Es gibt kein richtiges Leben im falschen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. März“Adorno? Auf den berufen sich viele.” So hört es sich oft an, wenn die Geschichte an einem (oder einer anderen) vorbeifliegt und ihre Schwingen einen plötzlich anrühren. Komm, schwarzer Vogel. Oder doch ein Engel erlösender Erkenntnis? Die Sehnsucht nach dem möglichen Glück, dessen Erinnerung unter all dem Gerümpel unserer entgleisten, verbeulten und beschädigten Liebe wahrzunehmen wäre, wenn wir uns nur selbst ins Gesicht schauen könnten, ohne die Angst, am eigenen Spiegelbild zu zerbrechen. Haben wir uns nicht immer wieder einmal zwischen Lebensmut und Todeslust befunden? Was kommt von außen – und was von innen? Und wer zur Hölle spricht da? Wer, wenn nicht ich? Himmelhoch jauchzend – dabei zugleich zum Leben betrübt

Es gibt kein richtiges Leben im falschenEine angejahrte Dokumentation aus der kulturellen Treibgutsammlung unserer Individualitätsinsel sollte dabei helfen, den unüberbrückbar scheinenden Selbstwiderspruch in der radikalen Denkwelt aufzulösen:

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen”

Und es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem Fehlen von Liebe und unserem Wissen um ihr Dasein. Eine Spur, die uns der wirklich kluge Alexander Kluge legt, indem er einfühlsam und verständig Adornos Lebensgeschichte mit der uns alle umgebenden Weltgeschichte (“es ist falsch gelaufen”) verknüpft. Eine Spur, die wir als roten Faden zum Verstehen unserer Gegenwart im Spiegel von Adornos weit über seine Zeit hinaus wirksamem Denken aufnehmen – und darstellen wollen. Und wenn es ein glückhaftes Zusammentreffen mehrerer quasi als Flaschenpost überlieferter Wahrheiten gibt – was ist eigentlich die Mehrzahl von Flaschenpost?

Ich bin oft ziemlich zerrissen zwischen meiner Vorstellung vom “richtigen Leben” und dem, womit mich die Realitäter*innen in meiner Erfahrung konfrontieren. Ein Zustand, der mich immer wieder krank und unglücklich macht. Nichtsdestoweniger suche ich unentwegt (oder “sucht es in mir”?) nach einer sinnvollen Verbindung mit dem, was da gewesen sein muss, bevor “es falsch gelaufen ist”. Dabei geriet mir unlängst wieder “Das Buch von der Liebe” von Ernesto Cardenal in die Hände und ich las das Vorwort von Thomas Merton. Könnte das vielleicht eine Erklärung sein?

Eine heiße Spur?

 

Behindert sein und werden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. FebruarPepo Meia war Musiker, Rollstuhlfahrer und Aktivist. Am 3. Januar dieses Jahres ist er, wie man so sagt, “von uns gegangen”. Der Kampf geht aber weiter. Und das verbindet uns mit ihm. Denn das Ringen um einen “Dialog auf Augenhöhe”, also um Anerkennung als gleichberechtigte, gleichwertige und gleichgestellte Gesprächspartner, ist nach wie vor im Wortsinn not-wendig. Auch jenseits von körperlichen Einschränkungen und Baumaßnahmen zur Barrierefreiheit werden Menschen aus unterschiedlichen Gründen in ihrer Lebensführung und Gestaltung behindert. Wir nehmen das heutige “In memoriam” zum Anlass, über die Bedeutung von “Inklusion” nachzudenken, indem wir von Pepo Meias Statement ausgehen und es dann weiter entwickeln

Behindert sein und werdenZuerst allerdings wollen wir diesen Nachruf aber in Würdigung seines Wirkens im Freien Radio sowie seiner tiefen Verwurzelung in der Wiener Musikszene begehen: Mit einem Beitrag über den “Hansi-Lang-Hof” in Wien Döbling. Und mit dem thematisch kongenialen Stimmgewitter-Augustin-Rework von Hansi Langs “Keine Angst – Angst”. Danach kommt Pepo Meia selbst zu Wort und Gesang und wir verlesen das Schlussmanifest seiner Bestandsaufnahme zur Lage der Nation (zur Situation behindert werdender Menschen/Gruppen im Kontext der Geschichte Österreichs) “Kopf oder Geier” (entstanden zur Jahrtausendwende und, wie zutreffend angemerkt wird, “zeitlos”, leider, denn wo stehen wir da heute?) “Der Kampf muss immer noch gefochten werden…” (der deutsche Pop-Musiker Joris stellt das im Hinblick auf die Diskriminierung Anderssexueller fest) und so ist es auch.

Es gibt viele verschiedene “Behinderungen”, die wir nicht als aus der Gemeinschaft ausschließende oder an ihren Rand abschiebende, pathologisierende Diagnosen auffassen wollen, sondern als unterschiedliche Eigenschaften, die einer speziellen Aufmerksamkeit bei der Übersetzung, Verständigung und Zugangsermöglichung bedürfen. Genau diese Eigenschaften beinhalten aber auch spezielle Begabungen und würden, wenn sie nicht behindert werden, unsere Gemeinschaft bereichern.

And all you want is peace – but all you get is pills

Bis ans Ende der Welt

 

Wir Spätmodernen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Januar – Es war einmal ein Büchermensch, der in ein Gefängnis gesperrt worden war, mitten zwischen all die Berufsverbrecher mit ihren unterschiedlichen Gewaltausbildungen. Eines Tages fragte ihn der Anführer einer Einbrecherbande: “Was sollen wir mit dir anfangen, du blasses Bürscherl?” Worauf er antwortete: “Vielleicht bringt euch das eine oder andere, von dem ich euch erzähle, auf neue Gedanken. Vielleicht sogar dort, wo ihr bisher noch nicht hingedacht habt. Wenn nicht, ist es einfach Unterhaltung.” Und mit der Zeit wurde er, ob er wollte oder nicht, zu einem angesehenen Mitglied der Häfenbruderschaft. Was können wir daraus lernen? Die Moral von der Geschicht – ist die Geschicht. (Axel Corti). Und alles ist relativ – auch das mit der Freiheit und der Unterhaltungsindustrie. (frei nach Albert Einstein).

Wir SpätmodernenWir stehen doch alle im Fluss des Lebens und suchen nach dem einen oder anderen Körnchen WahrheitWillkommen in der Metapher – das für uns von besonderem Wert sein könnte. Nach einem neuen Impuls, der uns über den Stillstand hinaus befördert und uns glücklich macht. Nach dem nächsten Thema oder einfach einer winzigkleinen Idee, damit wir unserem Leben jenseits des “da kommt eh nichts mehr” wieder einen Sinn geben können. Und wenn nicht, dann befinden wir uns im Suchen selbst schon mitten “im Flow” und von Natur aus im Glückszustand zwischen Überforderung und Langeweile. Ein vielfach Hoch auf die daran (auch ganz ohne äußere Drogen) beteiligte Hirnchemie. Wir sind allesamt Kinder, die allein schon in der Tätigkeit des Goldwaschens oder Perlentauchens oder eben Sinnsuchens aufgehen. Betrachten wir also, was meist unbeobachtet vor sich geht – und zeigen wir einander, was wir dabei alles entdecken können.

In unserem Fall sind das Bücher, Gedanken und Themen, die wir in uns aufnehmen und die wir durch uns weiter entwickeln. Gedichte und Geschichten, die etwas in uns zum Klingen bringen und die sich dadurch auch in etwas Eigenes verwandeln, das wir wiederum weitergeben können. Und Musikstücke, die in ihrer Stimmung dazu beitragen, die vielen einzelnen Gedankenfäden zu einem größeren Erzählteppich zu verweben und Gefühlszustände, Erinnerungsfragmente sowie innere Bilderfluten mit dem Außenwelttheater in Zusammenhang zu bringen. Was hast du so gemacht?

Ach ja – Jeff Beck ist jetzt auch gestorbenDoch Venus in Furs wird uns bleiben.

 

Lou Reed – New York Songs

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Januar“Well I know one thing that really is true: This here’s a zoo and the keeper ain’t you – and I’m sick of it. I’m sick of you!” Lou Reed war immer schon beides zugleich: Beißend und liebevoll. Auch in seinem wohl gesellschaftskritischsten Album “New York” aus dem Jahr 1989, welches wir hier fast zur Gänze vorstellen. Liebe Österreicherl und -innerln, der sagenumrankte Gründer der Velvet Underground, langjährige Freund von Andy Warhol und schlussendliche Ehemann von Laurie Anderson serviert der Welt und uns darauf ein Lied über den verlogenen Schönsprech von politischem Personal, der als freundliche Fassade dessen innere Bosheit überdeckt: “Good Evening Mr. Waldheim”. Oder haben wir längst vergesserln, dass “damals” nur sein Pferderl bei der SA gewesen sein soll?

Lou Reed & John CaleIllustrieren wollen wir die heutige Songsammlung allerdings mit dem Cover der kurz darauf – anlässlich von Warhols Tod – entstandenen “Songs For Drella”. Und um der sensiblen Seite des Rockpoeten gerecht zu werden, haben wir auch den Titel “Hello it’s Me” in unsere Playlist eingearbeitet. Wie heißt es im Rolling Stone: “Reed verfolgte fortan das Ziel, die Empfindsamkeit des Romans in die Rockmusik zu übersetzen.” Dem haben wir nicht viel hinzuzufügen. Außer vielleicht, dass wir davon überzeugt sind, es tut einer in alle Richtungen auseinander fallenden Welt gut, wenn Menschen in ihr leben, die vermeintliche Gegensätze miteinander in Verbindung bringen können. Oder die sich zumindest daran abarbeiten, dieses wieder und wieder zu versuchen. Und so stellen wir diese knappe Stunde, in der lyrischer Text und expressive Musik verschmelzen, genau zwischen eine Spontanerzählung und eine Klangweltreise – um wieder einmal einen Zusammenhang zu stiften inmitten einer Radiofabrik, von der man oft sagt, zwischen ihren Sendungen gäbe es “die härtesten Übergänge”.

Heute, bald 10 Jahre nach seinem Tod (an den Folgen einer Lebertransplantation) befindet sich Lou Reed fraglos unter den ganz großen Poeten und Propheten der Musikwelt, wie zum Beispiel Leonard Cohen, Patti Smith oder Bob Dylan, eine gar beachtliche Ahnenreihe unserer Generation, die allesamt jenseits ihrer jeweiligen Einordnung in irgend einen Verwertungszweck zeitlose Schönheit und Wahrheit erschufen, an denen sich jede wie auch immer geartete Weltwidmung bis in alle Zukunft die Zähne ausbeißen wird. So ist das nämlich, nicht nur mit der Poesie!

I’m sick of you.

 

Ein unkastrierter Kater

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. JanuarMichael Köhlmeier hat es also wieder getan: Er hat ein Buch geschrieben. Einen weit ausladenden Roman. Noch dazu aus der Perspektive eines Katers, der in seinem siebten Leben seine sechs vorangegangenen erzählt, also quasi seine Memoiren schreibt, die wir auf knapp 1000 Seiten lesen oder (fast noch besser) als gut 40-stündiges Hörbuch von ihm selbst vorlesen lassen können. Der Kater heißt Matougenauer Monsieur Matou – und das bedeutet, dass er ein unkastrierter Kater ist, worauf er großen Wert legt, wie wir in seinem Bericht, unter vielem anderen, erfahren. Denn die sieben Leben dieses sprechen und schreiben könnenden Katers fangen bei der französischen Revolution an – und reichen bis zur studentischen Gegenwart in Wien und Berlin.

Katzen und ein unkastrierter KaterInklusive seiner jeweils dazwischen liegenden Aufenthalte “im Weggemachten”, einer von uns Menschen eher unbeholfen als “Jenseits” beschriebene Dimension. Eine Zwischenwelt des Übergangs von einem vergangenen in ein neues Leben, das sich die darin befindlichen Katzen selbst aus einem “Katalog” auswählen können. Hier berührt uns der in dieses Buch verdichtete Schatz aus all den verschiedenen Lebensthemen und Arbeiten seines Autors – und den wollen wir in dieser Sendung endlich zu Gespür bringen. Denn nichts ist sinnloser und missverständlicher als die unbeholfenen Versuche, diesen vielschichtigen Roman, der viel mehr als nur die Summe seiner Teile ist, auf irgendeine pseudosachbezogene Weise vorstellen, verkaufen, kritisieren oder interpretieren zu wollen. Diesem vielfach vollzogenen Schuss ins eigene Knie (gern auch in den Ofen, lieber Matou, der du dich sieben Leben lang an der Verwendung von Metaphern durch uns Menschen abarbeitest) liegt ein weltumspannender Irrtum zugrunde – nämlich das Nichtverstehen und somit das Nichtunterscheidenkönnen von rechtshemisphärisch und linkshemisphärisch geprägten Denkprozessen. In linkshemisphärisch geprägten Kategorien ist Köhlmeiers Welt nicht zu begreifen.

Was in vielen Rezensionen als ermüdender Mangel an Ordnung und Struktur beklagt wird (etwa das sprunghafte Erzählen des Katers Matou quer durch philosophische Gedanken, spontane Einfälle, Erinnerungen sowie geruchs-, geräusch-, gefühls- und vorstellungsbedingte Assoziationen, in Vor- und Rückblenden und sich zeitlos dehnenden Augenblicken undsoweiter), das ist die rechtshemisphärisch gestaltete Vielwelt aus Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit, mit der das vielleicht gar nicht so geheime Leben der Phantasie im Erzählen wie im Zuhören Wirklichkeit wird

Michael Köhlmeier – Take a walk on the wild side

 

Rainald Grebe – 1968

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. DezemberRainald Grebe, den wir als Inbegriff des Herumhupfens kennen und schätzen gelernt haben, ist ernsthaft krank. Er leidet an einer unheilbaren Autoimmunkrankheit namens Vaskulitis und hat seit 2017 bereits sechs Schlaganfälle überlebt. Eigentlich könnte er jederzeit direkt von der Bühne in ein Pflegeheim geratenaber er macht weiterhin seine Kunst, wenn auch in entsprechend veränderter Form. So hat er uns etwa unlängst einen “Abend Popmusik” (Konzertfilm) beschert, der im Zusammenspiel mit der Band “Fortuna Ehrenfeld” entstanden ist. In dieser knapp 2-stündigen Tour de Force durch zahllose Stilzitate tauchen (dank Jenny Thiele am Keyboard) auch entlegenere Kostbarkeiten auf – wie zum Beispiel ätherisch-erzählschwebige Laurie-Anderson-Stimmungen.

Rainald Grebe - 1968Wir wollen heute allerdings ein etwas älteres Konzeptalbum von Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung zelebrieren, und zwar das 2008 “zum 40. Geburtstag” des sprichwörtlich gewordenen Jahres erschienene “1968”. Die darin enthaltene “Zeitmaschine” hat es zusammen mit dem von uns immer wieder gefeierten “Guido Knopp” sogar bis in elaborierte germanistisch-kulturhistorische Fachzeitschriften geschafft. Den diesbezüglichen Artikel “Poetik der Einebnung: Zur Amalgamierung von Raum und Zeit in den Liedern Rainald Grebes.” von Gerrit Lembke kann man sich hier im Doc-Player ab Seite 35 zu Gemüte führen. Doch auch abseits der intellektuell beflissenen Detailwürdigung gelingt diesem Album eine ebenso gefühlvolle wie lehrreiche Zeitreise durch die nachkriegsdeutsche Revolution – die eigentlich nie stattfand, dafür dann halt anders und auch wieder nicht wirklich. Wollt ihr die totale Marktwirtschaft? Oder Follow the white rabbit!” Ja, Kinder: When I was young.

Über die ungemein vielfältige und inzwischen fragil gewordene Künstlerwelt des Rainald Grebe hat Peter Blau heuer in der Ö1-Sendereihe Gedanken ein famoses Portrait gestaltet, das es hier nachzuhören gibt und das wir ausdrücklich empfehlen. Wir reisen aber lieber noch einmal zurück in jene Versöhnungs-Stilepoche, in der wir dem Autor von “Rheinland Grapefruit. Mein Leben” erstmals begegnet sind und durch die wir ihn als echten In-betweener zwischen den Genres und Generationen ins Herz geschlossen haben. Und vielleicht ganz einfach – weil es so schön rockt!

Ich habe noch Briefe mit dem Füller geschrieben
und mit Münzen telefoniert.
Hat es mir geschadet?
Hat es mit geschadet?
When I was young.
When I was young.

 

Menschliche Geschichten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. November“Geldsäckulum, gstinkerts!” Dieses Wort von Uwe Dick eignet sich trefflich als Motto für ein weiteres Jahrhundert des “Ökonomischen Diktats”. Oder für eine Fußballweltmeisterschaft, die unter den widerlichsten Machtzwängen absolutistischer Geldherrschaft zustande gekommen wurde. “Massenblödien, Quasselödien, Kassenschmähdien!”, ruft Uwe Dick in den aktualitätsfixierten Mediendschungel. Der letzte deutsche Fußballtrainer, der sich noch traut, in Interviews plötzlich menschliche Geschichten anzusprechen, meint dazu: “Wenn du auf die Welt schaust, was für Wahnsinnige da überall an der Regierung sind, und wie sie sich die Taschen voll machen – das ist halt teilweise im Fußball auch so. Das ist unser großes Problem, das wir gesellschaftlich haben.” Christian Streich

Menschliche GeschichtenReisen wir in die Vergangenheit (die Fotos vom “Weltmeisterzug” hat die Grupa Szukająca Włazu bereitgestellt) und schauen wir uns im Jahr 1954 um, als die deutschen Nationalspieler für die Dauer ihrer WM-Teilnahme Verdienstentgang bezahlt bekamen und sonst nichts. Sönke Wortmann hat 2003 einen Spielfilm über das “Wunder von Bern” gedreht, der zunächst wie ein flachlustig rührseliges Heldenepos daher kommt, auf den zweiten Blick (oder für das entsprechende Feingefühl) aber auch eine ganz andere Geschichte erzählt. Der eigentliche Held ist nämlich der 11-jährige Matthias, der stellvertretend für uns alle die Folgeschäden und Traumatisierungen in Nachkriegsdeutschland erleidet. Doch Sönke Wortmann gelingt es, sämtliche Gefahren und Bedrohlichkeiten durch “wundersame Wendungen” dahingehend umzudichten, dass er eigentlich jenes Wunder erzählt, wie eine “Heilung der Vergangenheit” tatsächlich stattfinden kann.

Brita Steinwendtner wählt wiederum einen anderen Weg, um die Geschichten, die uns Dichter*innen erzählen, mit deren Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen und sie dergestalt zu “verlebendigen”, also auch für uns Nachgeborene erlebbar – und somit wirksam zu machen. Im neuen Band “An den Gestaden des Wortes” aus ihrer Reihe “Dichterlandschaften” reist sie nicht nur durch die Zeit, sondern auch zu den Orten, wo sich deren Wirklichkeit, Imagination und Inspiration mit einander verbunden haben – und sie lädt uns ein, mit ihr auf eine magische Reise zu gehen.

Geschichte mit Gefühl nachvollziehbar zu machen, das verwandelt Geschichte in zutiefst menschliche Geschichten.

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”

 

Weltzeit zum Totschlagen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. OktoberHerzlich wir kommen zur akuten Zeitverwandlung. Aus fünf mach vier. Schwuppdiwupp. Und Puff. Die synchronisierte Weltzeit ist hierzulande wieder einmal in den Winterbetrieb gehopst. Und auch wenn die allermeisten Uhren sich wie von Zauberhand selbst umgestellt haben, so kollidiert “die offizielle Zeit” doch merkbar mit manch anderer Zeitebene, die sich naturgemäß jeder amtlichen Vorschreibung entzieht. Seit der Erfindung des Eisenbahnfahrplans müht Mensch sich herum, seine “innere Uhr” mit allerlei äußeren Abläufen in Einklang zu bringen. Und dabei quietscht, scheppert und knirscht es im biologischen System, dass einem ganz unheimlich zumute wird. Mensch ärgert sich und will sich dagegen wehren – und bleibt doch meist mit seinem Jetlag wie betäubt in der Schulbank sitzen.

Tocotronic - Weltzeit rot weiß rotUnd so gestalten wir diesmal ein Stimmungsbild zwischen die Zeiten, wobei uns vieles zum Totscheißen ärgerlich erscheint, wir uns aber oft gar nicht fragen trauen, weil man das nicht darf. Nichtsdestotrotz entkommen wir der Weltzeit samt ihren Grausligkeiten auch wieder, indem wir uns anderen Zeitebenen öffnen, etwa mit diesen Herren vor diesem (un)zufällig rotweißroten Hintervordergrund. Alles Liebe zum Tag der österreichischen Unschuld! Wer nicht gelegentlich aus der aufgepfropften Chronologie der Weltzeit aussteigt und andere, eigene Zeiten für sich entdeckt, bleibt der verursachten Weltgeschichte ausgeliefert, und das ist ganz schön trostlos – und gefährlich. Die Geschichte von Predrag Pašić sei hierfür als Beispiel erzählt: Der ehemalige jugoslawische Nationalspieler betrieb während des blutigen Bürgerkriegs in Sarajevo eine Fußballschule für Kinder, die ausdrücklich alle Volksgruppen (Serben, Kroaten und bosnische Muslime) ansprach und den Kids ein tägliches Entkommen aus dem Krieg und in den Flow ermöglichte.

Auch wenn der Zeitgeist des globalen Konsumismus (danke, Edward Bernays, du USArschloch) es immer schwieriger macht, unsere verschiedenen Innenweltzeiten mit den ständig mehr werdenden Außenweltnotwendigkeiten und Terminen in Einklang zu bringen, so geben wir dennoch unsere Versuche nicht auf, mit allen Gefühlen und Bedürfnissen und Kindern und Tieren ….. in unserer gemeinsamen Welt zu leben. Auch an jedem verdammten Sonntag um 17:06 Uhr – denn siehe: Der Anfang ist nah!

So fest steht viel.

 

Aphrodite’s Child – 666 (Album)

> Sendung(en) allhier nachzuhören: Aphrodite’s Child 666 (das ganze Album) sowie Aphrodite’s Child & Peter Gabriel (von der Apokalypse hin zur Passion)

Artarium vom Sonntag, 16. Oktober (von 16:00 bis 18:00 Uhr): Wer kann die Zahl des Tieres verstehen? In der Apokalypse/Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, wird sie als 666 (sechshundertsechsundsechzig) bezeichnet. Und die möglichen Deutungen sind – Rabimmel Rabammel – zum schwindligwerden zahllos und seltsam. Die griechische Rockband Aphrodite’s Child hat das biblische Buch als Ausgangspunkt für ihr legendäres Album 666 ausgewählt – und daraus vor über 50 Jahren (Juhubiläum!) ein psychoakustisches Kopftheater erzeugt, dass es einem noch heute sämtliche Bedeutungsebenen durcheinander schiebt. Nun bringen wir das zeitlose Meisterwerk, das wir unlängst in Ausschnitten betrachtet haben, auf vielfachen Wunsch in seiner ganzen Gesamtheit zu Gehör. Daher die Doppelstunde.

Aphrodite's Child 666 Album CoverAnschließend an das überlange Konzeptdoppelalbum mit seinen ca. 79 Minuten Laufzeit werden wir auch wieder auf die Verfilmung von “Die letzte Versuchung” mit dem genialen Soundtrack “Passion” von Peter Gabriel zu sprechen kommen, allerdings diesmal mit ausführlichen Klangbeispielen, ganz im Sinn der Beobachtung “Wenn Griechen sich an biblischen Themen abarbeiten…” sowie der daraus erwachsenden Möglichkeiten zum Selberdenken. Nikos Katzanzakis beschrieb sein Romanprojekt als “den mühevollen Versuch, Christus leibhaftig darzustellen, ohne die Verdunklungen, Verfälschungen und Unwichtigkeiten, mit denen er von den Kirchen und Kuttenträgern ….. entstellt wurde”. Das hat ihm noch posthum die Verweigerung seines Friedhofsbegräbnisses durch die griechisch-orthodoxe Kirche eingebracht, und die römisch-katholische setzte sein Buch 1954 auf den dazumals noch bestehenden Index der verbotenen Bücher. Jössas! Unser Prädikat: Unbedingt lesenswert. Und vor allem anregend – zur längst überfälligen Entzauberung des Kindes, das man nicht mit dem Bad ausschütten muss.

Peter Gabriel Passion Album“Das bunte Kind, es grinst aus deinem Inneren, ist immer noch zu jedem Mist bereit …” So heißt es in “Die Phantasie wird siegen” von Max Prosa. Die wilde Schaffenslust der vor der damaligen griechischen Militärdiktatur reißaus nehmenden Künstler_innen, die hinter der Entstehung des Kultalbums 666 stecken, ist hier beispielgebend dokumentiert. Erstaunlich dabei ist vor allem, dass Textdichter und Konzeptentwickler Costas Ferris schon damals eine Projektidee mit dem Titel “Passion” in Arbeit hatte, die dann wegen des Erscheinens von “Jesus Christ Superstar” zurückgestellt wurde. “Da hat wider einer seinen Katzanzakis gelesen”, denk ich mir, und: “So treffen sich die roten Fäden all der schöpferischen Ideen – naturgemäß.” Wie dem auch sei, auch wir glauben an den Zusammenhang hinter dem Anscheinenden und empfehlen dazu Übungen in Phantasie. Sagen wirs einmal ohne Krieg, jenseits von Gut und Böse: Die Phantasie wird siegen – und die Realität wird vergehen – ganz einfach so …