LOU REED, Berlin – OCBs Radiofabrik-Album-der-Woche

Lou Reed, Berlin (VÖ: UKAdW_LR_Berlin_Cover Juli 1973, US September 1973, RCA)

Endlich lief es gut für Lou Reeds Solokarriere. Nach dem Flop seines Solodebüts hatte sich das ehemalige Mastermind der Velvet Underground auf die helfenden Hände von Mick Ronson und David Bowie bei der Produktion seines Zweitlings Transformer verlassen und mit Walk on the Wild Side prompt den ersten (und einzigen) Hitparadenerfolg gelandet. Auf der Modewelle des Glam-Rock reitend, verpasste er sich zudem ein aufreizendes Image und bespielte zahllose Bühnen auf beiden Seiten des Atlantiks. Und so war Lou Reed im Frühjahr 1973 so populär geworden, dass ihn die Leser des NME im Popularitätsranking sogar vor Mick Jagger und David Bowie stellten.

AdW_LR_Berlin_Inlay1 Doch hinter dieser Fassade waren schon wieder dunkle Wolken aufgezogen. Die ausführliche Tournee zehrte an Lou Reeds Nerven und seine Live-Band The Tots erwies sich oftmals als hölzern und in ihren musikalischen Möglichkeiten begrenzt. Zudem wurmte ihn die Tatsache, dass er in fast jedem Interview zu Transformer mehr über David Bowies Rolle dabei erzählen musste, als über seine eigene. Um diesem Ungemach zu entfliehen verfiel Reed zunehmend in die (Selbst-) Zerstörung durch steigenden Alkohol- und Heroinkonsum und ließ in Folge Wut und Zynismus freien Lauf. Musikjournalisten mieden den unberechenbaren Rocker zunehmend.

Und so wurde seine Ehefrau Bettye zum ersten Opfer ihres groben Gatten. Erst seit Jänner 1973 verheiratet ließ Lou keine Gelegenheit aus seine (vermeintliche) geistige Überlegenheit Bettye gegenüber auszuspielen und sie, während sie sich ihm in Ergebenheit und Ehrfurcht immer weiter unterordnete, auch öffentlich zu demütigen und sogar zu misshandeln. Dazu kamen noch das aufreibende Leben auf Tournee und die Begleiterscheinungen von Lous weiterhin steigender Popularität. Im Sommer 1973 hatte Bettye bereits einen Selbstmordversuch hinter sich, dessen Scheitern sie zusätzlichem Spott aussetzte. Lou hingegen hatte den Stoff für sein nächstes Album beisammen.

AdW_LR_Berlin_Inlay2Während die Popwelt hoffnungsfroh auf ein zweites Transformer wartete und RCA darauf vertraute die Label-Kollegen Bowie und Reed würden ihre Zusammenarbeit gewinnbringend fortsetzen, holte Lou überraschend Bob Ezrin, der sich als Partner von Schock-Glam-Rocker Alice Cooper einen Namen gemacht hatte, an Board. Mit dem höchsten Budget, das für ein Lou Reed/Velvet Underground Album jemals zur Verfügung stand, ausgestattet, rief er mit Ezrin eine Band zusammen, die einem Who-is-Who der Musikgeschichte gleicht: Neben den kongenialen Gitarristen Steve Hunter und Dick Wagner fanden sich Jack Bruce (b), Steve Winwood (org), Aynsley Dunbar (dr), Randy und Michael Brecker (sax, tr) und Tony Levin (b) im Studio ein.

Auf dem Plan stand, die düsterste und deprimierende Geschichte eines sich auseinander lebendenden Paares musikalisch umzusetzen, deren Zweisamkeit in Zynismus, Untreue, Gewalt, Drogensucht, Prostitution und Selbstmord endet. Ohne bis dahin jemals dort gewesen zu sein, wählte Reed die geteilte Stadt Berlin als symbolträchtiges Setting für seinen musikalischen film noir. Die Songlist bestand – wie oft auf den 70er-Alben Reeds – zur Hälfte aus bis dahin unveröffentlichten, „übrig gebliebenen“ VU-Songs und neuem Material.

AdW_LR_Berlin_Inlay3 Nach einem feuchtfröhlich gegrölten Happy Birthday bringt der Titelsong/Opener Berlin bereits ein Eigenzitat aus seinem Debütalbum, durch seine Reduktion auf zwei Strophen – die B-Teile/Bridges werden ausgelassen – und Bar-Piano in dunkelgraue Farbe getaucht, lassen die Schlußzeilen „… it was very nice, oh honey, it was paradise“ jedoch nur wenig Gutes erahnen. Die folgenden Lady Day und Men of Good Fortune, das erste eine funkige, zartbittere Hommage an Billie Holiday, das zweite ein ironischer Blick auf die unterschiedlichen Lebenschancen von Arm und Reich, ordnen sich zwar nur schwer in die Geschichte des Albums ein, dienen dafür umso passender als Stimmungsbilder.

AdW_LR_Berlin_Inlay4Nach dem ersten Einblick in die apathische Haltung des Erzählers „But me, I just don’t care at all“ lernt der Hörer mit Caroline Says I die weibliche Hauptperson der Handlung kennen. Nach Candy, Lisa und Stephanie reiht sich Caroline in die Liste des „she says“-Formats in Reeds Songwriting ein und erscheint wie ein Spiegelbild von Reed selbst: Sie ist hartherzig, fordernd und sarkastisch („she wants a man, not just a boy“). Hinter der Bezeichnung „she’s still a German(ic) queen“ wollen Reed-Kenner zudem gerne einen Hinweis auf Reeds Affäre mit Nico sehen, andere wiederum vermuten hinter dem Begriff queen eher Reeds – durch sein neues Image bewusst provoziert – unklare sexuelle Ausrichtung oder vielmehr noch ein Bekenntnis zu bi- oder homosexueller Liebe. Dem druckvollen Beat und üppig arrangierten Rock erwächst dabei ein beinahe bedrohliche Kraft, die sich im ausklingenden Gitarrenduell von How Do You Think It Feels? wiederfindet. How Do You Think It Feels? erkundet die Gefühlslage des Erzählers: Zwischen Alkohol, Schlaflosigkeit, drogenbedingter Isolation und sexueller Gier bewegt er sich auf den Abgrund zu. Untreue, Verlogenheit, Gewalt und (Selbst-)Hass, wie sie Oh Jim zeichnet, verdeutlichen eine Borderline-Situation, die in den Augen vieler Kritiker und Fans ein Spiegelbild von Reeds Gefühlswelt zu diesem Zeitpunkt darstellt.

AdW_LR_Berlin_Inlay5Mit dem Ende der ersten Schallplattenseite/des ersten Teils hat Berlin ein Stimmungsbild erschaffen, das erschütternder kaum sein könnte, und im Gegensatz zu seinem schwul-fröhlichen Vorgänger Transformer kein Lächeln zulässt. Mit der Verdichtung der Handlung auf Seite 2/im zweiten Teil erreicht das Album jedoch eine Intensität und Graustufe, die vielen Hörern und Kritikern zu intensiv wurde.

Caroline Says II – ein gebremstes Remake von Stephanie Says aus VU-Zeiten – zeigt uns die zuvor noch hochmütige Protagonistin am Boden, von Drogen gezeichnet, geschlagen und gebrochen. „Why is it that you beat me?“ fragt sie und wird mit Sarkasmus („all of her friends call her Alaska“) belohnt. Wie sehr dieser Song der Realität des Ehepaars Reed sich nähert, lässt sich erahnen, wenn man einen Interviewbeitrag Lou Reeds aus diesem Jahr kennt: „Ich brauche ein weibliches Arschloch in meiner Nähe, um mich daran zu ergötzen; ich brauche einen ergebenen Arschkriecher, den ich herumstoßen kann.“ „It’s so cold in Alaska„.

AdW_LR_Berlin_Inlay6Als vermeintliche Rechtfertigung und Strafe für Carolines Prostitution –„they say she was making it with sisters and brothers“, ihren Drogenmissbaruch („and all of the drugs she took everyone„) und mangelhaftes mütterliches Verhalten („she was not a good mother„) verliert sie ihre Kinder. The Kids – drei Akkorde in unbeschwerten 3/4–Takt gehüllt – stellt dabei eines der ambivalentesten Stücke der Popmusik dar: Dem betont unterkühlt vorgetragenen Text stellt die Mannschaft um Produzent Bob Ezrin eine bitter-süße Atmosphäre entgegen, die in unvergleichlich eindrucksvoller Weise musikalisches Handwerk, Reduktion und Leichtigkeit vereinen. Nicht zu Unrecht gilt Berlin für viele Musikliebhaber und -kritiker in dieser Hinsicht als Reeds frühes und bis heute unerreichtes Meisterstück.

AdW_LR_Berlin_Inlay7 Für den Höhepunkt von The Kids soll – der Legende nach – Bob Ezrin seinen Kindern weiß gemacht haben, ihre Mutter würde nicht mehr zurückkommen. Das dadurch provozierte, auf Band festgehaltene Heulen, Winseln und „Mummy“-Rufen der Kinder am Ende von The Kids ging und geht heute noch nicht nur Eltern durch Mark und Bein. Vielen Hörern wurde und wird es hier zu viel. Der abermals betont unterkühlte Nachsatz des Erzählers „and I am much happier this way“ spiegelt sich im folgenden „Funny thing, I’m not at all sad that it stopped this way“ (The Bed) wider, mit dem Carolines Selbstmord kommentiert wird. Doch in Anbetracht des Betts, wo sie einst ihre Kinder empfing und sich dann die Pulsadern aufschnitt, der kleinen und großen Erinnerungsstücke in dem Haus, das sie sich so mühsam erarbeitet hatten, klingen die Worte nun gebrochen und traurig, der Verlust nagt. Engelschöre markieren Carolines Entschweben aus dem Irdischen. Am Boden geblieben resümiert der Erzähler, wie alles so schön begonnen hatte („she looked like Mary Queen of Scotts“) und doch so daneben lief („just goes to show how wrong you can be“). Sad Song beschließt das emotional aufwühlendste Rock-Album bis dato. Dabei verschafft das große Finale mit deftigen Streichern und einem butterweichen Bläsersatz zum Ausklang dem Zuhörer Erlösung und Erleichterung und setzt der herausragenden Arbeit des Produzenten Bob Ezrins ein Denkmal.

AdW_LR_Berlin_Inlay8Dafür hatte Ezrin allerdings auch seine Gesundheit aufs Spiel gesetzt. Im Versuch Lou Reeds Launen, seine Wankelmütigkeit und den Umstand, dass der Rockstar oftmals zu betrunken war um seine (Sprech-) Gesangsparts einzubringen, zu verdauen, griff auch Ezrin häufig zu Heroin. Als RCA kurz vor Ende der Aufnahmen verlauten ließ, sie würden lieber kein Doppelalbum veröffentlichen und Ezrin das fertige Werk um 14 Minuten kürzen musste – die verlorenen Minuten sind entgegen den üblichen Gepflogenheiten seitdem weder auf Bootlegs noch auf Re-releases wieder aufgetaucht – half dem Produzenten nur noch eine mehrmonatige Entziehungskur, um sein Leben wieder unter Kontrolle zu bringen.

Lou Reed hingegen kehrte schon bald wieder auf die Bühne zurück. Während die Musikpresse über Berlin fiel und mit deftigsten Abkanzelungen abtat, zeigten Fans und Musikfreunde nur Unverständnis und Ablehnung für Lous „Anti-Transformer„. Das wiederum nährte Reeds Destruktivität und Hass. Er radikalisierte sein Auftreten weiter, stellte eine nun deutlich kräftiger rockende Band (mit den Berlin-Musikern Hunter und Wagner) zusammen und gab fortan das Rock’n’Roll Animal, wovon das so betitelte Live-Album zeugen sollte. Wenige Monate später löste er auch den zweiten Teil seines Versprechens gegenüber RCA ein, das er abgegeben hatte, um das Label überhaupt erst zur Veröffentlichung von Berlin überreden zu können, und lieferte mit dem Album und der gleichnamigen Single Sally Can’t Dance einen Verkaufsrenner ab, der allerdings den Vergleich mit Berlin in keiner Weise standhält.

AdW_LR_Berlin_Inlay9Die erhoffte Anerkennung wurde Berlin erst im Lauf der frühen 80er-Jahre zuteil, indem Kritiker begannen ihre vernichtenden Erstmeinungen zu revidieren und dem mittlerweile immer mehr im Mittelmaß versinkenden Reed Anerkennung zollten. 2006 brachte Reed mit Steve Hunter in der Band Berlin etwas überraschend zum ersten Mal zur Gänze auf die Bühne und gab sich redlich Mühe seinen über die Jahre immer schlampiger gewordenen Sprechgesang am Original zu orientieren. Der von Julian Schnabel dabei entstandene Konzertfilm ist allerdings entbehrlich.

„Hörenswert – das Radiofabrik-Album der Woche“ präsentiert anlässlich seines 40. Geburtstags Lou Reeds Berlin und bringt als Bonus-Tracks zwei Aufnahmen, die in Paris während der Live-Tournée 1973/74 entstanden sind. Oliver Baumann wünscht gute Unterhaltung mit einem Albumklassiker aus dem Jahre 1973.

Playlist (des Albums)
Berlin
Lady Day
Men Of Good Fortune
Caroline Says I
How Do You Think It Feels
Oh Jim
Caroline Says II
The Kids
The Bed
Sad Song

Bonustracks (der Sendung)
Lady Day
Oh Jim (beide live in Paris, Mai 1974)

Und wer jetzt das Radiofabrik-Album-der-Woche hören will, der ist hier richtig. PW: OCP

OCBoddity 250 (12.08.2013) – The Final Show

OCBoddity_end11 Songs to Say Goodbye“ hieß das Motto der 250. und gleichzeitig letzten Ausgabe von OCBoddity. Dabei gönnte sich Oliver Baumann einen entspannten und (kaum) wehmütigen Blick zurück auf 9 1/2 Jahre auf Rock, Pop and Indie at its Best. Rund 3000 (brandneue) Songs von ca. 1200 internationalen Bands und Musikschaffenden prägten den Weg, den OCBoddity auf der Radiofabrik ging.
Begleitet von einer Handvoll OCB-Favoriten ging dieser Weg am 12. August zu Ende. Schön war’s!

PLAYLIST
Editors, An End Has A Start
Grandaddy, I’m On Standby
Placebo, Song To Say Goodbye
The Coral, Goodbye
Ron Sexsmith, Sneak Out The Backdoor
Joseph Arthur, Say Goodbye
Talk Talk, The Party’s Over
The Rolling Stones, Going Home
Elton John, Goodbye Yellow Brick Road
Lou Reed, Goodnight Ladies
David Bowie, Rock’n’Roll Suicide (Live 73)


Zum Nachhören: OCBoddity 250 (12.08.2013) PW: OCBoddity

LOU REED, Transformer – OCB’s Radiofabrik-Album-der-Woche

AdW_LRT_CoverIm Sommer 1970 stieg Lou Reed bei The Velvet Underground aus. Trotz dreier – heute als Meilensteine gefeierter, damals weittestgehend ignorierter – Alben und einer ausführlichen Tour, die den größten Teil des Jahres 1969 ausfüllte, sah sich das Mastermind der Velvets in einer Sackgasse. Dass er der verbleibenden Band, die bald kein Originalmitglied mehr aufweisen sollte, mit Sweet Jane und Rock’n’Roll erste Hitnummern hinterließ, war zum Zeitpunkt des Ausstiegs nicht absehbar, doch Reed sollte die Songs sehr bald in sein Repertoire übernehmen.

Der Rückzug Lou Reeds aus dem Musikgeschäft in den Familienbetrieb seines Vaters sollte nicht lange dauern. Bereits im Herbst 1971 brach der New Yorker Musiker, nunmehr ohne fixe Band an seiner Seite, nach London auf, um dort für RCA sein erstes Soloalbum einzuspielen. Trotz namhafter Unterstützung (u. a. durch Tastengenie Rick Wakeman) und zahlreicher in VU-Zeiten bereits erprobter Songs geriet das Debüt zum kommerziellen und künstlerisch Fehlstart.

Doch anstelle dem Album nun durch eine Tour auf die Sprünge zu helfen, entschied sich Reed durchaus überraschend dafür schnellst möglich einen neuen Longplayer aufzunehmen. Unterstützt wurde diese eigenwillige Entscheidung durch den Umstand, dass sich ihm der im Sommer 1972 als „Ziggy Stardust“ zum Superhype aufsteigende David Bowie, seinerseits glühender Verehrer von Reeds Songwriting, als Produzent antrug.

AdW_LRT_Bowie_Reed_Dorchester_Hotel_16_07_72Und so saß Reed im August 1972 wieder in einem Londoner Aufnahmestudio, dieses Mal umgeben von Studiomusikern, die Bowie eiligst zusammengetrommelt hatte. Mit dabei war auch Mick Ronson, der geniale Arrangeur und Gitarrist, an Bowies Seite. Im Gegensatz zum Vorgänger verzichtete Reed dieses Mal auf altes Songmaterial und ließ sich vom Duo Bowie/Ronson auch bei den Arrangements weitestgehend leiten. Die Brücke zu seinem bisherigen Schaffensumfeld wollte Reed wohlweislich aber nicht abbrechen und so wurde Transformer zum eigentlichen Anschlussstück an VU-Zeiten. In etlichen Songs tummeln sich schrille, der New Yorker Szene und speziell dem Umfeld Andy Warhols entnommene Charaktere. Andy’s Chest – ein Track, der dem in VU-Kreisen als „Lost Album“ bezeichneten Werk entnommen ist – bringt Reeds Mentor direkt ins Gespräch. Vicious soll auf einen Wunsch Warhols hin entstanden sein und enthält die grell-homoerotische Zeile „You hit me with a flower!“. New York Telephone Conversation widmet sich der Szene-Sucht nach Small Talk und Oberflächlichem. Eine farbenkräftige Portion an schwulem Kitsch und Glamour serviert Make Up.

Das größte Denkmal für Warhol’s Clique setzte Reed allerdings mit seinem ersten echten Single-Durchbruch: Walk on the Wild Side. Ohne Umschweife und Worthülsen gewährt  Reed Einblicke in das bunte Treiben in und um Warhols „Factory“: Transsexualität, Drogenmissbrauch und Oralverkehr. Musikalisch unverwechselbar wurde Walk on the Wild Side vor allem durch Herbie Flowers‘ doppelten Bass – Kontra- und E-Bass, wodurch Flowers auch seine Studiogage verdoppeln konnte – und das abschließende Saxophon-Solo, das gerne fälschlicherweise David Bowie zugeschrieben wird, tatsächlich aber von dessen Sax-Lehrer Ronnie Ross eingespielt wurde.

Hangin‘ ‚Round erinnert an Wild Child aus dem Vorgängeralbum und etabliert Reed als „New Dylan“, verdankt seinen locker treibenden Groove Mick Ronson’s Gitarre, ähnlich wie I’m So Free und Wagon Wheel, das Bowie zugeschrieben wird. Stimmlich hörbar wird das Produzentenduo in der Coda zu Satellite of Love, einem eigentlich für das letzte VU-Album Loaded aufgenommenen Song. Als Arrangement-Meisterstück bezeichnet Reed selbst Ronsons Streichersatz zu Perfect Day, einem romantischen Kleinod in ¾-Takt, das 25 Jahre später mit einem veritablen Who’s-Who der Rockbranche als Line-Up dem Wohltätigkeitsfonds BBC Children in Need über 2 Mio. £ einspielte.

Als perfekte Sperrstunden- bzw. Schlussnummer erweist sich Goodnight Ladies. Herbie Flowers (an der Tuba) hatte auf Bowies Geheiß kurzerhand eine Dixieland-Band zusammengetrommelt, die der traurigen Schilderung eines einsamen Fernsehabends einen bizarr amüsanten Kontrapunkt schenkt.

AdW_LRT_Bowie_Reed_Ronson_live_Royal_Festival_Hall_08_07_72Transformer und Walk on the Wild Side verschafften Lou Reed auf beiden Seiten des Kontinents Top-20-Platzierungen in den Hitparaden und so heuerte er The Tots, eine weitestgehend unbekannte Bar-Rock-Kombo an, um ihn durch die USA und nach Europa zu begleiten. Auch wenn etliche aufwendig und facettenreich arrangierten Songs von Transformer nicht ins live-Repertoire passten, stellten Satellite of Love, Vicious, später auch Perfect Day und vor allem Walk on the Wild Side jahr(zehnt)elang Show-Höhepunkte dar. Reed selbst erläuterte in einem 11-minütigen Monolog auf dem Live-Album Take No Prisoners Herkunft und Entstehung des Songs.

Selbst wenn Transformer nach wie vor als Reeds bestes Album gilt und von zahlreichen Rockmagazinen zu den Top-Rock-Alben aller Zeiten gewählt wurde, fällt das Urteil des Künstlers selbst zurückhaltend aus und schon damals war Lou Reed offenbar mit dem Ergebnis, nicht restlos zufrieden. Auch der Umstand, dass Bowies Namen allzu stark mit Transformer verknüpft wurde, schmeckte dem egozentrischen Songwriter nicht. So fand sich, als Reed schon ein Jahr nach der Veröffentlichung von Transformer wieder im Aufnahmestudio stand, niemand aus dem „Erfolgsteam“ wieder.

„Hörenswert – das Radiofabrik-Album der Woche“ präsentiert anlässlich seines 40. Geburtstags Lou Reeds Transformer und bringt als Bonus-Tracks zwei Demo-Versionen, drei live-Nummern, die wenige Tage nach der Veröffentlichung in New York entstanden sind, und die Radio-Werbung zu Transformer.

OCB wünscht viel Spaß mit einem Albumklassiker aus dem Jahre 1972.

PLAYLIST (des Albums)
Vicious
Andy’s Chest
Perfect Day
Hangin‘ ‚Round
Walk on the Wild Side
Make Up
Satellite of Love
Wagon Wheel
New York Telephone Conversation
I’m So Free
Goodnight Ladies
Bonustracks (der Sendung)AdW_LRT_back
Radio-Ad
Hangin‘ ‚Round (Acoustic demo)
Perfect Day (Acoustic demo)
Vicious
Satellite of Love
Walk On The Wild Side (alle live NYC, December 1972)

Zum Nachhören PW: OCP

OCBoddity 231 & 232 (November 2012)

Im November 2012 widmete sich OCBoddity bei der Auswahl der Neuerscheinungen einerseits den Old Boys des Rock (Ausgabe 231, 12.11.), andrerseits den Helden von Americana und Folk (Ausgabe 232, 26.11.). Als ältester Vertreter trat – nein, nicht Lou Reed oder Bob Dylan –  sondern Ian Hunter (*1939), einstmals Leadsänger vom Mott The Hoople, auf! Dazu gab’s wie gewohnt brandaktuelle Songs, Stories und Konzerthinweise – Rock, Pop und Indie at its Best – von und mit Oliver Baumann! Wer das versäumt hat, kann hier nachlesen bzw. nachhören!

PLAYLIST OCBoddity 231
Ian Hunter, When I’m President
Hot Pants Road Club, Uhlala
Jason Collett, You’re Not The One And Only Lonely One
Johnny Dowd, Billie
David Byrne & St. Vincent, Weekend In The Dust
John Cale, Nookie Wood
Dexy’s, You
The Andrew Oldham Orchestra, (I Can’t Get No) Satisfaction
Lou Reed, Hangin’ Round
John Hiatt, We’re Alright Now
Neil Young, Born in Ontario
Van Morrison, Open The Door (To Your Heart)
Bob Dylan, Duquesne Whistle

PLAYLIST OCBoddity 232
David Wax Museum, Harder Before It Gets Easier
Benjamin Gibbard, Dream Song
Mumford & Sons, Broken Crown
Jalapeno Compadres, Give Me Peace
Ben Harper, Diamonds On The Inside
Joseph Arthur, Bill Wilson
Cat Power, Peace & Love
Regina Spektor, All The Rowboats
Me & My Drummer, You’re A Runner
Calexico, Maybe On Monday
Joshua James, Queen Of The City
John Butler, Better Than

Zum Nachhören: OCBoddity 231 (29.10.2012) PW: OCBoddity
Zum Nachhören: OCBoddity 232 (22.10.2012) PW: OCBoddity

GÖTTERFUNK präsentiert das Rock’n’Bichl-Festival (01.11.0212)

GÖTTERFUNK, die Sendung für Bands und Musikschaffende aus Salzburg, präsentiert ein weithin noch unbemerktes Highlight des Salzburger Rockjahres: das Rock’n’Bichl. Bereits zum siebten Mal stieg am 29. September 2012 am Rauchenbichl Salzburgs größtes Privat-Rock-Festival. Vom Verein ‚Freunde der Rockmusik‘ organisiert gingen sechs Rockformationen aus Stadt und Land Salzburg, die Schweizer Band Shezoo und das traditionelle Mixed Project zu Werke und boten den rund 500 Zuschauern ein deftiges Spektakel. Oliver Baumann vom Götterfunk war auch (mit Aufnahmegerät) dabei, pickt einige musikalische Perlen des Abends heraus und blickt gemeinsam mit Musical Director Roland Jelinek zurück auf’s 7. Rock’n‘Bichl!

Zum Nachhören PW: GoeFu

DAVID BOWIE, The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars – OCB’s Radiofabrik-Album-der-Woche

David Bowie
The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders from Mars
(VÖ 6. Juni 1972, RCA)

So klar, wie an diesem regnerischen Abend des Jänner 1972, als David Bowie in seinen gelb-schwarzen Overall gehüllt und mit einer Les Paul über den Schultern an den Hausmauern der Heddon Street für sein nächstes Album-Cover posierte, waren Pläne und Zielsetzung des extravaganten Musikers selten zuvor gewesen: Jetzt war er dran mit einer Handvoll schnittiger Songs, sexueller Provokation und dem Konzept eines ausgeflippten Rockstars die Pop-Welt zu erobern!

Name und Idee für Bowies in Hinkunft prägendes Alter Ego Ziggy Stardust entstammen den (musikalischen) Erzeugnissen zweier von bescheidenem Ansehen und mäßigem Erfolg gezeichneter Rocker: Der seltsam tönende Rockabilly The Legendary Stardust Cowboy, aus Texas, spendete den Namen und Vince Taylor, ein unberechenbarer Rock’n’Roller aus London, lieferte die Geschichte des Rock-Musikers, der in Selbstüberschätzung die Bodenhaftung verliert und schließlich von seinen Fans ermordet wird.

Die Story allein, die außerhalb des Titelsongs auf The Rise And Fall Of Ziggy Stardust … ohnehin kaum erzählt wird, war Bowie aber zu wenig. Schon Jahre zuvor erkannte er, dass vor allem das Spiel mit der Sexualität weitaus größere Aufmerksamkeit erregen konnte. 1971 war sein Cover zu The Man Who Sold The World, das ihn in einem langen Kleid zeigte, in den USA verboten worden. Auch die zugeknöpfte britische Presse ließ sich durch so manche Textzeile Bowies irritieren, fand aber in der Verwirrung der Post-Beatles-Zeit neben den Rolling Stones kaum spannendere Interviewpartner als den anfangs überaus schüchternen Bowie. Dieser verstand es das Interesse für seine Person mit zunehmendem Geschick zu nutzen und erklärte im Jänner 72 Michael Watts vom Melody Maker: „Ich glaube, ich bin schwul und bin es immer gewesen.“ Und spätestens, als Bowie während seines Top-of-the-Pops-Auftritt im folgenden April seinem kongenialen musikalischen Partner und Gitarristen Mick Ronson den Arm lässig über die Schultern legte, begann das Spiel mit der (Homo-)Sexualität zu wirken.

Vor diesem grell angelegten Hintergrund befand sich Bowie zudem in einer bemerkenswerten Blütezeit seiner Schaffenskraft. Hunky Dory, das zu dieser Zeit sträflich unterschätzte Vorgängeralbum zu Ziggy Stardust, war gerade erst veröffentlicht, da stand Bowie mit seiner Band The Spiders From MarsMick Ronson (Gitarre), Mick „Woody“ Woodmansey (Drums) und Trevor Bolder (Bass) – bereits wieder im Studio und nahm Song um Song auf, dieses Mal mit deutlich rockigerer Ausrichtung als auf dem Vorgänger. Aufgrund dieses veritablen Songschwalls wurde die Play-List für The Rise And Fall Of … gute fünf Mal umgeschrieben und stand im März 1972 fest.

Und es konnte kaum perfekter klingen: Das langsam anschwellende Herzklopfen von Five Years zieht den Hörer gleich zu Beginn magisch in seinen Bann und berichtet vom hysterischen Treiben der Menschen, nachdem der Bericht vom bevorstehenden Weltuntergang in fünf Jahren verbreitet war. Die Spannung aus einem der besten Songs Bowies überhaupt löst sich erst im swingenden Soul Love auf, ehe Moonage Daydream Sci-Fi-Gefilde durchpflügt und verschlungen auf Stanley Kubricks Film 2001 verweist, den Bowie gerne als seine Hauptinspiration in diesen Tagen anführt („I’m a space invader, I’m a rock’n’rollin‘ bitch for you!“). Dessen ungeachtet stellt Moonage Daydream mit seinem schleppendem Groove und den sphärischen Klanggebäuden ein weiteres Highlight in Bowies Songwriting dar und im ausklingenden Solo stellt Mick Ronson sein Talent zur Schau! Mit Starman, dem Single-Vorboten und einer in seiner Mach-Art klassischen Bowie-Nummer, bleibt der interstellare Kontext erhalten. Erwartet wird einer, der durch seine Landung allen den Verstand rauben wird – eine Thematik wie man sie von den Vorgängeralben Bowies durchaus kannte, doch wird der negative Grundton auf The Rise And Fall Of Ziggy Stardust … durch ein positiveres Stimmungsbild ersetzt.

Diesem unwiderstehlichen Eröffnungsquartett bleibt durch den Ray Davies-Song I Ain‘t Easy das Krönende verwehrt. In Anbetracht der „ausgemisteten“ Nummern – „Hörenswert“ bietet sie als Bonustracks auf – stellt sich seit 40 Jahren Fans und Kritikern gleichermaßen die Frage, warum das halblustige It Ain’t Easy bleiben durfte. Umso zielsicherer eröffnet Lady Stardust – zwei Jahre zuvor für Marc Bolan geschrieben – die zweite Album-Hälfte und verlagert den inhaltlichen Fokus auf das eigentliche Thema des Albums („And he was alright, the band was all together“). Mit Star karikiert Bowie seinen eigenen Anspruch – ebenfalls Tage zuvor dem Melody Maker offenbart – bald ein ganz großer zu sein: „I could do with the money […] and I could fall asleep at night as a Rock’n’Roll Star“.

Ähnlich dem Eröffnungsfeuerwerk stellt auch das finale Quartett des Albums eine bemerkenswerte Einheit dar. Das (ebenso wie Moonage Dayfream) bereits mit Freddy Buretti als Arnold Corns aufgenommene Hang On To Yourself erfuhr ein kräftigeres Arrangement und diente Bowie während der folgenden Tour als unwiderstehlich rockender Opener, gefolgt vom Titelsong Ziggy Stardust mit seinem unverkennbaren, knarzenden Riff und der Kurzfassung des inhaltlichen Konzepts („Making love with his ego …“).

Als „last-minute-songs“ hatte Bowie Suffragette City – von Mott The Hoople zugunsten von All The Young Dudes verschmäht – und Rock’n’Roll Suicide geschrieben. Während das eine zu sattem Rock frech den Konflikt zwischen Männer- und Frauenliebe thematisiert  – „Wam bam thank you,  ma’am“ bleibt unvergleichlich – zelebriert der Schlusssong in Ronsons deftiges Streicherarrangement gebettet das scheinbar logische Ende des Rockstars.

So kraftvoll und schwerelos das Album auch heute nach 40 Jahren noch erscheint, so sehr nagten Bowies Arbeitseifer – er griff in den Folgemonaten Iggy Pop, Mott The Hoople und Lou Reed unter die Arme – und vor allem die Figur von Ziggy Stardust an ihrem Schöpfer, der immer tiefer in seine Rolle verfiel. Zudem zehrte die ausführliche 15-monatige Tournee, die David Bowie zum Superstar in Großbritannien und in den USA werden ließ, an Körper und Seele und er verfiel trotz des finalen Rock’n’Roll Suicide am 3. Juli 1973 im Hammersmith Odeon in den Folgejahren dem Kokainkonsum, der ihn mehrmals an den Rand des Lebens führten.

Anlässlich seines 40. Geburtstags präsentiert „Hörenswert – Das Radiofabrik-Album der Woche“ David Bowies The Rise And Fall OF Ziggy Stardust And The Spiders From Mars und bringt als Bonus-Tracks eine Handvoll Aufnahmen, die zum Teil in letzter Minute noch aus der Playlist des Albums genommen wurden, darunter Songperlen wie das entzückende Velvet Goldmine oder der Kracher Sweet Head, der thematisch in das Ziggy-Konzept gepasst hätte. John, I’m Only Dancing – Bowies zweifellos schwulster Song – und Mott The Hooples All The Young Dudes, mit dem Bowie der bereits aufgegebenen Band ihren größten Hit schenkte, entstanden wenige Tage nach der Veröffentlichung von Ziggy Stardust. OCB wünscht viel Spaß dabei!

Playlist (des Albums)
Five Years
Soul Love
Moonage Daydream
Starman
It Ain’t Easy
Lady Stardust
Star
Hang On To Yourself
Ziggy Stardust
Suffragette City
Rock’n’Roll Suicide

Bonus Tracks (der Sendung)
Velvet Goldmine
John I’m Only Dancing
Mott The Hoople, All The Young Dudes (Bowie On Backing Vocals)
Holy Holy
Sweet Head
Round’n’Round
Und wer’s hören will … klickt hier