selbst aus einem “Katalog” auswählen können. Hier berührt uns der in dieses Buch verdichtete Schatz aus all den verschiedenen Lebensthemen und Arbeiten seines Autors – und den wollen wir in dieser Sendung endlich zu Gespür bringen. Denn nichts ist sinnloser und missverständlicher als die unbeholfenen Versuche, diesen vielschichtigen Roman, der viel mehr als nur die Summe seiner Teile ist, auf irgendeine pseudosachbezogene Weise vorstellen, verkaufen, kritisieren oder interpretieren zu wollen. Diesem vielfach vollzogenen Schuss ins eigene Knie (gern auch in den Ofen, lieber Matou, der du dich sieben Leben lang an der Verwendung von Metaphern durch uns Menschen abarbeitest) liegt ein weltumspannender Irrtum zugrunde – nämlich das Nichtverstehen und somit das Nichtunterscheidenkönnen von rechtshemisphärisch und linkshemisphärisch geprägten Denkprozessen. In linkshemisphärisch geprägten Kategorien ist Köhlmeiers Welt nicht zu begreifen.

Was in vielen Rezensionen als ermüdender Mangel an Ordnung und Struktur beklagt wird (etwa das sprunghafte Erzählen des Katers Matou quer durch philosophische Gedanken, spontane Einfälle, Erinnerungen sowie geruchs-, geräusch-, gefühls- und vorstellungsbedingte Assoziationen, in Vor- und Rückblenden und sich zeitlos dehnenden Augenblicken undsoweiter), das ist die rechtshemisphärisch gestaltete Vielwelt aus Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit, mit der das vielleicht gar nicht so geheime Leben der Phantasie im Erzählen wie im Zuhören Wirklichkeit wird

Michael Köhlmeier – Take a walk on the wild side

 

Lauf, Hase, lauf …

> Sendung: Artarium vom Weihnachtssonntag, 25. Dezember – Und wieder einmal ist es soweit: Christentum, Brauchtum, Konsumall das ineinander geschichtet und übereinander aufgetürmt, so undurchdringlich zuviel und alles auf einmal – da möchte manch Menschenkind gern die Flucht ergreifen oder lieber gar nicht dabei gewesen sein. Lauf, Hase, lauf … Es war übrigens Georg Danzer, der zusammen mit Wilfried Scheutz erstmals die Perspektive des Hasen in einen Popsong einführte, um so das ohnmächtige Ausgeliefertsein angesichts von Gewalt und Verfolgung deutlich zu machen. “They crept on your tail, I know you wonder why, you’re so easy to hurt” heißt es in der englischen Version. Und das veranschaulicht auf erschreckende Weise, wie schutzbedürftig wir alle wären – als Kinder, die wir immer sind – oder eben als Hasen.

Der Gott allerdings, der da im Text “der Jagd ein Ende macht” muss etwas ganz anderes sein als all die blöden (und bösen!) Bilder, die uns andauernd von ihm gemacht werden, egal von welcher Über-Ich-kompatiblen PR-Abteilung oder Weltanschauungsindustrie. Es geht doch stets ums Ausgenutztwerden, um falsche Heilsversprechen oder um den mit Todesstrafe drohenden Kinderschreck. Das “Fest der Liebe” ist, so wie es sich den Empfindsamen heute oft tatsächlich darstellt, eher eine Gefahr, der es zu entrinnen oder die es zu überleben gilt. Liebe Mitopfer der Menschenvernichtungsmaschine, wir sind auf eurer Seite – weil wir “die dunkle Seite” von Weihnachten genauso erleiden wie ihr. Wir können euch leider das Leid über die Ungerechtigkeit auf der Welt nicht einfach wegblasen, auch wenn wir nur allzu gern den Frieden auf Erden ausrufen und ihn von dem Moment an zusammen mit euch erleben möchten. Wir können euch leider auch den Schmerz über die Gemeinheit und Gefühllosigkeit von Menschen, die euch Schaden zufügen, nicht einfach so wegmachen. Aber wir können unseren Schmerz und unser Leid mit euch teilen, um auf diesem Weg gemeinsam durch die Finsternis unserer Einsamkeit zu gelangen.

Wollen wir dem Abgrund in uns standhaltendenn noch leben wir – und uns ein paar wirklich “besinnliche” Betrachtungen rund um die speziellen Seinszustände gefühlsmenschlicher Nachtfahrten zu Gemüte führen. Die eigenen Kinder nicht “in den Krieg geben zu wollen” etwa. Oder als Jugendlicher mit Elektroschocks ”von der Homosexualität geheilt werden zu sollen”. Im Rückblick eine Lebensbilanz voll von vergeblichen Versuchen zu entdecken. Und plötzlich ratlos und bestürzt vor dem drohenden Ende der Welt zu stehen: “We must stop this mindless consuming!”

United Vibrations – I am we

 

Frieden auf Erden und …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. DezemberGibt es so etwas wie eine “Weihnachtsthematik”? Wir wollen an diesem 4. Adventsonntag unserer Sehnsucht nach Frieden nachspüren. Mit “Frieden” kann dabei vielerlei gemeint sein – nicht bloß (aber durchaus auch) die oft zitierte “Abwesenheit von Krieg”. Das Einvernehmen mit sich selbst etwa. Das Wissen um ein für sich selbst und andere sinnerfüllendes Leben. Das Wahrgenommen- und Ernstgenommenwerden als Mensch auf dieser Welt. Das nicht von vorn herein zu irgendeinem Nutzzweck abkommandiert werden. Das nicht missbraucht, nicht geschlagen, nicht terrorisiert, nicht verletzt werden. Wir sehen schon – das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten, die in der Welt, in der wir leben, so überhaupt nicht selbstverständlich sind. Jedes Kind müsste daran verzweifeln

Frieden auf ErdenWenn es nicht das Grauen, in das es hinein blickt, durch Abspaltung eines Teils seiner Gefühlswelt (und damit auch seiner Persönlichkeit) zu neutralisieren vermöchte, um weiter leben, um überhaupt überleben zu können. Seitdem, liebe Kinder und Mitkrüppel, leben wir teilamputiert und befangen im Zwischendrin von Über-Ich und Es, von Anpassung und Rebellion. Das klingt zunächst eher betrüblich und ausweglos. Ist es auch. Jedoch müssen wir für unsere Betrachtung unbedingt die Perspektive des Kindes einnehmen, um nachvollziehen zu können, wie sich das Nichtvorhandensein von Frieden und der verzweifelte Wunsch und die abgrundtiefe Sehnsucht danach anfühlen. Schließlich sind wir alle nach wie vor Kinder, ist all unser Erleben als Kind in unserer Erinnerung, auch in unserem Körpergedächtnis, dauerhaft abgespeichert. Und ganz egal, was wir da erlebt und erlitten haben (und durch welches Ereignis die einstige Ohnmacht und Ausgeliefertheit wieder hervorgerufen wird) – wir sehnen uns nur nach einem: Es soll endlich Frieden sein. Frieden auf Erden und Frieden in uns.

“Ich küsste gerne Mädchen. Ich küsste gerne Jungs. Und nach jedem Kuss habe ich mich gefragt, warum man sich da entscheiden muss.” Rainald Grebe formuliert diese tröstliche Wahrheit als Rückblick auf seine Kindheit und Jugend in einem schönen Lied namens “In Between” und legt uns damit eine erste Spur zum Frieden mit sich selbst. Und Max Prosa nimmt in seinem unter dem Eindruck von Krieg und Gewalt gedichteten “Wann könnt ihr endlich friedlich sein” konsequent die Position eines bedürftigen Kindes ein. Diese Sichtweise könnte der Beginn einer Lösung für das Problem mit dem nichtvorhandenen Frieden auf der Welt sein. Ein Kind weint

Wir sehnen uns nach Frieden.

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

Flasch

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”

 

Palmen Unter

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. OktoberEr ist wieder da! Und schon ereignet sich auch Inspiration. Es ist ein merkwürdiger Zustand, der da wie aus dem Nichts plötzlich in Bewegung kommt. Ein Vierzeiler von Wolfgang Kauer, kurz nach der Rückkehr aus dem Urlaub unter Palmen am Telefon vorgetragen, erinnert mich an ein Lied aus meiner Jugend von Konstantin Wecker: “Die Herren pokern, ihre Welt schneit unsere Herzen langsam ein. Jetzt kann nur noch die Phantasie die Sterbenden vom Eis befreien.” Mein Denken biegt in eine neue Richtung ab, und ich frage meinerseits: “Was ist das eigentlich, Phantasie? Der Hase antwortet: “Julian Schutting würde sagen, dass er über eine entsprechende Imaginationskraft verfügt.” Wie geil! Es regnet Themen, mit denen wir weiter denken – und arbeiten können …

Palmen UnterDa machen wir doch gleich eine Sendung draus! Zumal der Hase aka Christopher Schmall zur Zeit an einem neuen Gedichtzyklus mit dem Arbeitstitel “Palmen Unter” laboriert – und sich dabei auch von Julian Schutting inspirieren lässt. Verdichten wir eine Collage aus Anekdoten, Lesungen, Musik und Künstlergespräch – zu einer kaum beschreibbaren, auf jeden Fall aber erlebbaren Welt, die sich zwischen zwei Menschen ereignet – und dabei doch so geheimnisvoll bleibt, wie Peter Gabriel das einmal in einer Vorrede zu dem wunderbaren Song “Secret World” ausgedrückt hat (ich übersetze sinngemäß): “Machmal sieht man ein so eng verbundenes Menschenpaar, dass sich nur noch schwer unterscheiden lässt, wer jetzt genau wer ist. Und kleinste Bestandteile von ihnen lösen sich auf – in einen Raum, der zwischen ihnen entsteht. Dies könnten wir als geheime Welt bezeichnen.”

Wieso geheim? Manch Mensch mag sich das jetzt fragen – und schon esoterisches Marktgeschrei im Hintergrund trapsen hören oder die Andenkenstandler der einen oder anderen Weltreligion mit ihren morschen Knochen klappern. Aber nicht doch! Wir leben ja alle in mehreren Welten zugleich, mindestens jedenfalls in deren drei: Die Welt der Straßenverkehrsordnung, die Welt der Wünsche und Phantasien – und die Welt dazwischen. Diese dritte Welt (!) haben wir auch bitter nötig, um uns nicht an den Widersprüchen der ersten zwei immer und immer wieder aufzureiben.

Noch lockt das Unverfügbare

 

Die Heartgun Premiere

> Sendung: Artarium, vom 18. SeptemberEmotionale Intensität. Dieser Begriff taucht immer wieder auf, wenn man mit den zwei Menschen hinter der Musik – und hinter den Texten, den Videos, der Performance von Heartgun über ihre Arbeiten spricht, die jetzt am Sonntag, 25. September um 19:30 erstmals im Off-Theater der breiten (und offentlich bereiten) Öffentlichkeit präsentiert werden können. Denn “die Essenz aus einigen Jahren Prozess”, wie sie ihr inzwischen vielfach umgestaltetes Programm selbst beschreiben, ist als einstweiliges Ergebnis intensiver Einlassungen auf innere und äußere Herausforderungen zu verstehen – und demensprechend dicht zu erleben. Bernie Rothauer und Alexandra Niedermoser führen uns vor, wie jede Krücke zum Zepter werden kann – im Zauberland des unverwüstlichen Trotzdem.

HeartgunDie auch coronabedingt lange Vorbereitungszeit auf die doch endlich stattfindende Premiere konnte zum Ausgestalten immer neuer Details verwendet werden, und so entstand ein komplexes Programm aus Musik, Videos, Texten, Klangbearbeitung und Lichteffekten, was an sich schon eindrucksvoll und intensiv wäre, bei Heartgun aber zunächst “nur das Setting” oder eben “das Bühnenbild für die eigentliche Handlung” darstellt. Die findet nämlich zeitgleich in den Akteuren selbst, in den Köpfen des Publikums und somit in der Resonanz zwischen allen an diesem Abend Beteiligten statt. Wie kann das geschehen? Nun, indem diese “Show” sich nicht bloß im Vorzeigen des Erarbeiteten erschöpft, sondern über den Begriff der Darbietung weit hinaus geht – ich möchte es als ein tiefgehendes und umfassendes “Darleben” bezeichnen, bei dem die Unmittelbarkeit des Erlebens auf unterschiedlichste Weise spürbar wird.

Das erklärt auch die weiße Maske, mit der Sängerin Xandra auftritt. Sie dient ihr zur Abgrenzung von den jeweiligen Rollen, in die sie sich auf der Bühne radikal einlebt – und unserem Vorstellungsvermögen als emotionalphantastische Projektionsfläche. Es geht bei Heartgun insgesamt um das Streben nach der Essenzeines Liedes, eines Themas, einer Stimmung – und darum, dieses Destillat dem Publikum so frei zu vermitteln, dass es berührt, bewegt, erschüttert – und im besten Fall zu eigenen Weiterentwicklungen anstiftet. Eine Kunstverkostung der etwas intensiveren Art.

Wir wollen euch darauf Appetit machen, indem wir einige Elemente/Beiträge dieser kommenden Aufführung vorab im Radio vorstellen, so die Coverversion des zeitlosen Cranberries-Hits “Zombie” oder die für das Selbstverständnis von Heartgun wichtige Eigenkomposition “Not Enough”. Des weiteren gibt es eine Livelesung von Texten aus dem aktuellen Programm sowie die Aufnahme von “Move On” aus der Probe mit Publikum im Nadea-Studio. Und naturgemäß unterhalten wir uns auch – etwa über Hintergründe und Herangehensweisen – auf dass ihr einen Vorgeschmack spürt

“Das Geheimnis liegt im Gleichgewicht aus Verborgenem und Dargestelltem.“ Peter Gabriel

 

Hesse Between Music

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. September Hermann Hesse war ein Grenzenüberschreiter. Bald nach dem ersten Weltkrieg begann er, sich für die Einflüsse von Psychoanalyse, Traumdeutung, Lebensreform und fernöstliche Weisheit zu öffnen. Dadurch erschuf er ein in vielen Nuancen schillerndes Werk jenseits der damals anerkannten bürgerlichen Konventionen – jedoch ohne seine bildungsbürgerliche Herkunft, speziell in der Sprache, gewaltsam zu vermeiden. Nach seinem Tod entdeckte die Hippie- und Anti-Vietnamkriegsbewegung in den USA sein literarisches Vermächtnis wieder neu – und in Deutschland brachte die Gruppe Between 1974 das beachtenswert vielschichtige Album “Hesse Between Music” heraus, das wir heute in seiner vinylen Originalversion zu Gehör bringen.

Hesse Between MusicAuch die Musik von Between war zutiefst grenzenüberschreitend in ihrer gesamten Konzeption. Ein Kritiker schrieb damals: “Einflüsse experimenteller, klassischer und mittelalterlicher Musik, verbunden mit außereuropäischen Elementen, vor allem aus Lateinamerika und Asien. Da entsteht wirklich Musik ‚between‘: Und das heißt hier allemal: es wird differenzierter, klischeedurchbrechender Musik gemacht als anderswo in diesem Genre.” Welches Genre? Oh, ihr abendländischen Kritiker, die ihr Schachterln scheißt bis die ganze Welt damit heillos zugemüllt ist! Schranken über Schranken, beschränkt, voll für den Schrank: Das Recht ist stets auf Seiten des Schrankes. Doch folgen wir der vielversprechenden Spur, die uns “Hesse Between Music” ursprünglich aufgezeigt hat, kommen wir mitten hinein in die Geschichten, die sich uns von selbst erzählen, aus denen unsere Geschichte eigentlich besteht. Es ist eine ungeheuerlich vielseitige Zusammenschau von Gedanken, Bildern und Seinszuständen, die uns da kongenial durchwirkt von Klangräumen, Melodien und Stimmungen begegnet – wie ein Theaterstück, welches wir plötzlich selber sind.

Beim ersten aufmerksamen Eintauchen in diese außergewöhnliche Hörwelt war ich einigermaßen überwältigt von der gleichzeitigen Vielheit all der unterschiedlichen Eindrücke, die da auf mich ein – und durch mich hindurch strömten. Unangestrengt wohlgemerkt, heiter gelassen versöhnt mit der eigenen Endlichkeit im Angesicht des Unendlichen, zufrieden schmunzelnd wie nach dem besten Essen aller Zeiten. Da tauchte in mir die Frage auf, wer um Himmels willen diese Dramaturgie erfunden haben könnte, und ich stieß naturgemäß auf einen weiteren Grenzenüberschreiter: Den Radiopionier sowie langjährigen Musikpropheten Joachim Ernst Berendt … 

Hier ist der Miterfinder des SWF, “Jazz-Papst” der Deutschen, Wegbereiter der World-Music und Autor von Nada Brahma – Die Welt ist Klang als verantwortlicher Produzent des Albums an der Schnittstelle von Musiktradition und ihrer friedvollen Überschreitung zu erleben. “Die Welt ist Klang” war für ihn bis zuletzt eine zutiefst politische Aussage, getreu dem Motto seines 1942 als evangelischer Pfarrer im KZ Dachau umgekommen Vaters: “Protestant sein heißt protestieren.”

 

Wir ficken euch, Oida!

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. August “Wissen sie, wie wir reden zuhause? Wissen sie nicht! Weil – mit ihnen reden wir nicht so. Weil sie sind unsere Arbeitgeber. Aber wollen sie wissen, wie wir untereinander reden? Wollen sie den serbischen Originalton einmal wirklich übersetzt hören? Wir ficken euch, Oida! Sehen sie, wie unangenehm ihnen das ist?” Zu diesem sprachlichen Höhepunkt postjugoslawischer Völkerverständigung steigert sich Malarina in ihrem Soloprogramm “Serben sterben langsam” empor, mit dem sie letzten Sommer auch schon in Salzburg zu Gast war. Ficken kann ja – je nach Kontext – vielerlei bedeuten. Und seit der Frage, ob man das auf einer CD überhaupt sagen darf, ist so viel Freiheit den Bach runter geflossen, dass wir endlich einen Sendungstitel damit garnieren können. Freies Radio, Oida!

Wir ficken euch, Oida!Mit ihrer konsequent angewandten Satire trägt Malarina mehr zum Verständnis untereinander bei als irgendein Politkasperltheater, das den Begriff “Integration” vor sich her vergewaltigt. Gerade in Zeiten weltweiter Kulturzerstörung durch die “Diktatur des Konsumismus” (Pasolini) kann das Herumreiten auf überspitzten Klischees dabei helfen, sich selbst und die anderen noch zu erkennen. “Die Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit entstellen.” So wird der Zweck von Satire beschrieben. Und wenn man sich im Erkennen selbst (wieder) spürt, dann ist der Weg zum Einfühlen in andere auch nicht mehr so weit. Wohlgemerkt, hierbei geht es um aus sich selbst heraus entwickelte Gefühle und nicht um antrainierte gefühlsähnliche Reflexe, die durch die jeweils passenden Schlüsselreize abgerufen werden, genauso unwillkürlich wie ein plötzlicher Rülpser. Letztere zu entlarven als hinterfotzige Mechanismen der Massenbeeinflussung, meist durch rechtsextrem konservative Soziopathen und Glaubensgemeinschaften, das gelingt ihr elegant – etwa mit ihrer serbisch-österreichischen Geschichtsstunde”.

Es ist nämlich unendlich kostbar, sich in jemand anderen “einzufühlen”, sich mitsamt seiner eigenen Welt einer anderen Welt anzuverwandeln, ein Geschenk der Liebe zu sein inmitten von feiger Berechnung. Sich über die Fesseln der Konvention zu erheben und der fremdelnden Welt ein Gemeinsames darzuleben, indem man deren Klischees dem erlösenden Lachen anheim stellt. Und um die Völkerverständigung dieser erfrischenden Frau unserem Wesen nach weiter zu betreiben, fügen wir das Antikriegslied eines Kroaten sowie eine Hymne auf die Albanien-Nostalgie hinzu …

Oder wie Sebastian Kurz gesagt hätte: “Ich habe die Balkontüre geschlossen.” Oida!