Die letzten Tage

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. September –  Wie heißt es so schön schon bei Element Of Crime? “Ich will immer so gern berauscht sein und werde doch immer nur breit. Und kaum, dass ich einmal nüchtern bin, ist der Sommer schon wieder vorbei.” Was waren die Sommer nicht unendlich, als wir noch jung und lustig waren, trunken allein von der Welt und all ihren Versprechungen, das schien einfach nie aufhören zu wollen, jeden Tag aufs neue! Der Herbst des Schulbeginns war so weit entfernt wie einst die Gestade des Columbus, von denen wir damals noch nichts wussten, naturgemäß. Und die letzten Tage vor dem Wiedereinritt in den Ernst des Lebens mit seinen Stundenplänen waren für uns als Kinder noch irgendwie heiter, unbeschwert und verspielt. Doch schon bald spürten wir die ersten Wehmutstropfen

Die letzten Tage des SommersDie letzten Tage des Sommers oder Der kleine Tod des Lebens. Wir alle wissen zwar nicht, wann (oder wie) wir sterben – doch dass unser Dasein endlich ist, das sollte uns doch eigentlich klar sein. Genau genommen zählt unsere Lebensuhr schon seit wir geboren sind einen gnadenlosen Countdown, ticktack, ticktack, ticktack, aus. Den Umstand beschreibt keine Textzeile treffender als jene von Das trojanische Pferd “Mein Herz schlägt mich innerlich tot.” Und wiewohl wir alle um die eigene Endlichkeit wissen, blenden wir diese Wahrnehmung ein Leben lang erfolgreich aus, verdrängen sie in den Keller unseres Unterbewussten – und machen halt weiter wie bisher. Was sollten wir auch sonst tun? Also tanzen wir fröhlich auf dem Vulkan und hoffen, dass er noch nicht so bald ausbricht, während sich in unserem seelischen Untergrund längst das Unvermeidliche zusammenbraut. Versteht mich bitte nicht falsch, ich glaube auch keineswegs, dass ein fortwährendes Memento-Mori-Singen unserer Lebensfreude allzu dienlich wäre. Doch ein gewisser Zusammenhang zwischen diesem “ewig so weiter” und all den Vorstellungen von “Wirtschaftswachstum” oder “unendlichen Ressourcen” scheint mir da schon zu bestehen. Was für eine morbide “Realität”

Die letzten Tage der MenschheitDie letzten Tage der Menschheit oder vielleicht Die letzten Tage der Menschlichkeit? Wenn rundum die Menschenfresser tanzen – und es sich unter Polizeischutz gut gehen lassen, wenn die menschförmigen Politbarometer verbindlich lächelnd unverbindliche Phrasen dreschen, sollten da nicht erst recht und vor allem die verstummten Stimmen der Gefressenen hörbar gemacht werden? Ich sage, dass es keinen Unterschied macht, ob man den Fisch, den man gefangen hat, aktiv erschlägt, oder ob man ihn bloß neben sich an der Luft verzappeln lässt. Schon gar nicht, wenn der Fisch ein Mensch ist. Die Politik der Europäischen Union zum Außengrenzschutz und zur “Migrationsbekämpfung” in Afrika sieht allerdings längst so aus, wie es der Dokumentarfilm “Türsteher Europas” aufzeigt. Zitat: “Mittlerweile sterben wohl mehr Menschen in der Wüste als im Mittelmeer.” Da freuen wir uns jetzt aber ganz furchtbar auf einen “Informellen EU-Gipfel” zum Thema Migration und Sicherheit, den unser oberster Routenplaner für Donnerstag, 20. September in Salzburg einberufen hat. Vielleicht können wir demnächst auch in ein Auto sprechen wie Matta und Lisbett. Oder Elfriede Jelinek als Sprechuppe sein. Weil Kunnst ist und bleibt grenzenlos.

Die Letzten sollen die Ersten seinDen Letzten beißen die Hunde?  Die Letzten sollen die Ersten sein! Stellen wir doch die verrückte Welt vom Kopf zurück auf die Füße und rücken wir ihre so verschrobenen Verhältnisse wieder einigermaßen zurecht. Zu RECHT! Dazu hat uns eine ehemalige Sendungsgästin, die in einer legendären Aufführung Patti Smith verkörperte (Artarium) informiert, dass am 19. September Studierende und Dozent*innen des Thomas Bernhard Instituts an der UNI Mozarteum (wo der EU-Gipfelsturm in Szene gesetzt wird) mit den Mitteln der Kunst gegen die Gefühllosigkeit der akuten Politik auftreten werden. Ihre Veranstaltung “NIGHT OF RESPONSIBILITY” findet ab 21 Uhr (bis ???) im Theater im Kunstquartier als Beitrag zum Alternativgipfel der Plattform Solidarisches Salzburg statt. Und in ihrem Manifest dazu schreiben sie:

“Mit Lesungen, Performances, Musik und Diskussionen wollen wir daran erinnern, dass Europa und unsere Universität ihrer Idee nach nicht als Festungen erbaut wurden. Sie dürfen es auch nicht werden. Hierfür treten wir als Studierende und Lehrende des Thomas Bernhard Instituts ein. Wir können und wollen uns nicht abschotten gegen Menschen in Not. Wir dürfen nicht zulassen, dass die Verrohung im gesellschaftlichen und politischen Umgang so weit fortschreitet, dass wir unempfindlich werden für das Leid anderer.”

PS. Hier ist nun auch der gesamte Text dieser einladenden Einladung zu haben.

 

Zufallsbekanntschaft

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. JuniWir singen das Hohelied der Zufallsbekanntschaft inmitten der schon fast völlig zugeplanten Welt. Alle Kinder sind auf Tinder, aber finden sie dort auch das, was sie suchen? Oder freuen sie sich wunschgemäß über das, was ihnen längst vom Weltalgorithmus gefickt eingeschädelt ist? Hurra, die Fremdwunscheinpflanzung substituiert jede eigene Phantasie mit ihrem globalen Blahcebo des Verwertbaren. Nutzzweck statt Lebenssinn, Umsatzzahlen statt Wohlgefühl, Gabalier statt Gedankenfreiheit. Die 68er drehen sich doch im Grab um, sofern sie schon tot und nicht im Arsch durch die Institutionen stecken geblieben sind. Angepasste Konsumtrottel, der feuchte Wunschtraum der Herrschenden, das voll fernlenkbare Volk der Verblödung

Persönliche ZufallsbekanntschaftDoch bei all dem gepflegten Kulturpessimismus wollen wir unsere Ausgangsüberlegung erst recht nicht außer acht lassen: Wie lässt sich “der Zufall” auch heute noch erleben, wo doch ringsumher fast schon alles mit Besitztümern, Datenschutzgrundverordnungen, Urheberrechten, Lizenzgebühren und Verhaltensvorschrifen derart zugeschissen ist, dass es einem schlichtweg die Luft abdreht? Die Zufallsbekanntschaft mit einem anderen Menschen war schon immer wesentlich fürs spontane Reagieren auf veränderte Lebensumstände, ganz zu schweigen vom überfallsartigen Aufkommen unvorhersagbarer Gefühle, die zu verarbeiten sowohl Kreativität als auch Phantasie erfordert. Ein Rest Risiko in der wohlversicherten Zuvielisation des Urban Overload. Neuen Fragen begegnen – und neue Antworten darauf finden. Nicht bereits vorher definierte Gefühle erwarten und diese befriedigt bekommen – oder eben nicht. Der letzte Bewegungsspielraum einer menschlichen Sexualperson wäre also ja oder nein, null oder eins, pudern – oder wegwischen?

Raum für ZufallsbekanntschaftUnd die Zufallsbekanntschaft mit einem Buch, einem Film, mit einem Thema oder mit einer MusikKann das Entdecken einer neuen Welt, wie sie in der unvorhergesehenen Begegnung mit einer Landschaft, einer Kultur oder einem einzelnen Bild entsteht, eins zu eins ersetzt werden durch eine vorgefertigte Version dieser unserer inneren Wirklichkeit? Maschinen haben keine Gefühle. Ein schöner Satz. Aber Märkte und Weltwirtschaften, politische Parteien, Hitradios, Börsenenkurse oder Zuckerberge haben auch keine. Die tun bloß so! Weshalb naheliegt, dass die psychischen Prozesse, die im Umgang mit dem Überraschtwerden auftreten, eben nicht durch mathematisch-mechanische Verfahren (und seien diese noch so schnell oder komplex) ersetzt werden können. Das untrügliche Kennzeichen des Lebendigen sind nämlich echte Gefühle – und keine künstlichen. Der Sänger einer recht jungen österreichischen Band (die ihren ersten großen Auftritt als Support für AC/DC hatten) verweigert generell jegliche Dating-Apps”: Was passiert, passiert, was nicht, nicht.”

Da gibt es dann sehr wahrscheinlich einen Zusammenhang

 

Bäume schlagen aus

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. Mai – Als Kind konnte ich mir die beiden Wortbilder nicht wirklich zurecht reimen: “Pferde schlagen aus”, schon klar, aber Bäume? In meinem Hinterhof hat sich allerdings unlängst eine Geschichte ereignet, die das Ausschlagen (altertümlich für “austreiben”) der Bäume nachgerade unausweichlich illustriert. Diese Geschichte, die auch noch ein Dreiteiler ist, werde ich in dieser Sendung erzählen, die dramaturgisch passenderweise drei Stunden dauert. Zur phantasieanregenden Vorhereinstimmung sei sie allhier schon mal in Gestalt von Bildern gezeigt, den Assoziationen zu “Die Bäume schlagen aus” sind dabei keinerlei Grenzen gesetzt. Wenn ich so ein Baum wär, ich würd ja am liebsten zurück schlagen, und zwar mit Schmackes. Und ganz abgesehen davon, “Der Mai ist gekommen…”

Bäume bleibenJenseits von Maibaum, Volkstum und Salzburger Heimatwerk findet sich noch so einiges an Bäumen gewidmeter Frühlingsnatur. So etwa in Konstantin Weckers Lied “Der Baum”, in dem es sogleich mundartgerecht zur Unsache der Verwüstung alles Lebendigen geht: “I hab Angst. Lang lassn si de nimma aufhoitn, und da werds hold mi jetzt boid als oan vo de erstn dawischn. Angeblich spüren wir ja nichts, wir Felsn, wir Viecher, wir Bleamen, wir Bäum – angeblich habn wir kein Gefühl. Und wie wir spüren und denken, lieben und fluchen – ja hörts ihr uns denn ned schrein, den liabn langa Tag, hörts ihr uns alle mitanander ned schrein, landauf, landab, alle, die noch am Lebn sind, das is ein Wehklagen, das ist ein Jammern – ihr hörts uns bloß nimmer, weils koaner mehr aushoitn dad. I hab Angst. Jetzt tragns die ersten weg. Die wehrn si gar ned. Jetzt tretns es und knüppelns es – und die wehrn si immer no ned. Bleibts mir bloß vom Leib, ich hab eich doch nix getan, wir ham eich alle mitanander doch no nia wos doa, und dabei kanntn wir doch so guat auskumma mitanand, des konn doch ned so schwer sei, wir ghörn doch alle zsamm, wir san doch alle vom selben Schlag.“ Textauszug von Konstantin Weckers Homepage, eine Momentaufnahme…

Bäume klopfen an“Wer klopfet an?” – “Nur ein gar alter Baum.” So war es tatsächlich, in jener vorletzten Adventnacht des letzten Jahres. Und wenn meine Lieblingsnachbarin da unten nicht kurz zuvor gestorben wäre, sie hätte sich dabei wahrscheinlich zu Tode erschreckt. Fast, als ob die uralte Trauerweide extra auf sie Rücksicht genommen und mit dem Umstürzen bis nach ihrem Tod gewartet hätte. Ich erzähl ja schon den Anfang… Wollen wir hier lieber noch einen weiteren Schwerpunkt oder “roten Faden” unseres Nachtfahrtprogramms vorstellen: den völlig zu Unrecht weitgehend in Vergessenheit geratenen Dichter Alois Hergouth. Aus seinem Lyrikband “Umkreisung der Nacht” werden wir im Verlauf dieser Sendung ebenfalls einiges vortragen. Denn sein Werk, an das der wackere Max Oravin hier auf babelsprech.org erinnert, ist wahrhaft weltgültig:

AUCH SO KANN ES SEIN:
wie ein Glas
voll köstlicher Leere
durchstrahlt
von erloschenem Glanz

Bäume schlagen ausAUSBRUCH DES SOMMERS
der schwirrenden Schwüle:

Der Tod
trägt eine Maske aus Gras
Er blüht durch die Augen
treibt Schierling und Wein
und tänzelnde Schlangen

Entschleiert
das Licht im Zenith
Die sirrenden Schwalben

SO WAHR!
So entsetzlich wahr!

‚Bringt Steine
es totzuschlagen!’

‚Bringt Öl!’

 

Im Märzen die Bäuerin

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. März – Die allermeisten von uns kennen das uralte Kinderlied “Im Märzen der Bauer die Rösslein einspannt…” Aber was ist mit der Bäuerin? Die bleibt doch im hergebrachten Rollenverständnis immer dem Bauern zugeordnet, und ihre Eigenpersönlichkeit wirkt seltsam nebulös. Sie ist einfach die Frau vom Bauern, so wie es seit der Erfindung des Patriarchats irgendwie dahertradiert worden ist. Und wie es auch in Wortwürsten wie Bauernhof, Bauernschmaus oder Bauernstube fortwirkt, ganz zu schweigen von der Betitelung einer leider populären Scripted-Reality-Show aus der Abteilung Alpentrash. Liebe Samenspender_innen und Geburtendolmetscher, wir stiften euch eine Seinsinsel jenseits aller Vorgaben und Vorschriften der geschlechtsverwirrten Identitäter:

Die BäuerinDazu stellen wir diesmal unsere übliche Text/Musik-Dramaturgie auf den Kopf und spielen fast nur Beiträge von Frauen, garniert mit dem einen oder anderen Mann, der etwas zum Thema beitragen kann. Insbesonders die abenteuerliche Vorstellung des mannmännlichen Heldentums soll da den Kontrast zum freifräulichen Kunstschaffen bilden. Und naturgemäß wird uns dabei die Hasenfrau als Bäuerin und eben auch als Inspiration für eine etwas andere Perspektive von Weiblichkeit begleiten. Zum Beispiel ist andauernd vom sprichwörtlichen Kind im Mann die Rede. Warum jedoch so gut wie nie vom (eigentlich entsprechenden) Mädchen in der Frau? Ob uns da Kirsten Fuchs, die Autorin der “Mädchenmeute”, weiterhelfen kann? Oder die genialen Missfits (Gerburg Jahnke und Stefanie Überall), die einst das rotzfreche feministische Musikkabarett im deutschen Sprachraum salonfähig gemacht haben? So kann auch geschlechtliche Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit entstellt werden…

Die InspirationWir leben in einer Diktatur der Nützlichkeit und Funktionalität. Was nicht berechenbar ist und ins Kleinkarierte der Statistik passt, das wird (Wortwitz!) ausgemerzt. Der Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter war ursprünglich als Emanzipation aller nicht im Machtspiel der Gesellschaft vertretenen Existenzen wie Sinnsucher, Lebenskünstler, anderssexuell Orientierte, Individualisten und Alternativpropheten (nebst allen _innen) gedacht. Mittlerweile ist er aber offenbar zu einer nur noch peinlichen Konkurrenz ums Machthaben und Machtausüben verkommen. Dabei liegt es ja nahe, dass die Ursünde der Menschheit das Beherrschen des Menschen durch den Menschen ist. Weshalb nicht nur die Frauen – nebst allen vorgenannten Menschseinsformenentrechtet und in die Zernutzungsinteressen der jeweiligen Herrscher hineinvergewaltigt werden – sondern auch die Hasen und Häsinnen! Es zeigt sich wieder einmal, dass ganz oben in der Hierarchie immer ein Oberarschloch sitzt, das uns von dort mit Regeln und Gesetzen zuscheißt, die nicht das Geringste mit unseren Gefühlen und Bedürfnissen zu tun haben, jedoch einen ganzen Haufen mit seinem Wohlergehen. Was für ein Schwachsinn – und jetzt Kopf ab zum Gebet!

Die PerspektiveEs kann also nie darum gehen, ob Mann oder Frau, Bauer oder Bäuerin besser geeignet wären, die Macht auszuüben. Dieser Wettbewerb ist der gleiche vertrottelte Beschiss wie all die anderen “Freiheiten”, die uns im Namen der Unterdrückung von “denen da oben” gnadenreich geschenkt werden. Das Problem mit der Gleichberechtigung (aller!) ist eben, dass sie selbstverständlich sein müsste – und nicht abgerungen oder zugestanden. “Dort oben” sollte überhaupt kein Mensch sitzen und über andere Menschen urteilen oder ihnen irgendeinen Wert beimessen. Und auch nicht mehrere oder viele, das wäre genauso verkehrt. Bestenfalls noch ein Gott, den könnte man immerhin gefahrlos anzünden. Oder die Hasenfrau, der würden solche Blödheiten wie Krieg oder Weltwirtschaft nie im Leben einfallen! Lassen wir uns inspirieren zu neuen Sichtweisen von männlich und weiblich, oben und unten, links und rechts, einsam und allerlei – in der Hauptsache von all den Frauen angenehmer Frequenz.

Warum ich dir das erzähle? Weil du kein Trottel bist.

 

Karneval der Kulturen

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Februar – Am schlimmsten ist es immer mit dem Einstieg. Wie nur, ja wie? Da könnt doch jetzt Jedermann daher kommen und uns was vorraunzen von seiner Frau. Oder vom Xenophil Pimperl. Wie sagte einst Goethe: “Das also war des Puderns Kern.” Unschwer festzustellen, dass gerade Fasching beziehungsweise Karneval herrscht. Dabei wollen wir in dieser Saison nicht übrig geblieben werden, und so eröffnen wir unsere ganz eigene Session inmitten des schwindligen Kasperltheaters. Und wir wären nicht wir, wenn wir die Begrifflichkeiten des Kulturkarussells allzu bierernst nähmen. “Kulturen” kann ja so einiges bedeuten, von Anthropologie über Joghurt bis zu regionaler Volksmusik oder fremdländischen Filmen: “Almduludl akbar!”

Karneval der KulturenDie Grundlage der Selbstironie ist, wie der Name schon nahelegt, das Vorhandensein von irgend so was wie Selbst. Oder Bewusstsein. Einigermaßen selbst zu spüren, WER man ist – nicht bloß WAS. Letzteres bescheren einem eh die auswendig zu lernenden Phrasen von einer Identität aufgrund von Hautfarbe, Geschlecht, Kultur und Berufsausübung. Die Mär von der Zugehörigkeit zu irgendwelchen Kategorien, die von fragwürdigen “Autoritäten” festgelegt werden. Fürs “Befolgen” solcher Hohlheiten werden ganz konkrete Belohnungen in Aussicht gestellt, wie zum Beispiel: „Dann fühlst du dich gut!” oder “Im nächsten Leben wird es dir besser gehen.” Den Schas glauben nicht wenige – und irren ein Leben lang fremd in sich umeinand. Naturgemäß können die nicht über sich selbst lachen, sie haben irrationalerweise Angst davor, genau das zu verlieren, was sie nie gefunden haben: Das eigene Selbst. So heißt denn die volksmundige Frage: “Sag einmal, spürst du dich überhaupt?”

Karneval im LichtIch gebe zu, dass der Sendungstitel Karneval der Kulturen bereits zum Zweck verschiedener Aufmärsche des multikulturellen Bestrebens in aller Einfältigkeit ausgelutscht ist. Aber wir wären auch nicht wir, wenn wir dieser Standardvorstellung von Eiapopeia und Lieblieb nicht noch Abgründiges und Hintersinniges zu den beiden Begriffen Karneval und Kulturen (Mehrzahl) abringen würden. So soll uns die “närrische Jahreszeit” auch als Steilvorlage für die aktuelle politische Situation dienen, deren Umtriebe fast nur mehr erträglich sind, wenn man sie als Kabarettprogramm auffasst. Zu den riesigen Nebenwirkungen lesen sie… Und was den vielbeschworenen “Clash of Cultures“ angeht, können die Dichter, Künstler und Musiker, die sich wirklich mit Begegnung und/oder Verbindung unterschiedlicher Kulturen beschäftigen, meist eine bessere Belichtung anbieten als die inflationären Philosaufen, Pädagockeln und Politwichteln. Naturgemäß nur dann, wenn man einigermaßen selbst (siehe oben)…

Karneval im TheaterDas Grundverbrechen sind die falschen Versprechungen, die einem fürs vorauseilende Anpassen und fürs reibungslose Funktionieren gemacht werden: Dass man dafür in irgendeiner Art belohnt würde, wenn man sich selbst aufgibt, sich einfügt und brav mitarbeitet. Dass man halt “dazu gehört”, wenn man bei allem mitmacht, was die Strömung jeweils vorgibt, gern auch mal beim andere schlecht finden, herabsetzen und gnadenlos aussperren. Denn darum geht es meist bei den Gesellschaftsordnungen, vom Kleinsten bis ins Größte, sei es Familie, Kirche, Schule, Staat, Weltkonzern: Dabei sein oder untergehen! Das ist nichts anderes als blankes Drohen mit Gewalt. Wer solche Grenzen zwischen den Dazugehörenden und den Ausgeschlossenen aufrichtet, der profitiert von den Schmiergeldern und Zollgebühren, die unweigerlich dabei anfallen. Deshalb ist “Sepp, pass di an!” nicht nur ein beliebtes Lebensmotto, sondern auch ein verbreiteter österreichischer Vorname. Wir werden alle sterben.

 

Unendlichkeitsversuch

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 13. Oktober – Diese wunderschöne Wortanstiftung soll Anlass dafür sein, wieder mal etwas über unser Sendungskonzept auszusagen, verkörpert sie doch mit sich selbst genau jenen Unendlichkeitsversuch, den wir allmonatlich unternehmen – und der wir auch sind! Lässt man sich diesen Begriff sozusagen auf der Seele zergehen, dann schillert er sogleich in den verschiedensten Farbenund Bedeutungsnuancen. Ähnliches versuchen wir ja auch jedesmal mit unseren vielschichtigen Freitagnachtcollagen auszulösen. Deshalb passen sie auch nicht wirklich in irgendein Genreschachterl. Kommunikationswissensgschaftliche Formatradiozuschreibungskategorien haben in unseren Phantasieweltbildern sowieso überhaupt nichts zu suchen. Pfuigack!

RauchpauseDabei gibt es schon Hintergründe, die hier erhellt werden können: Zum einen der Ausstrahlungstermin in der Nacht von Freitag auf Samstag, wo zumeist eher fortgegangen als daheimgeblieben wird. Und zum anderen die erklärte Absicht, just zu dieser Partynacht der Jungnation definitiv KEIN für irgendein Festl hintergrundtaugliches Hullatrulla zu produzieren. Folglich richten sich unsere Schwebwelten eher an den einzelnen Kopf von inmitten des Jubeltrubels Alleinseienden. Was nicht heißt, dass sie nicht auch gemeinschaftlich zu genießen wären. Wir halten damit eine der Grundideen unseres Freien Radios hoch, dass es nämlich nicht darum geht, immer noch mehr Publikum zu erreichen, indem man auf Durchschnitt und Üblichkeit abzielt, sondern darum, dass vor allem das Eigenartige, das etwas Andere wie das sehr Spezielle seinen prominenten Platz haben muss. So erreichen wir in dieser ersten Wochenendnacht zum Beispiel Menschen, die gerade im Auto unterwegs sind, krank zu Hause liegen, genüsslich in der Badewanne knotzen, sich sonstwie verkrochen haben, die zu alt oder zu jung sind fürs Geschubse ums Bierhäusl, einfach Menschen, und denen sagt das was…

UnendlichkeitsversuchUnd so stiften wir unsichtbare Verbindungen zwischen vielen Molekülen in einem Germteig der Gesellschaft, bilden wir ein Myzel zwischen den zahllosen vereinzelt erscheinenden Schwammerln, die ja doch allesamt das große Ganze des Lebens sind. Darüber hinaus sprechen wir mit unserer äußerst weit gespannten Musikauswahl auch möglichst unterschiedliche Einzelgeschmäcker an, so dass gleichermaßen Wiedererkennen wie Neuentdecken über einen längeren Zeitraum des Zuhörens hinweg stattfinden kann. Des weiteren ermöglichen unsere immer live und spontan zu allen möglichen Themen stattfindenden Zwischengespräche sowohl Zustimmung als auch Ablehnung. Wie ebenfalls die mit Bedacht eingestreuten Statements und Zitate von Gastautor_innen, die zusätzlich das Gehirn massieren und so unweigerlich zum Denken anstiften. Ganz zu schweigen von unserer Sendungsdramaturgie, die sich stimmungsabhängig in die eine oder andere Richtung entwickelt, je nach dem… Doch das sind auch nur die ohrenfälligsten der vielen Schichten, die wir seit fast sieben Jahren zu immer neuen Nachtfahrten verweben. Ein echter Unendlichkeitsversuch.

 

Velvet Goldmine

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Juni – Auf den Spuren des Kultfilms Velvet Goldmine würdigen wir die sexuelle Ambivalenz in der Popkultur – und würgen am heteronormativen Durchschnitt einer bumsdummen Gesellschaft aus Massenblödien, Quasselödien und Kassenschmähdien. Diese Wortschöpfung von Uwe Dick aus den “goldenen” 70er Jahren bringt ja nicht nur die Medienindustrie auf den Punkt, sie verdeutlicht geradezu das gesamte Unwesen unserer Zivilisation. Doch den Nachthasen ist kein roter Faden zu dünn, um aus ihm nicht doch noch ein mutmachendes Hurra aufs Überleben zu destillieren: “Sexuell benutzerdefiniert” im Gegensatz zu den “empfohlenen Einstellungen” der ohnehin unklaren Anbieter, es könnte so einfach sein, wenn man sich nur ließe. Auf jeden Fall empfehlen wir uns.

velvet oscar wildeOder Oscar Wilde, den verwegenen Vorkämpfer für das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung im viktorianisch verklemmten England. Der ging für sein stures Beharren auf gleichgeschlechtlicher Liebe als einer möglichen Lebensform nicht nur ins Gefängnis, sondern an den Folgen dieser Unmenschlichkeit zudem auch tatsächlich zugrunde. Was nicht verhindern konnte, dass er seine Mit- und Nachwelt (also uns) mit einer Überfülle an zeitlos klugen Zitaten beschenkte. Viele davon finden sich im Script von Velvet Goldmine wieder, als einer von vielen roten Fäden, die diesen Film so wunderbar unblöd und wertvoll machen. Und ihn über die Jahre zu einem Kultfilm, vor allem für ein jugendliches Publikum, werden ließen, wiewohl er in den Kinos gefloppt war. “Oh mein Gott, Hollywood verhungert, sammelt Steckrüben!” Die statistische Bewertung der Verkaufserlöse zeigt nur, wie unmaßgeblich kommerzielle Überlegungen für den persönlichen Wert eines Kunstwerks sind. Und wie unerheblich die Mehrheitsmeinung im Hinblick auf individuelles Berührtwerden ist. Massengeschmack kann niemals Maßstab für die eigene Wahrhaftigkeit sein.

velvet goldmineSo beginnt Velvet Goldmine folgerichtig mit Oscar Wildes Kindheit (als Vorgeschichte), um sich dann jener kurzen Ära des Glam Rock der 70er Jahre hinzugeben, als erstmals im Pop musizierende Männer sexuell ambivalent auftraten und öffentlich mit eventueller Bisexualität spielten. Der überaus vielschichtige, teils symbolistisch und surreal in Stimmungsbildern gestaltete Film fokussiert auf die beiden Rockstars Brian Slade alias Maxwell Demon (dessen Rolle David Bowie alias Ziggy Stardust nachempfunden ist) sowie Curt Wild (dessen Rolle unter anderem von Iggy Pop und Lou Reed inspiriert wurde) und erzählt von deren Begegnung, Verliebtheit und schlussendlichem Verfall. Das allein wäre schon genug an Opulenz, Dimensionalität und Vertracktheit, doch da ist auch noch die Rahmenhandlung des Erzählers Arthur Stuart, eines Musikjournalisten, dessen investigative Recherchen mittels diverser Rückblenden in die überbordende Erzählung hinein verwoben sind. Insgesamt also ein Spielfilm, der keineswegs durch nüchternes Frontalbewusstsein begriffen, sondern vielmehr vermittels des entgrenzten Gefühlsverstands erlebt werden will. Und vor allem nicht “interpretiert”.

velvet oscar wilde quoteWas mit Sicherheit auch auf die Homepage von Michael Stipe zutrifft, der Velvet Goldmine als Herzensanliegen produziert hat. Bitte halten sie mich fest! Oder sonstwas. Wie dem auch immer nicht sei, wir zwei gewinnen dieser unendlich schönen Herausforderung aller Sinne naturgemäß einiges an Gefühlen und Bezügen ab. Darob werden wir hiernachts schwelgen können, dem Erzählstrang sowie dem Soundtrack dieses musikalischen Ausnahmefilms folgend. Sontstwo erschienene Rezensionen halten wir allesamt für hochgradig verschnöselt und daher nichtssagend. Statt dass etwa die Ergriffenen schrieben, denen “das etwas gibt”, verzapfen da irgendwelche “Zuständige” ihre Maßstabsmeinung, die kein authentisches Erleben wiederspiegelt, sondern stattdessen das allübliche Gesums aus dem Eintupf der sachzwänglichen Durchschnitter. Was sexuell neugierige Welpentiere interessiern darf und was nicht, das wird von abgeschmackt normifizierten Pudernudeln festgeschrieben und in den “neuen” Untenhaltungsmedien reichweitigst verbetoniert. Es hat sich nichts geändert: Was “normal” ist, entscheiden die Angepassten. Und die spinnen mit Sicherheit!

“Gleich am Tag nach meinem Tod setz ich mich hin und schreib meine Memoiren. Davor bin ich viel zu sehr mit meinem Leben beschäftigt.”

 

Maikäufer und anderes Ungeziefer

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freutag, 12. Mai“Die Sonne, ein radikalsozialistischer Leuchtkörper, eines der wenigen Objekte dieser Welt, deren private Ausbeutung deshalb noch nicht gelungen ist, weil es keine Großhimmelsgrundbesitzer gibt, diese Sonne nimmt sich die Freiheit, allen Menschen gleich zu leuchten und die dürre Haut des Hungernden ebenso zu wärmen wie den fetten Bauch des Satten.” So schreibt Joseph Roth in einer Hausarbeit namens “Der Frühling, die schönste Jahreszeit”, deren Wiederauffindung wir dem Nachlass des umtriebigen Sprachpflegers Axel Corti verdanken. Und deren Grundstimmung wir uns allein schon wegen des Grünens und Blühens ringsumher gern anschließen! Ganz zu schweigen von der temperatürlichen Lieblichkeit, welche uns im sinnlichen Erfahren einer lauen Maiennacht überkommt.

Maikäufer 1Lässt sich dieser Wonnemonat, der uns mit so schönen Wortkreationen wie Maibaum, Maibock, Mailand, pardon, Maiandacht beschenkt, so zur Handelsware machen wie die etwas weniger laue Weihnacht? Zur gesetzlich geschützten Wortmarke wie (zum abschreckenden Beispiel) Thomas Bernhard? Oder wessen Sprache ist ein Grunzbesitz? Peste Grüße hierorts an Herrn Fabjan, der Urheber ächzt, der Urheber rächts! Und an alle Verleger, die uns damit in Verlegenheit bringen, dass sie jemandes Sprachperlen so derart verlegt haben, dass kein Mensch sie je wiederfindet, es sei denn als Konsumwichtel. Ja, Maikäufer gäbe es zuhauf, wenn der revolutionäre Frühling endgültig als Pop-Ikone verklärt zum Merchant-Scheiß umgetupft wird wie einst das Che-Guevara-Bild zum T-Shirt. Die Maikäfer hingegen werden immer weniger, so wie auch die Honigbienen und zu schlechter Letzt noch die Singvögel, in diesem wahnsinnigen Weltkarussell von Allesverkäufern und entfessellten Endverbrauchern. Es lebe die schrankenlose Gierokratie, let’s have a Crispy Himmelfahrt, straight outta Appgrund! “Jeder weiß, was so ein Mai-Käfer für ein Vogel sei.” Gell ja, das Geldsäckulum verleiht Flüüügel

Maikäufer 2Ich wage also das Dicktum. Wer sich derlei Wortakrobatik (und Akribie) gern bis zur Überdosis ungefiltert reinschraubt, mag sich die Sauwaldprosa in der von BR2 verhörspielten Fassung zufügen, da feiern nebst Arno Schmidt noch aberzig andere im Uwe-Dick-Kopf so feuchtfröhliche Urzuständ, doss grod a so rauscht, vastehst? Inhaltlich eingängiger, wenngleich wesensverwandt im Aufbau seiner unerwarteten Wendungen, stopfen auch wir uns ein Sackerl voll mit Krabbelgetier und lassen es ungeheuer auf euch los: Maikäufer, flieg, die Wirtschaft ist ein Krieg, zu haben wär das Heimatland, doch ich bin leider abgebrannt. Maikäufer, flieg! Da mögen sich ganz neue Synapsen verknüpfen im Großmyzel jenseits des Flachbildhirns. Etwa wenn wir Zitate von Karl Markus Gauß in unsere Musikdramaturgie einstreuen oder Schüttelreime von Franz Mittler. Apropos: Kaum war der uns von Gott verlieh’ne Mai da,
schon sah ich Fräulein Wilhelmine, leider.
Sie hängt auf ihre Wäscheleine Mieder
und trällert “Leise flehen meine Lieder”

Maikäufer 3Eine erhebliche Errungenschaft des Frühlings sind die allgegenwärtigen Schaufenstersprüche von diversen Autor_innen, durch die uns das auch demnächst wieder ausbrechende Literaturfest Salzburg im Wortsinn mit prächtigen Blüten versorgt. Aus dem Fundus dieses genialen Einfalls stammen die oben erwähnten Zitate. Der allergenialste Einfall aller Zeiten ist allerdings die Frankfurter Küche von Grete Schütte-Lihotzky, der ich es verdanke, dass ich mich trotz des inzwischen erheblichen Verschleißes an meinem Stütz- und Bewegungsapparat (so heißt das, glaub ich, orthopädisch korrekt) nach wie vor selbst bekochen kann. Chapeau! Und wie es zur Entwicklung dieser Jahrhundertidee kam, zeigt dieses großartige Video von Robert Rotifer – The Frankfurt Kitchen. Wenn wir jetzt schon beim Videoschaun und Rundumverlinken sind, sei hier noch Achab – Un Monde formidable angepriesen, deren ausgezeichnete Arbeiten ich durch die unlängst auf ARTE ausgestrahlte Doku “Kein Gott, kein Herr! Eine kleine Geschichte der Anarchie” entdeckt habe. Weitere Einzelheiten dazu im Artarium “Erster Mai – Vorbei?” Womit wir wieder beim Frühling wären, dessen revolutionärer Kraft wir diesmal huldigen. In diesem – wasauchimmer …

 

Bittersüßvermischt

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. MärzIm Leben, so übersetzte es der Professor für Altgriechisch einmal, sei das Bittere stets im Süßen enthalten – und umgekehrt. Also quasi vermischt, wie es in zahllosen Zitaten aus verschiedenen Kulturkreisen seit Anbeginn der Aphoristik überliefert ist. Das kommt unserem Interesse am Zweideutigen im Zwischen naturgemäß entgegen, so dass wir uns sogleich (gibts eigentlich auch “soanders”?) eine Sendung daraus drehen, die wir mit euch zusammen verrauchen lassen und/oder inhalieren. Nicht ohne die nötige Drogenwarnung, liebe Kinder, das muss schon sein, Finger weg von die Drogen! Eine alte Frau kocht nämlich Rüben. Und so ergehen wir uns alle in Fragen, auf die es keine vorgefertigten Antworten gibt, außer man macht sich selbst einen Reim

Bittersüßvermischt neu UND schönUnd so ergingen wir uns neulich auch in der Josefiau-Siedlung zwischen Überfuhrsteg und Membergerstraße, um die bauliche “Entwicklung” (!) derselben zu dokumentieren. Was der Gestalt gewordene Zeitgeist da ringsum in die Gegend scheißt, das strapaziert noch die hartgesottensten Geschmacksnerven. Das einstmals von vielen kleinen Häusern mitten in den Gärten drum herum geprägte Ensemble mit seinen verschlafenen Gassen und oft uralten Obstbäumen atmete eine ebenso schräge wie heimelige Atmosphäre, die dort wohnenden Menschen wurden gemeinsam mit ihren Geräteschuppen und Komposthaufen alt, ungepflegt, verworren und windschief. Alles in allem ein Szenario, in dem man auch der eigenen Lebenszeit entspannt beim Vergehen zuschauen konnte. Unbezahlt – und zudem unbezahlbar, wo doch heute die Zeitkomprimierung (immer noch mehr in immer noch kürzerer Zeit) das idiotische Unmaß allen Dingens zu sein hat: Homo rotationis in turboladrioh

Bittersüßvermischt FlaggschissDer gelungene Flaggschiss einer vom Verwertzweck nutzschwindlig gepuderten Arschitektur ist dieses gestrandete Dumpfschiff (sogar mit Fahne) in der Josefiaustraße. Auf dem diesem Bauklotz geopferten Grunz-Stück befand sich ehemals ein winziges Häuschen sowie eine große Wiese mit vielen Bäumen… Doch aus sowas kann man ja Geld quetschen, indem man möglichst zahlreiche Zahlende zum “Wohnen” (im Klonzoo) zusammen zwängt. Schöne neue Lebenswelt für ferngesteuerte Konsumtrotteln, deren Selbstverstand nicht über ihr Hochglanzbild vom Realitätenbüro hinaus reicht. Keine Realität ohne Realitäter! Wenn ich mir überlege, wen aller “der Blitz beim Scheißen treffen” sollte, dann sind diese Zerschandler alles Gewachsenen im Namen der Gewinnsucht ganz vorn dabei. Denn deren Auswirkung tötet das gedeihliche, sich langsam lohnende Leben ab, sie löscht zudem durch die Verbauung des Freiraums jede Erinnerung daran aus

Bittersüßvermischt NutzmenschentumDoch dieser Wahnsinn hat längst noch nicht genug von sich. Schon protzt der nächste werbefeuchte Weihrauchschwall seine perfide Ideolügie in unsere Wahrnehmung: Der ultimative Menschenkäfig mit Erlebnisklo und Lifestyletribüne für die Normlebensdarsteller aus der globalisierten Statistiktrommel. Der beigespiebene Text entlarvt sich als genau das Auseinander von Sein und Schein, welches er doch eigentlich so behübscht zu verbergen sucht. Oder nicht einmal mehr? Wir sind diesfalls auch demnächst bezucksfertig. Bis dahin fahren wir aber noch mit aller Ambivalenz durch die Nacht – und euch um die Ohren. Nicht nur im Erinnern geht es nämlich bittersüßvermischt zu, feiern Wahnheit oder Lücke fröhliche Zuaständ, auch im Entäußern unserer Überdrücke begegnen sich scheinbare Gegentümer und Sätze zu überraschend neuen Geschmacksrichtungen. Ganz zu schweigen von unseren Musik- und Textbeiträgen, doch ganz gut zu hören

Wie dem auch immer sein mag – Es muss auf jeden Fall weitergehn!

 

Spätlese

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. OktoberSpätlese mit Winzer heißt ein Gedicht von Anna Breitenbach, welches speziell für die heurigen (sic) Literaturtage in Weinstadt (sicsic) entstanden ist. In der unseren Untertiteln ziemlich artverwandten TV-Sendung “Kunscht” berichtete seine unstillbare Umtriebigkeit Denis Scheck über diverse Dichterlesungen, für welche zuvor die Autor_innen beim Lesen und Keltern des Weins mitgewirkt und so ihre Eindrücke in wohlvergorenes Wortwerk verwandelt haben. Auf diesem poetischen Terroir kommt es zu allerlei Assoziationen mit Fachbegriffen wie etwa Trockenstress, Süßfäule oder Geschein. Und ich dachte, dass es bei Wein, Wort und Gesang um Stoned Poets (Dichte Dichter) geht im Sinne des trunkenen H. C. Artmann, dem man nach seinem Vortrag vom Podium helfen musste.

herbsthasenWas also können wir Herbsthasen als Spätlese aufbereiten? Vor allem, ohne allzu wortwörtlich ins Weinfass zu fallen. Es ist spät und wir lesen? Vielleicht Handverlesenes aus dem Fetzenspiel mit dem Mozartstaat? Die Essenz des Rosinenweins aus Georg Trakls Drogentopf? Eigenes oder Fremdes, Angeeignetes oder Befremdliches, Übersetztes oder Vorletztes oder längst Zerfetztes? Über Oderhaupt ins Restdeutsch des Ostens dichteren Grobschnitt?

Ein Häschen von alledem, damits ausgewogen und nährwert bleibt. Und zudem noch, was uns ein-, ab- und zufällt, damits nicht fad wird, so ganz ohne Weltrum und Kugel. Es ist ja immer ein Zwischenraum jenseits der Definitionen, den es genau deshalb zu bewohnen gilt. Nüchtern betrachtet kann auch der Rausch verhandelt werden, ohne ihn zu verteufeln – oder ihm zu verfallen. – Im Hinblick darauf Georg Trakls Briefzitat:

“Dass es Winter und kalt wird, spüre ich an der abendlichen Weinheizung. Vorgestern habe ich 10 (sage! Zehn) Viertel Roten getrunken. Um vier Uhr morgens habe ich auf meinem Balkon ein Mond und Frostbad genommen und am Morgen endlich ein herrliches Gedicht geschrieben, das vor Kälte schebbert.”

mozart-spaetleseSpätlese kann in unserem Fall aber auch Nachlese, Protestsongperlen– oder gar Torkelbärenauslese bedeuten. Der uns nicht ganz ungeläufige Herr Blumenau ergeht sich nämlich im Nachfeld der diesjährigen Kür von Sarah Leschs “Testament” in eigenwilligen Argumenten, warum er diesem Lied genau null Punkte zugestand und warum es ihn auch nicht wundert, dass es inzwischen von rechtsrechten Gruppen für deren Weltsicht vereinnahmt wird. Das läge, so der tägliche Blumenau in seinem Artikel, von vornherein an Text und Haltung des Songs. Darob mag man sich ein Bild machen.

Während wir uns wiederum einen ureigenen (und etwas anderen) Contest schneidern, in dem es um genau nichts geht, außer um unsere gemeinsame Lust an der Freud. Küren wir halt das aushängigste Kürzesthörspiel des heurigen (hic) Weinherbsts! Mit einem vollen Radio ist laut stinken.Dazu Georg Trakls Wienverkostung:

“In Wien aber “strahlt” die Sonne am “heiteren” Himmel und die “weiche Melancholie” des Wienerwaldes ist auch nicht “ohne”. Beim Heurigen freut sich das “goldene” Herz und wenn dort die “schmachtenden Weisen” erklingen, so denke o Mensch daran, dass es bei den “wackeren Älplern” schneit und grimmig kalt ist. O! wie weh ist die Welt, wie wahnig das Weh, wie weltlich der Wahn.”