Ein Kind ist kein Kübel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. JuniIst das nicht eine seltsame Vorstellung, ein Kind als eine Art leeres Gefäß zu begreifen, das man mit allerlei “Bildung” befüllen müsse, damit es als Erwachsener “richtig” funktioniert? Eine sehr einseitige Sichtweise. Denn wiewohl jedes Menschenkind im Verlauf seiner Entwicklung die unterschiedlichsten Künste erlernen kann, um später einmal gutes Essen zuzubereiten (um hier nur ein Beispiel zu nennen), so ist doch das Vollstopfen mit den unerfüllten Wünschen seiner Vorfahren gelinde gesagt grober Missbrauch. Ein Kind nimmt von Anfang an alles wahr, was da ist. Damit umzugehen lernt es ein Leben lang. Es irgendwie “abrichten” zu wollen, auf dass es willenlos “gehorcht”, das entlarvt vor allem die Absicht seiner “Erziehenden”, es “besitzen” zu wollen.

Ein Kind ist kein Kübel Hubert von Goisern erzählt von einer Fronleichnamsprozession auf dem Hallstätter See, zu der er mit seinen Kindern zusammen in einem Boot hinfuhr. Plötzlich wendete sich die Aufmerksamkeit der Leute auf den “berühmten” Musiker und es wurde ihm so unangenehm, dass er sich lieber wieder zurückgezogen hätte. Sein Sohn hingegen, der das Geschehen gern weiter beobachten wollte, schrie den Vater im Verlauf des nun folgenden Interessenskonflikts lauthals an: “Du wolltest doch immer berühmt sein, und jetzt ist dir das auch nicht recht!” Diese so gnadenlos offen zum Ausdruck gebrachte und, wie er sagt kompromisslose Wahrheit (die ihm zunächst einfach nur peinlich war), versteht Hubert von Goisern mittlerweile als wesentlichen Beitrag zu seiner eigenen Lebendigkeit. Als “Mitteilung”, die ihn zugleich auf dem Boden der Tatsachen hält und eben auch befreit, bereichert und zu neuen Einsichten inspiriert. Erlösende Selbsterkenntnis aus dem Mund eines Kindes kann die Welt verwandeln.

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn es uns überraschend aus dem Schatten heraus anfällt und uns das vernichtende Urteil “nicht mit uns selbst überein zu stimmen” ins Gesicht schmeißt? Halten wir dem stand? Halten wir das aus? Wofür halten wir uns? Unsere Kinder (und damit sind auch unsere inneren gemeint) haben das Recht, zornig zu sein, verzweifelt, wütend und kompliziert. Und wir haben genau zwei Möglichkeiten: Kommen wir in Bewegung oder erstarren wir vor Angst. Entwickeln wir uns weiter oder verharren wir im erreichten Stillstand. Es gibt wirklich nur zwei Richtungen. Zum Leben – oder zum Tod. Solang wir aber leben, warum sollten wir dem, was unsere Zukunft ist, den Tod auferlegen, den wir selbst verdrängen, etwa weil wir ihn nicht wahrhaben wollen? Vielleicht ist ja “das vernichtende Urteil”, das da in uns steckt und das unsere Kinder unbefangener ausdrücken können als wir selbst, ein “vermeintlich vernichtendes” und wir sind verfangen in einem Gespinst aus falschen Vorstellungen vom Leben?

Ein Kind ist kein KübelUnd wenn diese Vorstellungen in uns zusammenbrechen, wenn “die Welt, wie wir sie kennen” plötzlich aufhört zu existieren – was dann? Können wir scheitern? Können wir danach, damit weiter leben? Arno Gruen übersetzt aus John Colliers 1947 erschienenem Buch Indians of the Americas: “Der Indianer hatte das Ziel, ein volles Leben – trotz materieller Not – zu haben – und dies aus einer tiefen Unsicherheit heraus, welche er in seiner Weisheit gar nicht aufgeben wollte. Diese Unsicherheit wohnte nicht im Inneren seiner Seele oder in seinem gesellschaftlichen Leben. Sie entstand durch Kriege, Stürme und Krankheiten. Seine Bräuche und der kreative Umgang halfen ihm, äußere Unsicherheit in einen Zustand nach innen gerichteter Sicherheit zu verwandeln. Die weißen Invasoren kamen, es gab Krieg und die Unsicherheiten der Indianer nahmen zu. Aber ihr Gleichmut brach nie zusammen.

Freunde … das Leben ist lebenswert

 

Far more in common

> Sendungen: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. April“We have far more in common than that which divides us.” (Zitat von Jo Cox) Ich kann mir ja auch nie sicher sein, ob man rinks und lechts wirklich so schwel velwechsern kann – und ob das da auf dem Bild noch ein Baum ist oder schon ein Witz, den diese Stadt über sich selbst erzählt. Wir wagen einen Versuch wie immer mit kontrastierender Musik und kontroversen Texten, doch ohne ­“Moral von der Geschicht”. Die ist und bleibt ein offenes Ende und der eigenen Phantasie überlassen. Das Schöpferische in uns will nämlich zur Geltung kommen und soll dabei schön zweckfrei bleiben dürfen! Es geht ums Herzeigen und ums Verstecken, aber gleichzeitig und ausgewogen. Da kann ich mich verbinden ohne zu verschwinden. Das beglückt und schmerzt zugleich.

Far more in common (Hase 1)Ich liege nackt auf dem nassen Boden. Über mir flimmert goldenes Licht. Blätter fallen auf meine Haut – ein Atemhauch vergangener Träume. Ich spüre die Stille um mich herum und nehme sie an. Ich umarme die langsame Ruhe, das Schreien der Vögel, das Surren der Insekten, die Fühler der Ameisen. Ich bleibe liegen. Warte auf etwas, ohne zu wissen auf was. Ich weiß nur es wird kommen … Vom Wesen des Hasen inspiriert zu einem friedvolleren und gewaltfreieren Menschendasein – auf einer Welt voller Verbrecher und folgsamer Idioten. Gefängnis fürs bloße Äußern der eigenen Meinung. Majestätsbeleidigung! Zugegeben, die real existierenden Nazis waren viel brutaler – der geistige Stoff aber, aus dem ihre Terrorherrschaft bestand, war schon längst vorhanden (er ist es immer noch): Obrigkeitsglaube, Gehorsamkeit und gewissenloses Nachplappern der vorgeschriebenen Parolen (jetzt denkt mal selbst, welche das heutzutage sind). Willkommen im Zwischen und auch hinter den Zeilen!

Far more in common (Hase 2)Denn dieser Text besteht fast ausschließlich aus Ausschnitten unserer begleitenden Artikel aus 12 Jahren gemeinsamer Kunnst. Und die Auswahl der einzelnen Passagen wie auch die Zusammenstellung erfolgt möglichst spontan, unter Umgehung der bewussten Kontrolle und Berechnung – soweit nur irgend möglich, wenn man einen Artikel zu einer Sendung verfasst. Könnten nicht noch spannendere Einblicke ins üblicherweise Unerkannte, Unerforschte, Unaussprechbare zum Vorschein kommen, wenn man Bücher an einer völlig beliebigen Stelle aufschlüge, das so Gefundene daraus vorläse – und sich auf diese Weise eine noch nie zuvor gefundene Geschichte – erzählte? Eine Technik, die wir aus dem uralten Brauch des “Bibelstechens” ableiten und die wir heute als “erweitertes Bücherstechen” bezeichnen – und auch anwenden wollen. Es macht nämlich großen Spaß, das zu ergründen, was da in und um uns wirksam und immer vorhanden ist und was wir gemeinhin nicht bewusst wahrnehmen oder erkennen können. Nicht, dass wir dem, was sich da ereignet, einen Namen geben oder sonstwie eine Definition überstülpen müssten. Nein, es mag, wie wirklich es auch immer sei, im Unverfügbaren verbleiben – und uns auf seine Art begegnen.

Far more in common (Hase 3)… zurück zur Versenkung in den Abgrund des Endlichen und zu der restlos unguten Stimmung, die beim Betrachten der eigenen Ausweglosigkeit aufkommt. Noch dazu inmitten einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Betrügern und Berserkern zugrunde gerichtet wird, dass es nur so kracht. Wie heilsam wäre in dieser Situation ein herzhaftes Lachenkönnen und das Gefühl, sich mit Sprachwitz und Verstand zumindest gegen ein paar Erscheinungsformen der allumbrodelnden Verblödungsindustrie eloquent zur Wehr zu setzen. Wer klopfet an? Asylsuchende Assoziationen auf ihrer Fluchtfahrt durch die Dunkelheit ans Licht. Die etwas andere Betrachtungsweise der uns interpretiert überlieferten Geschichte(n). Gruslig schön lustig und freischwebend. Frohgemute Verwurstung von Kulturstrandgut entgegen jeglicher Marktlogik. Keine Ahnung, was sich daraus dann im Verlauf der Sendung ergeben wird, aber irgendeinen dramaturgischen roten Faden braucht es immer …

Wir sind ein geiles Institut.

 

Rolle seitwärts

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 13. Januar – Es geht wieder aufwärts. Die Nacht der Nächte ist vorüber. Welche das jetzt genau ist? Geh, bitte! Auf jeden Fall tauchen wir wieder auf und stellen zufrieden fest, dass der Sender noch funktioniert. Mitunter ist es ausgesprochen hilfreich, eine Rolle seitwärts zu vollführen, um dem Zerquetschtwerden zu entgehen. Oder dem Zerquatschtwerden durch das Dauergeplärr und Geklingel aus verheimlichter Absicht. In der Mitte unseres Lebens (des weiten Landes, das wir gern wieder selbst in Besitz nehmen möchten) steht ein riesiger Sendeturm, aus dessen Lautsprechern unaufhörlich Anweisungen dringen, wie wir gefälligst angepasst zu funktionieren haben, weil sonst… Doch in dem Turm ist nichts weiter als ein verstaubtes Abspielgerät. Das ist aber tatsächlich unerhört!

Rolle seitwärts - ein Kind im KopfDa mag die Weltherrschaft uns niederzwingen mit Ukrainekrieg und Fernsehwerbung (beides brutale Gewalt), gegen das Kind im Kopf ist kein Kraut gewachsen. Und wenn es wieder einmal seitwärts aus dem Dickicht der Depression aussteigt, sich auf die nächstbeste Erhebung setzt und uns einladend anlacht – dann kann es uns dazu verhelfen, alles ganz anders, ganz uralt und neu zugleich zu betrachten. Denn das bin ja ich selbst. Grüß mich! Wie schön, dass ich mich wieder mal treff. Ich hab mich schon fast vergessen. Aber es gibt mich noch. Und auch die anderen. Die ganz anderen sogar. Die Queraussteiger aus dem Programm der Zugrundenutzung. Die Funkrelaisstation und die trianguläre Peilung sind eben auch auf die menschliche Kommunikation anwendbar. Insbesonders auf die mit sich selbst. Oder wie willst du dich selbst erkennen ohne innere Distanz oder ohne dabei verschiedene Blickwinkel einzunehmen? Alles eine Frage der Perspektive, fragen sie ihren Martin Buber oder…

Rolle seitwärts - ein SchlumpfMichael Köhlmeier! Ich gebe zu, dass mich das Eintauchen in sein Hörbuch “Matou” geradezu durch die dunkelsten Nächte hindurch gerettet hat. So viele Wandlungen, Verwandlungen, Zeitwechsel und -sprünge, Positionsänderungen und Assoziationen, wie er dabei vollführt, das ist atemlosmachend, verführerisch, inspirierendund zu allen erdenklichen Abenteuern im wahrsten Sinn mitreißend. Der geniale Kunstkniff ist der lesende, der schreibende, der vor sich hin sinnierende und erzählende Kater! Er schreibt heftig… schwach… schwelgerisch… und kommt dabei zu keinem Ende (schließlich hat er ja sieben Leben) oder zugleich zu hunderttausenden (denn soviele Fäden hat sein Erzählgewebe aus fliegendem Teppich und Philosophie), letztendlich aber doch zu einem (wir müssen alle sterben), das vielleicht gar nicht das Ende ist (weil auch die Vollendung des siebten Kreises zu einem großen Kreis wiederum nichts anderes ist als der Beginn eines weiteren, noch größeren Kreises, in dem die anderen dann enthalten sein werden, was wir aber jetzt und von hier aus nicht sehen können).

Rolle seitwärts - einer ist zufriedenEin Geschichtenerzähltiger und Mythenmetzreaktor, dem wir uns schon in einem Artarium auf die Fährte gesetzt haben. Gefährten des Lebens trotz Lebensgefahr! Woraus seine inneren Brennstäbe bestehen, das zu ergründen und zu erklären interessiert hier nicht. Das begreift man entweder eh – oder lass es! Denkprozesse, die nicht rechtshemisphärisch dominiert ablaufen, sind mir zu flach und zu langweiligeine Befehlszeile nach der nächsten, ohne erkennbaren Gefühlsanteil. Menschenleute, die sich wie Roboter (nicht) anfühlen und dabei dreinschauen wie semantische Leerzeichen, mit denen das Nichts dazwischen kaschiert werden soll. Entkernte Seelen auf dem Weg ins Nirgendwo warten auf die nächste Anweisung und schlagen ihre viel zu lange Lebenszeit mit abgestandenem Entertainment tot. Oder in Ermangelung von Irgendwas halt stellvertretend das nächstbeste Leben. Maschinen mit Emotionen. Künstliche Intelligenz? Dass ich nicht lache, liebes Kind!

Es sind schon ganz andere beiseitegetreten (worden).

 

Kunst die Welt retten?

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. JuniEine alte Weisheit aus dem Talmud besagt: “Wer ein Leben rettet, der rettet die ganze Welt.” Und es ist wohl nicht schwer vorzustellen, wie angenehm es sich leben ließe in einer Welt, die ringsum von lauter Beschützenden und Lebensrettern bevölkert ist. In einer Welt, in der “das Lebendige” allgemein als “der höchste Wert” angesehen wird – und in der mit jeglichem Leben achtsam, pfleglich und respektvoll umgegangen wird. Mit unser aller wie mit dem der gesamten Natur, deren unabtrennbarer Teil wir nun einmal sind. Was könnte Kunst dazu beitragen oder “Kunnst die Welt retten?” – in diesen Zeiten voller Kriegswahnsinn, Klimakrisen, Konsumkolionalismus und Coronaviren? Wir machen eine Sendung über Gedichte weil wir glauben “Poesie kann Leben retten.

Kunst die Welt retten?“Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch.”

Theodor W. Adorno

“Man kann Dichter sein, ohne auch irgendjemals ein Wort geschrieben oder gesprochen zu haben.”

H. C. Artmann

“Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen.”

Robert Gwisdek aka Käptn Peng

“Wir sitzen im Publikum, reglos. Stille saust, wie die Kugel, die uns verfehlt hat – ”

Ilya Kaminsky

Kunst die Welt retten?Poesie, das sorgfältig überlegte Auswählen und Zusammenstellen von verschiedenen Elementen zu einem größeren Ganzen, um damit etwas zu verdeutlichen, kann zu einer Insel der Zuflucht werden, wenn um uns her ein Meer aus Mehrwert und Mehrdeutigkeit tobt. Wenn aus nicht einsehbaren Gründen seine Wut der Vernichtung über uns herein bricht, wenn der stille Sog des Verzweifelns uns nach innen zieht in ein haltloses Nichts und wir Schiffbruch erleiden mit all unserem bisher als sicher Geglaubten. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lässt sich eben auch so begreifen, dass das Gerettetwerden aus höchster Not genauso zu unserer Natur gehört wie das Retten. Dann heißt es nicht nur “Sei barmherzig zum Anderen und hilf!”, sondern auch: “Sei barmherzig zu dir und wisse, dass du Hilfe brauchst.” Beides stimmt (je nachdem, wer da in welcher Situation angesprochen wird), weil es auf das Menschseins an sich zutrifft. So wie: „Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken. Das Gefühl des Schiffbruchs, da es die Wahrheit des Lebens ist, bedeutet schon die Rettung. Und darum glaube ich einzig an die Gedanken Scheiternder.“    José Ortega y Gasset

Kunst die Welt retten?Da trifft es sich trefflich, dass der uns benachbarte Skulpturenpark schon bald neu gestaltet sein wird (am 11. Juni wird seine Neueröffnung sein). Unter anderem mit einer Installation von Lea Anders (Einkleidung), die den Umgang des Menschen mit der Natur hinterfragt. Was kann Kunst? Nun, einerseits die besagte Insel (also Rettung) für Kunstschaffende selbst sein, anderseits in Resonanz treten mit anderen Menschen, deren Gefühle und Gedanken berühren, zum Schwingen bringen sowie ihr Leben an die eigene Lebendigkeit erinnern. Das müsste Rettung genug sein – medizinisch nennt man derlei Wiederbelebung. Ein Mensch gerettet (oft sogar mehrere) vor dem inneren Verfall des Unberührtseins und dem damit einhergehenden Herumschlurfen als ein irgendwie lebloses Programm. Dem aufs Funktionieren ausgerichteten Abrichten von Menschenkindern (das für uns nichts anderes als eine institutionell organisierte Lebendigkeitsaustreibung bedeutet) treten wir mit unserer Poesie entgegen. Kunnst!

Wir brauchen eine poetische Revolution …

 

Kategorischer Aperitiv

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. April – Hallo, ihr Menschen! Wir sinds, eure Gefühle. Wir sind viele. Wir sind ambivalent, mehrdeutig, rätselhaft. Und wir sind widersprüchlich – wie die Weltlage und das Wetter im April. Die Angst vor dem Untergang klopft an unser Bewusstsein – und draußen wird es Frühling wie jedes Jahr. Der Gaspreis steigt, die Börsen wackeln, alles wird teurer – und zugleich schenkt sich die Natur Bärlauch und Blumen wie immer. Ökozid oder Atomkrieg – wie hätten sie es denn gern? Und Pandemie, Hungersnot, Gewaltherrschaft stehen auch weiterhin zur Auswahl. Auswahl? Dass wir nicht lachen! Lachen ist Selbstschutz angesichts des Schreckens. Frühling ist der Aperitiv des Jahres. Bienchen kichern, Blümchen nicken – und die Hasen lachen sich eins. Aperil, Aperol, Schpritzmajim!

Aperitiv AperilEinerseits liegt ein zunehmendes Gefühl von Ohnmacht wie ein alles zersetzender Frustfrost auf unserer Seelenlandschaft. “Da kann man ja eh nichts dagagen machen.” Allzu ausgeliefert an die Erfahrung des eigenen Fremdbestimmtseins von der Kindheit bis noch ins Sterbeheim funktionieren wir wie Automaten vor uns (und den anderen) hin (und her). Aller Triebe beraubt erschauern wir auch im machtkalten Winterwind. Andererseits fühlen wir schon so etwas wie Hoffnung in uns aufsteigen. Spüren wir warm umfangend so etwas wie Ganzheit – in uns und der Welt. Etwas, das alle mit dem anderen verbindet – und mit uns selbst. Etwas, das die Zeit aufhebt und uns den Eindruck einer Ewigkeit erweckt. Lebendig sein und auch sinnvoll verbunden mit allem, was da war, ist, sein wird. Nur nicht mit dem, was sinnlos fragmentiert als Trümmersturm, Steinhagel, Bröselbrei schmerzbrennend voll durch unsere Zweige bricht und unsere feinsten Sinne, unseren Saft, unser Myzel des Lebens verstopft.

Aperitiv AperolEs ist also nun so, dass es all den uns vorliegenden Nachrichten von einem baldigen Ende menschlichen Lebens zum Trotz wieder Frühling wird. Oder eben auch gleichzeitig, ungeachtet dessen, parallel dazu. Diesen in Wahrheit nur scheinbaren Widerspruch müssen wir aushalten, obwohlund gerade weil wir ihn fühlen. Wir könnten uns allerdings dem Frühling weitaus fruchtvoller hingeben, wenn die herrschenden Ursachen der Bedrohung schon “eingehegt” wären (unwirksam gemacht – und das wird bald notwendig sein, am besten vorgestern). Machtmissbrauch, Wachstum um jeden Preis, Profitgier, “das ökonomische Diktat”, Naturfraß, Umweltschändung, Menschenverachtung, Ressourcenraubbau, Flächendeckende Volksverblödung, you name itund überhaupt Krieg mitsamt einer offenbar völlig unbrauchbaren internationalen Gemeinschaftsordnung, die bestenfalls moralische Phrasen in die Luft hüstelt. Da brauchen wir die Hinwendung zum Frühling allein schon als Medizin.

Aperitiv SchpritzmajimUnd das Lachen als Therapie zur Selbstverteidigung: “Das wirkliche Rätsel ist nicht, wann erstmals Häuptlinge oder Chefs oder sogar Könige oder Königinnen auf der Bildfläche erschienen, sondern ab wann es nicht mehr möglich war, sie einfach durch Gelächter zu vertreiben.” In der Realität der Realitäter (und *innen) verhält es sich wirklich so, dass “um die 80% der Führungskräfte Soziopathen sind”. Derlei krachende Kollisionen der Wirklichkeit mit sich selbst kann man zur Zeit nur durch die Witzessenz an sich ertragen – indem sich nämlich zwei Ebenen, die nicht zu einander passen, überraschenderweise doch begegnen, was uns zumindest schmunzeln und die Gegensätze erträglich macht. Das widerum bewirkt in unseren Leibern (die die Welt bedeuten) einen Ausschank erlesener Hormoncocktails. Und den Menschen ein Wohlgefallen, Prost! – In den Abgrund schauen und trotzdem lachen: Das ist der Aperitiv – zur Gefechtspause im Dauerfeuer des Weltgedümmels.

Gute Nacht, Österreich

PS. Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow – Der Mann, der die Welt rettete …

 

Septemberteppichfransen

> Sendung: Die Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. Oktober – Es begann alles mit der Wahrnehmung eines etwas ausgefransten Sommers. Dann kamen die Übergänge zwischen Sommer und Herbst ins Spiel, welche immer wieder zwischen spätsommerlich wärmend und frühherbstlich fröstelnmachend wechselten. Recht regelmäßig wenigstens, ein Gruß des Beständigen in all dem Zerfall und Zerzausen rings um uns und mittendrin. Genau da drängt sich die Phantasie eines fliegenden Teppichs ins wunde Gemüt. Frei schwebend über all den grausligen Niedrigkeiten in seentiefem Blau nach innen sinken – und über all die zwingigen Klaustrophobien und Menschenkatastrophen hinweg im nur mehr Eigentlichen herum fliegen, dabei entspannt die flatternden Fransen bestaunen – also die Septemberteppichfransen.

SeptemberteppichfransenVor gut 10 Jahren erschien das Album Nervöse Welt – und dazu hieß es: “In einer Welt aus Papier will ich Flammenwerfer sein.” Ich würde das heutigentags etwa so abwandeln: “Auf einem fliegenden Teppich will ich flatternde Fransen beobachten.” Vielleicht lässt sich dabei der sprichwörtliche rote Faden finden. Womöglich gar der Ariadnefaden, nach dem wir alle fahnden wie die Verirrten. Wenn nicht, dann lässt sich immerhin erkennen, dass man kein Konsumschwammerl sein muss, um beim Betrachten von fraktalen Strukturen (wie eben Teppichfransen im Flugwind) ins Unendliche zu geraten. Es geht nur auf Umwegen ins Unendliche. Das Labyrhinth ist der Regelfall. Rechteckig sein ist Verbrechen an sich selbst: “Die bloße Vorstellung von so etwas wie einem normalen Menschen ist bereits das erste Symptom des Psychopathologischen.” So formuliert das ein Logotherapeut.

SeptemberteppichfransenDa führt nie ein gerader Weg von der Geburt bis zum Tod. Es sind die Verschlungenheiten, die uns auch mitunter zu verschlingen drohen, die das Wesen des Lebenswegs ausmachen. Der Umweg ist das Ziel – wenn überhaupt. Und daraus ergeben sich unendlich vielfältige Möglichkeitsformen. Der Blitz soll all die beim Scheißen treffen, die uns zu funktionsförmigen Jasag- und Mitmachtrotteln ihrer kranken Hochleistungsgesellschaft umwidmen und zurechtklonen wollen. Ruhen wir lieber im Zwischen, bevor wir uns entscheiden und beschneiden lassen. Lass fahren dahin, tausendjähriger Eierschas, und wenn die Welt voll Teufel wär, in der Ruhe liegt die Kraft, speziell mitten im Sturm: Lassen wir es flattern, rascheln und vibrieren. Lassen wir es tönen, tuten und verklingeln. Lassen wir es glitzern und uns satte Farben ins Aug schieben. Lasset uns bunt sein und schräg und schrill! Und Septemberteppichfransen!

SeptemberteppichfransenIch mag ja Französchisch. Und die Sprache ist auch sehr schön. La vie est belle. Fransen. Frans Ferdinand. Fransophonie. Qui vivra verra. Wir werden sehen… Nicht ohne Ironie! Un monde formidable. Doch nicht? Wir fahren also diesmal auf einem fliegenden Teppich durch die Nacht und versenken uns und euch in einige der Gedankenanstöße, die hier ausgedrückt wurden wie die Wimmerl unserer Jugendzeit. Und was uns sonst noch erwartet auf den verschlungenen Wegen des gemeinsamen Da-, Dort- oder überhaupt Seins – das wollen wir freudig erwarten und uns daraus einen Karl machen, den wir uns mindestens auf den Bauch hauen können – wenn wir ihn nicht sowieso unter den Armen verteilen. Wenn euch nicht gefallen hat, was heute hier stattfinden wird, dann reibts es uns doch unter die Nase – oder zeichnets es euch auf, lassts es euch schön einrahmen und hängts es euch z’haus übers Klo

Mahlzeit!

 

Das Kritische

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. März – “Das kritische Salzburgbuch”, als welches “Die Ursache” von Thomas Bernhard des öfteren gern bezeichnet wird, ist nunmehr auch als Graphic Novel erschienen. Lukas Kummer hat dafür einige wesentliche Erzählstränge eindrucksvoll (nach)gezeichnet. Und der tapfere Residenz-Verlag, bei dem 1975 schon das vielfach umstrittene Original “Die Ursache. Eine Andeutung” herauskam, hat die sehr spezielle Text-Bild-Version jetzt produziert. Auf deren Präsentation im Salzburger Literaturhaus haben wir in unserer Sendung “Die Ursuppe” hingewiesen, wie ja überhaupt dieser “kritische Geist aus Salzburg” (und das muss nicht immer der “Skandalautor” selbst sein) in unserem Radioschaffen stets eine Hauptrolle spielt, sei es im Artarium oder in der Nachtfahrt, naturgemäß.

Die UrsacheDas Idee zum Tittel (nicht unser Hausarzt, leider) kam jedoch diesmal von Ernst Jandl und seinen autobiographischen Anmerkungen zu Sprach und Kunst, von denen hier noch sein wird ein Reden. Des weiteren auch aus dem kulturkritischen Buch “Musik = Müll” von Hans Platzgumer und Didi Neidhart, in welchem erfrischend zum Ausdruck kommt, was eine “kritische Würdigung” jenseits von bipolarem Schwarzweißdenken (oder besser -glauben) noch sein könnte. Und so haben wir die Musik/Text-Dramaturgie dieser Sendung in drei Stufen (vom Wort zum Buch zum Leben und auch wieder zurück) gegliedert, allerdings ohne uns allzusehr einzugliedern in den Erwartungsmarkt.

Eine AndeutungDie scheußlichste Entwicklung der sogenannten Marktwirtschaft ist nämlich das Befriedigenwollen der zuvor berechneten oder künstlich erzeugten Erwartungshaltungen von immer noch mehr und immer noch größeren Käuferschichten. Also der Mainstream oder das Statistik-Zerbrauchertum, die Degeneration der Gauß’schen Durchschnitte zum vollendeten Konsumwichtel der Industrie. Gepriesen sei hingegen der Residenz-Verlag, der seine Position am Markt mit der Produktion von kritischer Individualkunst zu verbinden versteht. Und uns entsprechendes Rezensionsmaterial für die 2. Stunde unserer Nachtreise bescheret hat. Die Verhandlung darüber sei hierohrs eröffnet…

Das kritische Salzburg-BuchDie einen werden über “Die Ursache als Graphic Novel” frohlocken – die anderen werden das Wort Werkzertrümmerung in den Mund nehmen. Was aber meint der Sprachenkunstler als Experte?

“Dass diese Sachen, die gemacht werden um hergezeigt zu werden, Sachen sind, die die einen freuen und die anderen ärgern, und dass sie gewollt so gemacht sind, dass sie die einen freuen und die anderen ärgern, dass es also Sachen, die alle freuen, gar nicht sein sollen, selbst wenn irgendwelche es könnten (so wie es Sachen, die alle ärgern, gar nicht sein sollen, selbst wenn irgendwelche es könnten), das ist das Kritische daran.” (Ernst Jandl – “Ich mit Umwelt”, 1970)

 

der macht was er will

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 13. April April, April (kein Scherz!), der macht was er will. Das sollten wir uns zu Herzen nehmen! Oder auch der Macht, wenn sie macht, was sie will, das eigene Wollen entgegen – machen? Ein ganz schöner Abnützungskrieg, wenn man genau hinspürt. Marcello Da Forno sagte einst: “Willkommen daheim, hier wird der freie Wille freundlich umgebogen.” Wir befinden uns im Jahr 2018 nach Dings. Ganz Globalien ist von Kapitalisten besetzt. Ganz Globalien? Nein! Ein von unbeugsamen Selbstmenschen bevölkertes Medium hört nicht auf, den neoliberalen Eindringlingen Widerstand zu leisten. Und das Leben ist nicht leicht für die Kommerzkasperln, die da als Beschwatzung in den befestigten Firmensendern Klimbim, Dumdum, Blablablah und Hollareidullijöh vor sich hin zwitschern…

macht wasIrgendwas mit Aquarium war da auch noch, glaub ich, oder wars Artarium? Egal, Idee oder doch lieber Tee? Allons, enfants terrible, wir spülen die Hitz zum Frühling letztjährig aus dem Saunastudio der Radiofabrik zu Salzburg, wo dir bei der kleinsten Bewegung der Schweiß aus allen Poren reihert. Feuchtwarme Nächte werden es bald gewesen sein, wenn heuer der Studioneubau wie angekündigt gelingt. Apropos Schweiß, ist es nicht seltsam, das immer nur der Krieg “ausbricht” oder sonst eine ansteckende Krankheit, nie jedoch der Frieden, der wird angeblich immer von irgendwem “gemacht”. Aber wer macht Sprache? Wehrmachtsprache? Und was macht Sprache? Was, Machtsprache? Mit Worten spielen kann nur, wer noch selbst Platz zum Denken hat. Also Raum als Produkt von Freiheit und Zeit. “Sie brauchen nicht denken, sie sind überdacht.” Diesen prophetischen Wortwitz zelebriert Konstantin Wecker nunmehr seit 35 Jahren: Im Namen des Wahnsinns. Und von Jahr zu Jahr wird er noch zutreffender. Bald haben wir alle genug Zerplatz.

der machtWas in Österreich Konsument heißt, nennen sie in Deutschland Verbraucher. Eine an sich schon sehr spezielle Wortwahl, wenn man die ökologischen Probleme des Planeten bewusst betrachtet. Konsum-End und Zerbraucher wären da wohl angebrachter! Und aus “Endverbraucherzertifikat” (einem Neusprechwort aus dem internationalen Waffenhandel) wird wortverspielerisch ganz schnell “Endzerbraucherverfickdiktat”. So lebendig die Sprachentwicklung im allgemeinen auch immer sein mag, die Wortwahl der Gesetzestexte ist nie eine demokratische. Gibt es also tatsächlich “kein richtiges Leben im falschen“, wie Adorno es ausdrückt, sind wir alle im Grunde geisteskrank, weil wir in einer wahnsinnigen Welt wohnen? Ein interessanter Gedanke, weil der im Umkehrschluss auch bedeutet, dass alle von der herrschenden Norm abweichenden zumindest graduell gesünder sein können. In dem Zusammenhang empfehlen wir die Gedanken von Kate Tempest, die wir im Artarium vorgestellt haben. Ansonsten, macht Sprache, wir machen nichts anderes.

 

ein schuss jandl

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. August – Wie jetzt? Ist denn nicht “einschussjandl” die schönere Einwortpoesie? Auch “ein schussjandl” oder “einschuss jandl” sind genauso vorstellbar wie berechtigt. Sprachermächtigt! Schon offenbart sich, gleichsam “in a nutshell”, der Wortkosmos des Dichtmeisters Ernst Jandl nebst einiger seiner durchaus erwünschten Wirkungen. Zu den anderen, unerwünschten, fragen sie sich selbst oder hauen sie sich mit dem Fliegenklescher fest auf den Kopf. Wenns denn hilft. Wir jedenfalls erproben seinen Sinngehalt an uns selbst, indem wir den normierten Nutzsprech, der uns alltäglich umwuchert, diesen im wahrsten Sinn unsäglichen Unsinn der fortwährenden Weltverdeppung, durch Zerlegung neutralisieren und so auch mit dem Experimentellen experimentieren.

ein schuss jandl“Den Sinn und die Sprache ließ Jandl zerschellen in den Abgründen der Welt, und dass er damit zu einem der größten Popkünstler der Literatur wurde, ist eines ihrer schönsten Mirakel.” So formuliert der unseres Wissens nicht verwandte Paul Jandl in der “Welt” zum Erscheinen der 6-bändigen Werkausgabe 2016. Und erzählt uns eine der schönsten Ernst-Jandl-Anekdoten überhaupt:

“Als ich Ernst Jandl in den Achtzigerjahren zum ersten Mal angerufen habe, war das Gespräch kurz. Erst hat es lange geläutet, dann meldete sich drohend seine Stimme: “Jandl?” – “Hier ebenfalls Jandl”. Aufgelegt. Man hätte es ahnen können. Die Achtzigerjahre waren die Zeit, in der der Dichter so berühmt war, dass man sich mit ihm am Telefon gelegentlich einen Scherz erlaubte. Die Scherze konnten derb sein, wenn ein lyrisches Wiener Herz der Meinung war, dass die Poesie mit dem Avantgardisten des “sprachenschmutzen” auf den sprichwörtlichen Hund gekommen ist, oder sie waren auf kleinmütige Weise originell. Es gab tatsächlich Leute, die sich mit “Ottos Mops” meldeten oder nur fragten: “Bist eulen?”

ein schussjandl

ottos mops

ottos mops trotzt
otto: fort mops fort
ottos mops hopst fort
otto: soso

otto holt koks
otto holt obst
otto horcht
otto: mops mops
otto hofft

 

ottos mops klopft
otto: komm mops komm
ottos mops kommt
ottos mops kotzt
otto: ogottogott

 

einschuss jandlNun haben wir ja nicht nur so einen riesen Haufen eigener Arbeiten mit, über und rund um den Ernst in unserem Radiogepäck, speziell die Sendungen experlimental oder Atom Heart Mona Lisa, dazu noch allerhand andere Anstiftereien im Artarium. Nein, niemals nicht! Wir ham noch lange nicht genuuuuug. Der Salzburger Jung & Jung Verlag (für den zwischenzeitlich auch der erwähnte Paul Jandl lektorierte) hat uns zu dieser Sprachexpedition freundlicherweise mit dem Band “der beschriftete sessel” ausgerüstet, den wir zur eingangs erwähnten Zerlegung heranziehen wollen. Dort findet sich etwa “Zwischen Hulst und Hummel” (Ein Auszug):

“Die zwischen HÜM und humlich, Hulst und Hummel klaffende Wörterbuchlücke           (hu- hum- humá- human- humaní-) lässt mich an eine Reihe von Texten denken, zu verschiedenen Zeiten in verschiedener Technik geschrieben, die ein Entsetzen über die Peinigung der Menschen durch den Menschen zum Ausgangspunkt haben. Sie gesellschaftskritische Texte zu nennen, scheint möglich, lässt aber außer acht, dass ein gewisses Maß an Gesellschaftskritik bereits überall dort konstatierbar sein könnte, wo die Sprache von Texten aus dem normativen Geleise gekippt ist. Es gibt Leute, die in jeder Abweichung von der Norm, in welch kleinem Teilbereich immer sie sich ereignet, eine Bedrohung jeglicher Norm erblicken, womit sie nicht völlig unrecht haben mögen. Größere Liberalität, für manche ein Dorn, ist nur durch den Abbau von Normen, Verbindlichkeiten erreichbar. An sie, die Verteidiger jeglicher Norm, ist zweifellos auch gedacht, wenn mit den Mitteln der Kunst die Vorstellung von Normalität vorsätzlich und lustvoll gestört wird.”

Es könnte Ernst Jandls Motto sein: “Alles mit allem möglichst dicht zu verbinden…”

 

Velvet Goldmine

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Juni – Auf den Spuren des Kultfilms Velvet Goldmine würdigen wir die sexuelle Ambivalenz in der Popkultur – und würgen am heteronormativen Durchschnitt einer bumsdummen Gesellschaft aus Massenblödien, Quasselödien und Kassenschmähdien. Diese Wortschöpfung von Uwe Dick aus den “goldenen” 70er Jahren bringt ja nicht nur die Medienindustrie auf den Punkt, sie verdeutlicht geradezu das gesamte Unwesen unserer Zivilisation. Doch den Nachthasen ist kein roter Faden zu dünn, um aus ihm nicht doch noch ein mutmachendes Hurra aufs Überleben zu destillieren: “Sexuell benutzerdefiniert” im Gegensatz zu den “empfohlenen Einstellungen” der ohnehin unklaren Anbieter, es könnte so einfach sein, wenn man sich nur ließe. Auf jeden Fall empfehlen wir uns.

velvet oscar wildeOder Oscar Wilde, den verwegenen Vorkämpfer für das Menschenrecht auf sexuelle Selbstbestimmung im viktorianisch verklemmten England. Der ging für sein stures Beharren auf gleichgeschlechtlicher Liebe als einer möglichen Lebensform nicht nur ins Gefängnis, sondern an den Folgen dieser Unmenschlichkeit zudem auch tatsächlich zugrunde. Was nicht verhindern konnte, dass er seine Mit- und Nachwelt (also uns) mit einer Überfülle an zeitlos klugen Zitaten beschenkte. Viele davon finden sich im Script von Velvet Goldmine wieder, als einer von vielen roten Fäden, die diesen Film so wunderbar unblöd und wertvoll machen. Und ihn über die Jahre zu einem Kultfilm, vor allem für ein jugendliches Publikum, werden ließen, wiewohl er in den Kinos gefloppt war. “Oh mein Gott, Hollywood verhungert, sammelt Steckrüben!” Die statistische Bewertung der Verkaufserlöse zeigt nur, wie unmaßgeblich kommerzielle Überlegungen für den persönlichen Wert eines Kunstwerks sind. Und wie unerheblich die Mehrheitsmeinung im Hinblick auf individuelles Berührtwerden ist. Massengeschmack kann niemals Maßstab für die eigene Wahrhaftigkeit sein.

velvet goldmineSo beginnt Velvet Goldmine folgerichtig mit Oscar Wildes Kindheit (als Vorgeschichte), um sich dann jener kurzen Ära des Glam Rock der 70er Jahre hinzugeben, als erstmals im Pop musizierende Männer sexuell ambivalent auftraten und öffentlich mit eventueller Bisexualität spielten. Der überaus vielschichtige, teils symbolistisch und surreal in Stimmungsbildern gestaltete Film fokussiert auf die beiden Rockstars Brian Slade alias Maxwell Demon (dessen Rolle David Bowie alias Ziggy Stardust nachempfunden ist) sowie Curt Wild (dessen Rolle unter anderem von Iggy Pop und Lou Reed inspiriert wurde) und erzählt von deren Begegnung, Verliebtheit und schlussendlichem Verfall. Das allein wäre schon genug an Opulenz, Dimensionalität und Vertracktheit, doch da ist auch noch die Rahmenhandlung des Erzählers Arthur Stuart, eines Musikjournalisten, dessen investigative Recherchen mittels diverser Rückblenden in die überbordende Erzählung hinein verwoben sind. Insgesamt also ein Spielfilm, der keineswegs durch nüchternes Frontalbewusstsein begriffen, sondern vielmehr vermittels des entgrenzten Gefühlsverstands erlebt werden will. Und vor allem nicht “interpretiert”.

velvet oscar wilde quoteWas mit Sicherheit auch auf die Homepage von Michael Stipe zutrifft, der Velvet Goldmine als Herzensanliegen produziert hat. Bitte halten sie mich fest! Oder sonstwas. Wie dem auch immer nicht sei, wir zwei gewinnen dieser unendlich schönen Herausforderung aller Sinne naturgemäß einiges an Gefühlen und Bezügen ab. Darob werden wir hiernachts schwelgen können, dem Erzählstrang sowie dem Soundtrack dieses musikalischen Ausnahmefilms folgend. Sontstwo erschienene Rezensionen halten wir allesamt für hochgradig verschnöselt und daher nichtssagend. Statt dass etwa die Ergriffenen schrieben, denen “das etwas gibt”, verzapfen da irgendwelche “Zuständige” ihre Maßstabsmeinung, die kein authentisches Erleben wiederspiegelt, sondern stattdessen das allübliche Gesums aus dem Eintupf der sachzwänglichen Durchschnitter. Was sexuell neugierige Welpentiere interessiern darf und was nicht, das wird von abgeschmackt normifizierten Pudernudeln festgeschrieben und in den “neuen” Untenhaltungsmedien reichweitigst verbetoniert. Es hat sich nichts geändert: Was “normal” ist, entscheiden die Angepassten. Und die spinnen mit Sicherheit!

“Gleich am Tag nach meinem Tod setz ich mich hin und schreib meine Memoiren. Davor bin ich viel zu sehr mit meinem Leben beschäftigt.”