Peter Gabriel – i/o (das Album)

> Sondersendung: Artarium vom Sonntag, 10. MärzJa, da schau her, eine Doppelstunde. Warum denn das? Weil Peter Gabriel (nicht der evangelische Pfarrer aus Hallein) ein neues Album herausgebracht hat. Und das ist uns eine Betrachtung wert, die über das übliche Vorstellen und Abspielen desselben hinaus geht. Nicht, dass wir es nicht spielen würden – allerdings erst in der zweiten Stunde, nachdem wir zuvor einige inhaltliche Anregungen aus dem Gabriel’schen Gesamtwerk beleuchten wollen. Über das Album i/o selbst (das bei uns im Dark-Side-Mix stattfinden wird) ist eh schon allerhand Sinnvolles gesagt worden. Über seine eigenartige Entstehung lässt sich auch auf Wikipedia noch einiges erfahren. Dass Peter Gabriel uns sowohl im Artarium als auch bei der Nachtfahrt schon länger begleitet, dürfte bekannt sein.

Peter Gabriel i/o CoverDas erste, was uns aus dem neuen Album ins Auge sprang, war das KI-generierte Video zu “Panopticom”. Allein dieser Begriff und die dazu angestellten Überlegungen aus der wundersamen Welt im Kopf des Erfinders würden längere Studien erfordern. Die Ideen dahinter sind aus einer selbstermächtigenden Umkehrantwort auf jenes im 18. Jahrhundert von Jeremy Bentham erdachte “Panopticon” entstanden, das später als Grundkonzept für die Gefängnisarchitektur diente und als Urstruktur jedweder zentralisierter Überwachung gilt. Dass sich ein ausgewiesener Menschenrechtsaktivist wie Peter Gabriel, immerhin Mitbegründer von Organisationen wie Witness und The Elders, für die Umkehrung oder besser noch Auflösung unterdrückerischer Machtverhältnisse einsetzt, liegt auf der Hand. Dass er uns in seine vielschichtigen Überlegungen dazu, dahinter und noch darüber hinaus einlädt, das ist eine Herausforderung an unsere Phantasie – und erfordert eben ausführlichere “Studien” im Sinn eines Überwindens von überkommenen Vorstellungen, Denkstrukturen und Gefühlsgewohnheiten

Doch wie soll das gehen? Hier kommt die andere Seite von Peter Gabriel ins Spiel, die uns schon immer fasziniert und beeindruckt hat. Und hier tut sich eine mögliche Verbindung zwischen der Innenwelt jedes Einzelnen und der “Welt da draußen” mit all ihren scheinbar so unverrückbaren Gegebenheiten auf. “Sind es die falschen Geschichten, die wir uns kollektiv erzählen?” fragt sich der Biologe und Genetiker Johannes Vogel. Der selbst- und therapieerfahrene Musikkünstler Peter Gabriel hat sich in seinen Arbeiten immer wieder dort hinein versetzt, wo diese entstehen.

In der Psyche von Menschen in Extremsituationen wird deutlich, was da alles aus dem Abgrund des Unbewussten empor steigt, um uns entgegen aller Absichten “fernzusteuern”. Zum Beispiel “Intruder” (1980) oder “Mercy Street” (1986) oder auch “Darkness” (2002)immer wieder lebt sich Peter Gabriel als Protagonist innerseelischer Vorgänge dar, die mit seiner eigenen Gefühlswelt verbunden sind, und das spürt man auch. Jetzt führt er auf “Live and let live” einen neuen Begriff ein – “Forgiveness”, einen Schlüssel zur persönlichen wie auch kollektiven Befreiung.

 

Wie auch immer das gemeint sein sollte, wir wollen es uns genauer anschauen.

 

PS. Mitlesen macht schlau: Die Songtexte zum ganzen Album von Peter Gabriel.

 

Frieden ohne Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Februar — In unserer letzten Nachtfahrt über Verdrängungen (etwa bei 1:25:35) stellt Christopher Yevgeniy Breygers neues Buch “Frieden ohne Krieg” vor – und mir fährt die ganze seit zwei Jahren angestaute Wut über dieses tagtägliche Verbrechen namens “Ukrainekrieg” aus dem Gesicht. Kurze Zeit später ist auch mir klar, dass ich diesen Autor, der etwas in Worte gefasst hat, das ich so lange Zeit in mir gespürt habe und dabei nie sprachgedanklich zum Ausdruck bringen konnte, unbedingt livehaftig erleben will. Und so besuchten wir am Montag seinen feinerweise von prolit organisierten Auftritt im Literaturhaus, um den Menschen hinter den Gedichten kennen zu lernen. Was wir dabei erlebt haben – und wozu uns diese Begegnung inspiriert – davon erzählen, spielen und lesen wir heute.

Yevgeniy Breyger - Frieden ohne KriegDie doch recht plötzliche Bewusstwerdung der Tatsache, dass es nun schon zwei Jahre sind, seit wir erstmals vom ungezügelten Ausbruch der russischen Gewalt gegen die Ukraine sprachlos geworden sind, nötigt uns nachgerade zu einer neuerlichen Betrachtung unserer damaligen Reaktionen. Und zur Überlegung, auf welchen Weg wir uns seitdem gemacht haben, ja, wohin uns das alles inzwischen führt. Ich erinnere mich an unser fast schon verzweifeltes Festhalten am Werk einzelner Künstler aus den “betroffenen” Ländern, an das Herbeizitieren exemplarischer Reaktionen aus aller Welt, die wir als irgendwie “gegen den Strom” empfanden – und an einige Ausblicke hinter den “kyrillischen Vorhang”, die uns mit der Gefühlswelt der Menschen in Verbindung bringen sollten, von denen wir so viel hörten – und die wir doch so wenig verstehen. Da fällt mir die unlängst erst in einem Dokumentarfilm erläuterte дедовщина ein. Die russische Gesellschaft ist von dieser “Häfenhierarchie” schon so durchsetzt wie ein Brot von einem Schimmelpilz. Die Begrifflichkeit dieses Gewaltsystems kommt in deutschsprachigen Medien kaum jemals zur Erwähnung. Ob das vielleicht damit zusammen hängt, dass die allermeisten von uns nicht sehen, nicht spüren und auch lieber gar nicht wahrhaben wollen, von was für schädlichen Myzelen unsere eigenen Gesellschaften durchwuchert sind? Um bei der Pilzmetapher zu bleiben – wir sitzen alle im selben Brot. Das Brot ist voll.

Von Yevgeniy Breyger heißt es, in ihm seien zwei Persönlichkeiten zugange, eine traumatisierte und eine kindlich verspielte. Diese beiden Seiten seiner selbst derart in Balance zu bringen und auch zu halten, das macht die Faszination seiner Sprache als ein Unterwegssein zu sich selbst aus, dem man ohne abspaltende Verrenkungen des Geistes begleitend beiwohnen kann. In Frieden ohne Krieg tritt uns der Mensch hinter dieser Sprache als jemand entgegen, der sich entschlossen hat, auf dem Weg zu sich selbst zu bleiben, ohne Maskierung und künsltiche Pose, einfach offen …

“Frieden ohne Krieg” – das ist ein richtiger Denksprengstoff für die Gegenwart.

Danke.

 

Perlentauchen mit Tommy Tinte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. Februar Perlentauchen, das ist so eine Lebenshaltung, aus der viele unserer Sendungen entstehen. “Inmitten des Schlamms der Kulturgeschichte entdecken wir Wertvolles, das wir, wenn es uns gefällt, weiter verarbeiten und so dem geneigten Publikum darbieten.” Sogar eine ganze Sendereihe trägt den Begriff in ihrem Titel, nämlich die monatliche Nachtfahrt der Perlentaucher. “Finding places and things” ist eine unbewusste Schnupperarbeit, bei der man nie genau sagen kann, wie sie sich vollzieht. Nur, dass sich manchmal auch mitten in den widerlichsten Umständen, wie etwa in der Kloake des Spätkapitalismus, plötzlich und auf wundersame Weise der Vorhang ins Reich des Schöpferischen einen Spalt breit auftut und dadurch ein kostbares Kleinod der Phantasie zum Vorschein kommt.

Perlentauchen mit Tommy TinteZum Beispiel auf Facebook, das bei kritischeren Geistern längst Inbegriff des blödblökenden KI-gesteuerten Nachplapperns von gemachter Meinung oder sogar das Schattenreich der Filterblase ist. Mitten dahier gibt es allerdings Menschen, die quasi “gegen den Strom” unbeirrt ihre ganz eigene Welt erschaffen – und darstellen. Der von uns oft und gern gelesene Schriftsteller Peter Hodina wäre da zu nennen, der mit seinen Träumen und philosophischen Exkursen beinah täglich den Mahlstrom des Mainstream ad absurdum führt. Oder die Musikpädagogin Alrun Pacher, die uns feine Einblicke in die Sprach- und Gefühlswelt ihrer Musikkinder nehmen lässt. Und – “tätärätäää” – an diesem Fund wollen wir die heutige Sendung aufhängen – der deutsche Autor und Historiker Thomas Riechmann, der nicht nur im sozialen Medium als Tommy Tinte in Erscheinung tritt, uns dortselbst aber speziell mit seinen Bildern und Textminiaturen erfreut, von denen wir einige vorstellen werden.

Beim weiteren Perlentauchen (Google ist wirklich voller Schlamm) haben wir so eine “Zeitschrift trotz Philosophie” namens “Der Lichtwolf” gefunden, in deren Heft 54 “Extase” ein Artikel von Tommy Tinte mit dem Titel “Drei Gläser Wasser” auftaucht, im Inhaltsverzeichnis angeführt unter Philosophistik & Misosophie”. Darüber hinaus treibt es den Autor unter seinem bürgerlichen Namen in dem nicht ganz unbekannten Periodikum Die Zeit um. Tommy Tinte wiederum lebt auch als Ideengeber für Kinder. Wir wollen das Prinzip Perlentauchen in der Geschichte zum Artikelbild beleuchten:

Auftragsarbeit für ein Kinderzimmer. Gespräch mit dem betroffenen Kind:

Was soll ich malen?
Kind (im Bockigkeitsmodus): Grrr. Mal halt nen Tier.
Was für ein Tier?
Kind: Füsch.
Welche Art von Fisch?
Kind: Schrecklichkeitsscheißefüsch.
Ok (gesagt, gemalt)

Ist der Seeteufel der richtige Fisch für ein Kinderzimmer?
Darf man den Seeteufel freundlicher malen, als er in Wirklichkeit ist?
Verunsichert man Kinder mit ungeschminktem Realismus?

 

Navigating by the Stars

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. FebruarWir spielen heute das ganze Album “Navigating by the Stars” von Justin Sullivan, dem wir über die Jahre schon in vielerlei verschiedenen Facetten seines Schaffens begegnet sind. Zunächst einmal in seiner bekanntesten Erscheinungsform als Sänger und Texter von New Model Army oder im Anagramm ihrer selbst Raw Melody Men. Sodann auch gemeinsam mit Joolz Denby als Teil des Trios Red Sky Coven, das Musik mit Geschichten und Gedichten verknüpft. Und nicht zuletzt als genauso feinsinniger wie gefühlvoller Kulturkritiker, der uns bei generellen Gedanken zum Wesen des Zuhörens befruchtete. Also wenn sich jemand schon so oft und auf vielfältige Weise in unseren Sendungsthemen und Musikauswahlen bemerkbar gemacht hat – dann bitte auch sein erstes Soloalbum!

Justin Sullivan - Navigating by the StarsDoch einmal abgesehen von der reinen Vollständigkeit des lyrischen Kosmos gibt es ein paar weitere Gründe, weshalb wir Navigating by the Stars für höchst hörenswert erachten und es euch daher auch unbedingt ans Herz legen wollen. Ich zum Beispiel mag keine in die Jahre gekommenen Poseure, die wie ständig wiederauferstehende Folklorezombies eine einstmals eingeschlagene Stilrichtung zum Blödspaß und Kassengeklingel des Publikums bis zum Erbrechen wieder und wieder wiederholen. Das hört (und spürt) sich für mich an wie tagein tagaus das Immergleiche essen und dabei nicht einmal merken, dass es längst fad schmeckt. Justin Sullivan dagegen ist ein Künstler, dessen Gefühlswelt und Ausdrucksform sich seiner Lebenserfahrung gemäß verändert, ohne dass seine Person dabei nicht mehr zu erkennen wäre. Das ist durchaus etwas Erwähnenswertes in diesen Zeiten gestaltloser Beliebigkeit um des Geldes Marktes Erfolges willen. Ihn beschäftigen die Themen, die das Leben in seine Welt spült, mit zunehmendem Alter anders als früher und das hört man auch.

Schon auf früheren Alben von New Model Army finden sich einige ruhige, nach innen gekehrte Balladen, die von Endlichkeit und Verwandlung erzählen, wie zum Beispiel das zutiefst berührende “Marrakesh”. Oder das ganz stille Lied “Nothing Touches”, in dem eine zunehmende Gefühllosigkeit und das gleichzeitig vorhandene Bedürfnis nach unmittelbarer Berührung dargestellt werden. Jetzt zum Vergleich “Sentry” aus Navigating by the Stars, das die andauernde Ambivalenz von einerseits Sinnsuche und andererseits Zusammenhanglosigkeit in Gestalt des einsamen Soldaten zeigt:

I’ve seen so much more than I wanted to see
The flies all swarming round in the blistering heat
Layer upon layer here of the same old curse
The red blood draining until the blood red earth
In the end we tell the stories just the same
And only the names are changed

Dass wir mit diesen Gefühlen nicht am Grund des Abgrunds aufschlagen (und gibt es in der Bodenlosigkeit überhaupt so etwas), das vermittelt uns auf vielfältige Weise (im Text, in der Musik, in der Stimmung, im Arrangement) das in unseren Augen und Ohren Meisterstück dieses Albums “Green”. Eine eindrucksvolle Beschreibung des Übergangs von einer Welt in die nächste, von einer Gefühlsbefindlichkeit in die Erweiterung derselben und von einem Bewusstseinszustand in einen anderen (um hier nur einige zu nennen). Nie war Fliegen beim Zuhören selbstverständlicher

Tonight again I′ll dream I’m walking across the room in the moonlight
I′ll throw the windows open wide
Smell the falling dew outside
I’ll climb out onto the roof
Close my eyes
And I’ll begin to fly

 

Leoparden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. Januar – Warum eröffne ich die heutige Sendung mit einem Joseph-Goebbels-Zitat? Wo es doch eigentlich um mein ganz persönliches Begleitwesen gehen soll – den Leoparden. Das hat viel mit dessen Vielgestaltigkeit in meinem Leben zu tun, taucht er oder sie (und manchmal sind es auch viele) doch oft als Beschützer, als Weggefährte, als Ideenspenderund als zutiefst beruhigende Erinnerung an meine Lebendigkeit auf. Meine ursprüngliche Wesensart, die jahrzehntelang unter traumatischen Verrenkungen verschüttet vor sich hin schwelte, in der zugemüllten Umgebung von Familienangehörigen, die durch ihren Glauben an den Nazischwachsinn geradezu lebensgefährlich waren für jedes lebenwollende Kind (wie ich eines war – und nach wie vor bin). So reimt sich das

Panther sind eben auch LeopardenDer Panther, den Rilke in seinem Gedicht so meisterlich beschreibt, ist übrigens ebenfalls ein Leopard. Das wusste ich mit ungefähr sieben Jahren noch nicht. Damals verliebte ich mich in einen der 3 Jungs aus der Comicserie Roy Tiger, nämlich Khamar, der mit seinem Begleittier Sheeta (einem schwarzen Panther) nicht nur irgendwie kommunizieren konnte, sondern von ihm sogar aus realen Gefahren gerettet wurde. Sowas wollte ich auch, und zwar dermaßen, dass ich mir von meiner Mutter zu Ostern nichts anderes wünschte, als eine Begegnung mit diesem Typen, egal ob in Salzburg oder in Indien. Ihre Antwort war niederschmetternd und versetzte mein Verständnis von Phantasie und Realität (und ihr sich wechselseitig bedingendes Verhältnis) für lange Zeit in einen unlösbaren Konflikt. Ich erhielt am Ostermorgen einen Brief von Khamar, allerdings in ihrer Handschrift, die ich sogleich erkannte. Das allein schon war eine Beleidigung.

Der Inhalt des Briefs jedoch zerstörte meine Welt. Mein Angebeteter teilte mir darin mit, dass ein Treffen mit mir unmöglich sei, und zwar mit folgender Begründung: “Mich gibt es nur in deiner Phantasie, nicht aber in der Wirklichkeit.” In der Handschrift meiner Mutter wohlgemerkt. Damals verließ ich sie innerlich für immer und kam auch später nur noch in manchen Bestandteilen wieder zu ihr zurück, soweit dies für mein Überleben eben notwendig war. Heute zerknurren mir meine Leoparden diese Angst, die mich so lang davon abgelenkt hat, mich selbst wieder als Ganzes zu erleben.

Was das jetzt wiederum mit Wolfgang Niedecken zu tun hat? Einmal abgesehen von den Leoparden-Assoziationen, die sein meisterliches Bob-Dylan-auf-Kölsch-Album “Leopardefell” bei mir hervorruft, ist er ein Bruder im Geist, was das Verbearbeiten von traumatischem “Nicht-mehr-miteinander-reden-können” oder “Einander-nicht-mehr-erreichen” anbelangt. In seiner Autobiographie “Für ’ne Moment” beschreibt er beeindruckend, wie schleichend das Schweigen zwischen ihm und seinem Vater ausbricht. Bei “Diskretion” aber beginnt jemand in mir erkennend zu schnuppern

Verdammp lang her   …   Den Text von BAP auf Kölsch und Hochdeutsch gibts hier.

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

תיקון עולם

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. DezemberTikun Olam, was etwa soviel bedeutet wie “die Welt reparieren”, ist mein neuer Lieblingsbegriff. Und weil er aus der jüdischen Kultur kommt, ist das auch die Gelegenheit, einen Titel in hebräischer Schrift zu verwenden. Dies allerdings liksbündig:                                           תיקון עולם    Und ab da wirds anspruchsvoll. Wir reparieren uns eine Welt oder Wilkommen beim Gehirnhälftentraining. Der Begriff Tikun Olam vermittelt nämlich ein weites Spektrum an Bedeutungen, und da sollte man schon selbst ein bisserl auf die Suche gehenWir verdichten das, was wir dabei empfinden, in ein nach vielen Seiten mögliches Jahresmotto, mit dem wir zudem noch ein Statement zum Wert des Judentums für unsere eigene Kulturwahrnehmung verknüpfen. Womöglich auch eine Geschichte.

תיקון עולם (Tikkun Olam)Als ich 10 Jahre alt war, lebte ich eine Zeit lang in den USA und besuchte dort auch die Schule sowie in den Ferien das übliche Summercamp. Eines Tages betraten einige Mitkinder, die sich zu einer Art “Gang” zusammengeballt hatten, unsere Hütte, beschimpften mich als “Kraut” oder eben “Scheißnazi” und wollten mir in den Koffer brunzen. Denen stellte sich David, ein kleiner jüdischer Bub, entgegen. Und indem er sagte, dass ich sein Freund sei und er mich beschützen würde, stellten sich immer mehr andere Kids mit ihm auf meine Seite, so dass die Möchtegernmobster schließlich kleinlaut wieder abgehaut sind. Versteht ihr? Der kleine David hat mir die Welt repariert. Und diese Lichtgeschichte ist mehr als nur eine Randnotiz. Sie ist das Evangelium schlechthin (wenn wir einen Begriff wie “Gute Neuigkeit” wirklich erfassen und jeden Menschen als möglichen Erlöser – für sich selbst wie auch für andere – verstehen wollen). Und das tun wir. Weihnachten hin, Wintersonnwend her. Die Ironie der Geschichte oder der diese Geschichte erst so richtig abrundende Treppenwitz des Universums ist ja, dass ich erst 50 Jahre später die Naziverstrickungen meiner Vorfahren entdeckte. Und genau da taucht dieses תיקון עולם als ein übergreifendes Lebensmotto wieder auf.

Apropos Weihnachten, wie habt ihr das diesmal so erlebt? Schön schrecklich oder eher schrecklich schön? Mich quält ja gerade zu dieser Jahreszeit der inflationäre Gebrauch von Weihnachtsklischees für die vorgebliche “Normalbevölkerung” im Fernsehprogramm. Weihnachtsbezogene “Unterhaltung für die ganze Familie” ist für mich, bei allem Verständnis für die Lebenssituation einzelner Menschen, eine fortwährende Beleidigung meines Geistes. Und da hat mir heuer – mittendrin – der löbliche Fernsehsender arte “die Welt repariert”. Mit dem Film “Der Schneeleopard”.

In diesem Sinn wünschen wir es uns allen.                                              תיקון עולם

 

Gedichte durch die Dunkelheit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. DezemberRobert Gwisdek (auch als Käpt’n Peng bekannt) sagt in einem Interview: “Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen. Nicht, dass es einem hilft, dass man eines hört. Aber es kann einem helfen, eines zu schreiben.” Dies charakterisiert auch das Verhältnis von Dichtung und Dunkelheit im Leben jener beider Lyrikerinnen, denen wir uns heute zuwenden wollen. Christine Lavant und Hilde Domin haben auf verschiedene Weise sowohl persönliche Schicksalschläge als auch “die dunkelste Zeit unserer Geschichte” überstanden – und die dabei erlebte Dunkelheit hat ihre Gedichte geprägt. Eben dadurch üben sie eine ganz besondere Kraft auf uns aus.

Gedichte durch die DunkelheitChristine Lavant litt schon seit frühester Kindheit an schweren Krankheiten und bekam deshalb kaum nennenswerte Schulbildung mit auf ihren zähen Lebensweg, der immer auch ein Leidensweg war. Nichtsdestotrotz begann sie schon bald, inspiriert von Rainer Maria Rilke, selbst zu schreiben. Die Zeit des Nationalsozialismus, die für sie als chronisch kranke und an Depressionen leidende Frau im höchsten Maß lebensgefährlich war (durch die damals beschönigend “Euthanasie” genannte “Vernichtung unwerten Lebens”), überstand sie in radikalem Rückzug und empfand sich dabei als “zu völliger innerlicher Stummheit verurteilt”. Nach Ende des (heute beschönigend “Zweiter Weltkrieg” genannten) allgemeinen Vernichtungswahnsinns brach das Dichten nachgerade “aus allen Rändern” aus ihr heraus. Bestimmt nicht zufällig enthält ein Kindereuthanasie-Mahnmal in Leipzig diese ersten zwei Zeilen:

Das ist die Wiese Zittergras
und das der Weg Lebwohl,
dort haust der Hase Immerfraß
im roten Blumenkohl.

Die Rosenkugel Lügnichtso
fällt auf das Lilienschwert,
das Herzstillkräutlein Nirgendwo
wird überall begehrt.

Der Hahnenkamm geht durch den Tau,
das Katzensilber gleißt,
drin spiegelt sich die Nebelfrau,
die ihr Gewand zerreißt.

Der Mohnkopf schläfert alle ein,
bloß nicht das Zittergras,
das muss für alle ängstlich sein,
auch für ein Herz aus Glas.

Hilde Domin hingegen besuchte ein Mädchengymnasium und studierte anschließend Rechts-, Sozial- und Staatswissenschaften, bevor sie “in allerletzter Minute” über England in die Dominikanische Republik fliehen konnte (sie wäre sonst im Deutschen Reich zur Vernichtung als Jüdin vorgesehen gewesen). Schon im Jahr 1930 hatte sie “Mein Kampf” gelesen und war dadurch zur Überzeugung gelangt, “dass Hitler das, was er da geschrieben hatte, auch ausführen würde”. Sie begann erst mit Ende 30 im Exil zu schreiben, “als Alternative zum Selbstmord”, wie sie es später einmal sagte. Ihre Gedichte sind durch die Unsicherheit der zerbrechlichen Existenz inmitten von unvorhersehbaren Ereignissen geprägt und ringen dabei auf beeindruckende Weise um ein nächstes Vertrauen, das irgendwo unter, hinter, neben dem Zerstörten ist.

“Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.”

 

The Blue Notebooks

> Sendung – Artarium vom Sonntag, 10. Dezember – Heute stellen wir euch, ganz passend zur Jahreszeit, eine etwas sehr andere Musikwelt vor. Und zwar in Gestalt des ersten Albums, das Max Richter bei FatCat Records veröffentlicht hat. Warum wir ihn und seine Kompositionen als “etwas sehr anders” beschreiben, mag diese kleine Geschichte beleuchten: “Ich schickte FatCat mein Demo unter anderem, weil ich das erste Album von Sigur Rós gehört hatte, und es klang für mich wie Arvo Pärt mit Gitarren. Ich wusste also, ich würde dort gut aufgehoben sein.” Dabei handelt es sich um “The Blue Notebooks” (2004), dessen Entstehung von den Tagebüchern von Franz Kafka inspiriert ist, zu denen auch Denis Scheck Bemerkenswertes mitteilt. Eine Musikwelt, die eine starke Wirkung auf uns entfaltet, und darum geht es auch.

Max Richter - The Blue NotebooksIn dieser vordergründig klassisch anmutenden Orchestermusik sind vielfältige Einflüsse mit durchaus modernen Produktionstechniken zu einem Gesamtklangraum von hochwirksamer Qualität verbunden worden, der weit jenseits jedweder Vorstellung oder Erwartbarkeit im Bereich des noch nicht Gestalteten ansetzt. Eine bewegende Berührung im Ursuppentopf der Phantasie, aus dem beim Zuhören, eigentlich beim sich darauf einlassen und in eigene Schwingungen geraten, etwas “Neues” entstehen kann, und zwar in dem Sinn, dass man dieses womöglich schon länger in sich trägt, ihm jedoch bislang noch keine entsprechende Gestalt verliehen hat. Als ob auf geheimnisvolle Weise etwas von dem unbewussten Wissen, das in uns vor sich hin “schlummert”, dazu aufgerufen würde, sich endlich einmal unübersehbar auszuwirken. Was macht der Mann da mit uns? Passiert ihm das einfach – oder hat er eine Ahnung davon, was er da bewirkt? Dazu könnten wir auf den Titel “On the Nature of Daylight” eingehen, der inzwischen vielfach übernommen, verbearbeitet und wiederveröffentlicht wurde.

“What I wanted to try and do was to try and create something which had a sense of luminosity and brightness, but made from the darkest possible materials. So it’s almost like an alchemical, transmuting-base-metal-into-gold, process.” So beschreibt Max Richter die Arbeit mit diesem Stück in einem Interview. Und das erhellt sowohl seine Arbeits- als auch die Wirkweise seiner Musik. Hier ist offenbar kein oberflächlicher Reizbefriedigungskasperl aus der Werbungswundertütenwelt zugange – nein, hier erkennen wir Tiefgang sowie ein menschliches Verstehen von Zusammenhängen.

The Blue Notebooks …

 

Schöner sterben

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. NovemberZwischen Allerseelen und Totensonntag, während sich die Natur um uns her in den großen Winterschlaf hüllt, steigt die Ahnung der Endlichkeit aus den Nebeln des Nichtwissenwollens. Und sie macht sich bewusst bemerkbar: Wir werden alle sterben, soviel steht fest. Fragt sich nur, wie … Schon seit der Antike verfolgten Philosophen die Frage nach einem guten Tod auf höchst unterschiedliche Weise, und manche kamen dabei zu der Ansicht, der beste Tod sei ein plötzlicher – der einen unerwartet und jäh aus dem Leben reißt. Schwuppdiwupp sozusagen. Die Vorstellung hat durchaus etwas sympathisches, wie einige unserer Geschichten zeigen werden. Sterben als ein Hoppala sozusagen – ausrutschen, hinfallen, tot sein. “Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.”

Schöner sterbenSo etwa ist Thomas Bernhard immer wieder zitiert worden. Und er ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich das alltägliche Innesein des eigenen Todes im Leben auswirken kann. Es interessiert uns nämlich, wie eine Kultur des selbstverständlichen Miteinbeziehens von Sterblichkeit und Tod in all das, was wir als “unser Leben” begreifen, gelingen könnte. Denn zur Zeit “leben” wir in einer Kultur der größtmöglichen Trennung von Leben und Sterben. Der Tod wurde aus unserem Leben verbannt und findet nur noch hinter Mauern und Zäunen, in Krankenhäusern, im Hospiz oder auf dem Friedhof statt. Demnächst wird er einen Antrag stellen müssen, wenn er in unser Bewusstsein einreisen und uns begegnen möchte. Hallo? Der Tod ist doch von vorn herein Teil unseres Lebens oder haben wir das völlig falsch verstanden? “Mein Herz schlägt mich innerlich tot” singt das trojanische Pferd und fängt auch schon an, in genau dem Rhythmus zu tanzen, der das Leben bewirkt und zugleich das Sterben einzählt. Wir stellen den Kontrast von Licht und Schatten wieder her – in einer kleinen Collage aus plötzlichen Abgängen und jüdischem Humor. Wenn zwei verschiedene Dimensionen einander unerwartet begegnen, dann ist es ein Witz.

Wie etwa der gar nicht unspektakuläre und nichtsdestoweniger tragische Abgang von René Goscinny, der bei einer kardiologischen Untersuchung einen Herzinfarkt hatte und dabei quasi tot vom Ergometer fiel. Eine für einen jüdischen Humoristen nicht unwitzige Schlusspointe. Die Kultreihe Asterix war jedoch nach Ansicht einiger Zeitgenossen danach nie mehr so witzig, so dicht und so prophetisch wie zu seinen Lebzeiten. Uns bleiben seine genialen Einfälle: “Ich hab nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier.”

Ich bin Spartacus