Über artarium

Seit Herbst 07 "das etwas andere Kunnst-Biotop" in der Radiofabrik und seit Anfang 09 daselbst "im Schatten der Mozartkugel" als Artarium unterwegs. Immer auf der Suche nach neuen Gästen, Themen und Gestaltungsformen... Hochfrequenter Wortwetz- und Mundwerksmeister zwischen Live-Unmoderation und Poesie-Performance. Psychodelikate Audiocollagenkunst, stimmungsexzessive Hörweltendramaturgie, subversiver Seelenstriptease, unverzichtbares Urgewürz und... In diesem Unsinn zeig ich euch hier einen tieferen! Ab- und hintergründige Neu- und Nettigkeiten aus der wundersamen Welt des Artarium, seinen Gästinnen und Hörerichen. Kunnst mi eigntlich gern ham. So do mi - i di a! Bussal...

Der Tapir zum Sonntag

Artarium am Sonntag, 28. April um 17:06 UhrDer Schriftsteller Peter Hodina veröffentlicht seit Jahren auf seinem Facebook-Profil einen “Tapir zum Sonntag” – und das unbeirrbar an jedem einzelnen. Doch was bei oberflächlicher Betrachtung eine liebenswerte Marotte zu sein scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als geradezu programmatisch. Denn Peter Hodina zelebriert die Wesensart seines selbst gewählten Wappentiers und verschmilzt derart mit dessen Persönlichkeit, dass er in seinen Texten auch die entlegeneren Früchte erschnüffelt und sich einen eigenen Weg durchs Dickicht des Denkens bahnt. Daher fragen wir uns, wie diese offenbar so befruchtende Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Tapir entstanden ist – und welche Rolle das doch sehr besondere Tier in seinem Leben sonst noch spielt.

Der Tapir zum SonntagPünktlich zum World Tapir Day (am Samstag) und zum Erscheinen von Peter Hodinas “Beitrag zur Lage” kommt er endlich erstmals zu uns in die Sendung und liest höchstselbst und livehaftig aus eigenen Werken.

Wir kontrastieren seine Texte mit Liedern von Stiller Hasund wir vertrauen dem Spürsinn unseres unsichtbaren Publikums, hierbei die eine oder andere Resonanz zu erfahren. Denn so fest steht viel (oder wie das heißt) – “unbeirrbar” ist der Schlüsselbegriff, wenn man das Gemeinsame in der Lebens- und Arbeitsweise der Herren Hodina und Anaconda zu beschreiben sucht. Und wenn man das mit den charakteristischen Merkmalen des Tapirverhaltens in Verbindung bringen möchte … In eigenen Worten: Wenn da jemand seinen ureigenen Weg geht, auf eine Art und Weise denkt, fühlt, sein Leben gestaltet, die seinem inneren Wesen entspricht und sich dabei von nichts und niemand beirren lässt (also nicht ablenken, drausbringen oder gar verbehindern) – dann ermutigt mich das zu meinem eigenen Lebensentwurf. Stolz darauf, von ureigener Art zu sein

Solch erfreuliche Eigenart zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk von Peter Hodina. Zum Beispiel Steine und Bausteine 1: “Aphorismen, Traumprotokolle, Lesefrüchte, gleichnishafte Erzählprosa, manchmal ein Gedicht. Griffe ins Volle, ins Leere, ins Dazwischen. Je nachdem. Es kommt auch auf den Lesenden an.” Oder in Spalier der Farne. Notate: “Wenn ich nur die andere Welt denke, sucht sich bereits etwas einen Weg. Es sind Versuche. / Selbst bist du Teil eines insgesamt Prozessierenden. Ein Regentropfen, ein Hagelkorn, Funke.” Rezension Richard Wall

Und wir machen mehr als nur

 

Das Sternenkind

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. April“Du soist nie aufhean zum lernen, oabeit mit da Phantasie”, so singen André Heller und Wolfgang Ambros in ihrer Bob-Dylan-Adaption “Für immer jung”. Und das drückt eigentlich eh schon alles aus, was zum Thema “Märchen für Erwachsene” gesagt sein sollte. Wir hören in der heutigen Ausgabe des ganzen Albums ein solches Kunstmärchen von Oscar Wilde, nämlich “Das Sternenkind” in einer Aufnahme der überaus umtriebigen Schauspielerin Maja Chrenko. Das ist starker Tobak und kann zu erheblichen Nebenwirkungen führen, wenn man das inwendige Abenteuer mit den äußeren Realitäten falsch vermischt -oder gar verwechselt. Doch keine Angst – lassen wir uns einfach einmal darauf ein – wer Mitgefühl für den armen Hasen zeigt, wird alle Schätze in sich entdecken

Das Sternenkind - Ein Fall für die PhantasieEin Bild, das wohl zunächst das genaue Gegenteil von blühenden Landschaften darstellt (aber eine wunderbare Punk-Location sein könnte), das vor sich hin verfallende Hotel Phantasie in Eisenach, habe ich aus diesem Lost-Places-Blog von Coola Irrgang hervorgestöbert. Aber sind wir nicht alle irgendwie “auferstanden aus Ruinen” – und seitdem auf der Suche nach dem wirklichen Frieden? Nach einem Neubeginn ohne Verleugnung? Nach der sprichwörtlichen friedlichen Koexistenz? Was müsste in uns stattfinden, damit wir außen nicht mehr lebensfeindlich herumzerstören? Solcherlei Fragen drängen sich auf, wenn wir uns überlegen, welchen Wert unsere Phantasien für die Gestaltung unserer Welt besitzen. Wenn wir überhaupt einmal zulassen, dass Märchen und andere ausgedachte Geschichten nicht bloß Unterhaltungsschmarrn fürs Beruhigen, Beschwichtigen und Behupfdudeln lästiger Nichterwachsener sind.

Das Sternenkind von Oscar Wilde erzählt von einer inneren Entwicklung (die gewiss nicht ohne Schmerzen vor sich geht) und nimmt uns mit auf die Lebensreise eines Menschen, der wir alle immer auch selbst sind. Ein Schlüssel zur Verwandlung des Protagonisten ist dabei wohl das Mitgefühl (es wird oft gesagt, dass gute Literatur uns zum Mitgefühl befähigt, weil durch sie das Einfühlen in andere angeregt wird). Offen bleibt, in welche Dickichte und Verknotungen inneren Erlebens wir dabei individuell geraten. Doch eins steht für uns fest – es wird ein weiterer Schritt auf dem Weg sein.

Wir sind ein geiles Institut.

 

The Spirit carries on

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 19. April — Ist da ein tieferer Sinn hinter dem Scheinbaren? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Was ist das Leben überhaupt und ist da nicht doch mehr als das, was wir jeweils gerade erkennen können? Die großen Menschheitsfragen widerspiegeln sich im kleinen Welttheater unserer Radiokunst. Ausgehend von einem alten Hadern der Band Dream Theater mit dem Titel The Spirit carries on versammeln wir Beiträge und Gedanken, die das Entstehen und Vergehen verschiedener Welten ansprechen. Und die darüber hinaus den einen oder anderen Zusammenhang erahnen lassen. In der Gespensterbahn der Weltgeschichte wohnt ein wissendes Kind und zündet einen potemkinschen Schreck nach dem anderen an, um jeden Untergang in ein fruchtbares Land zu verwandeln.

The Spirit carries onDas ist schon ein Vermächtnis des inneren Kindes, dass es weiß, was es gebraucht hätte, um sich seinem Leben und seinen Anlagen gemäß zu entwickeln. Daher weiß es auch, wie die Welt, auf die es gekommen ist, beschaffen sein müsste. Und so können wir ihm schon vertrauen, wenn es den Zustand der Welt, in der es jetzt als Erwachsener lebt, kritisiert und sogar verurteilt. Die Aufgabe, die sich uns im Umgang mit ihm stellt, ist der liebevolle Dialog. Hannah Arendt hat es einmal so formuliert: “Denken ist Zwiesprache mit sich selbst.” Das ist zutreffend beobachtet und doch möchte ich an dieser Stelle hinzufügen: “Nicht alles, was sich in deinem Geist abspielt, ist erwachsen.” Nur wer sein oder ihr inneres Kind (die eigene Kindheit, die nach wie vor in uns umgeht) nicht abweist, wenn es sich bemerkbar machen will, kann die Welt da draußen so reparieren, dass auch tatsächlich neue Kinder (im obigen Sinn) in ihr leben wollen. Wer seine Kindheit ablehnt, wird von ihren unerlösten Geistern verfolgt.

The Spirit carries onNun sind aber im Leben von vielen von uns schlimme Dinge passiert, die uns schon in der Kindheit dazu veranlasst haben, einen Teil unserer Gefühlswahrnehmung nicht mehr stattfinden zu lassen, um nicht den Verstand zu verlieren. Wir haben den Tod überlebt – und doch fehlt uns oft irgendwo im Innersten ein “guter Vater”, eine “gute Mutter” oder sonst eine das Urvertrauen herstellende Instanz. Irgendwas in uns schreit nach der liebevollen Zuwendung, die wir anstelle des Verlassenseins gebraucht hätten und die wir trotz aller Verdrehung und Verdrängung nach wie vor zum Lebendigsein brauchen. Für ein Kind ist jede Art von Missbrauch/Misshandlung ein lebensgefährliches Fallengelassenwerden. Wir sehnen uns nach dem verlorenen Sinn. Hier sind wir offenbar schon mitten in die Traumatherapie hinein geraten und so verweise ich auf das sehr schlüssige Konzept “Das Innere-Kinder-Retten” von Gabriele Kahn. Es atmet diesen gewissen Spirit.

The Spirit carries onUnterwegs im Unfertigen begegnen wir in uns wie auch außerhalb den zu rettenden Kindern. Und erfinden über magische Kräfte verfügende Phantasiegestalten, die sie retten. Die Idee dahinter ist, dass wir das, was in uns zerstört wurde, wieder finden und für uns lebensfreundlich machen. So verwandeln wir uns mit der Zeit in die Menschen zurück, die wir von Anfang an waren, bevor wir der Schwindligmachung zum Opfer fielen und vom Gespensterkarussell der Realitäter*innen eingeschlürft wurden. In die Menschen, die wir schon immer sind. Ja, dürfens denn das? Aus der Bastelkiste der Kulturgeschichten, aus dem Fundus aller denkbaren Religionen, aus der Ursuppe hinter jedweder Mythologie einfach so, freihändig und ganz nach eigenem Bedarf die jeweils entsprechenden Gestalten aufrufen, verändern und zur Selbstrettung ins eigene Seelenleben stellen? Ist dafür nicht irgendein Gott zuständig? The Great Spirit oder eine andere das Urvertrauen (wieder) herstellende Instanz? Man wird sehen

Danke, Stiller Has!

 

Piratenradio gegen den Nazistaat

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. AprilAm 30. März dieses Jahres wäre Walter Klingenbeck 100 Jahre alt geworden. Doch er wurde 1942 zum Tod verurteilt und 1943, im selben Jahr wie die ungleich bekanntere Sophie Scholl, hingerichtet. Er hatte gemeinsam mit drei weiteren Freunden ein sogenanntes Piratenradio errichtet, um von der gleichgeschalteten Nazipropaganda abweichende Informationen (etwa über den Kriegsverlauf) zu veröffentlichen. Das galt damals als Wehrkraftzersetzung und Hochverrat und führte in den meisten Fällen zu einem Todesurteil. Schon das bloße Weitersagen von im Radio Gehörtem (wenn es zum Beispiel Nachrichten aus dem Ausland waren) konnte lebensgefährlich sein, wie die Geschichte des Wiener Schülers Josef Landgraf zeigt, der diesen Naziwahnsinn zum Glück überlebt hat.

Piratenradio Walter KlingenbeckWalter Klingenbeck war ebenfalls 17 Jahre alt, als er sich entschloss, gegen die angebliche Allmacht der Diktatur aufzutreten. Wir wollen sein Beispiel in Erinnerung rufen, zumal gerade in unserer Zeit nicht wenige wieder mit dem braunen Erbe jener menschenverachtenden Ideologie liebäugeln oder gar herumzündeln. Für die Gestaltung der Sendung verwenden wir Auszüge des 2018 anlässlich seines 75. Todestags live dargebotenen “Akustischen Denkmals für Walter Klingenbeck” von “die grenzlandreiter” (Gerald Fiebig) und lesen aus verschiedenen Zeitdokumenten (Todesurteil, Abschiedsbrief). Doch wollen wir den Themenbogen noch darüber hinaus spannen. Zur besonderen Ausprägung jugendlichen Aufbegehrens und daraus erwachsenden Widerstands empfehlen wir diesen hervorragenden Artikel von Jürgen Zarusky. Und was den Bezug zur gefährdeten Gegenwart anbelangt, mag uns das Vater-Sohn-Gespräch, von dem Konstantin Wecker in “Vaterland” berichtet, zum Weiterdenken anregen. Das Vermächtnis Verstorbener “ins Leben erzählen” ist poetisches Erschaffen.

Dass da einer ausgerechnet das Radio als geeignetes Mittel zum Durchdringen des staatsgewaltlichen Normkonformismus ausgewählt hat, das ruft uns nicht zuletzt in Erinnerung, dass auch unser Sender, die Radiofabrik, aus einem Piratenradio heraus entstanden ist. Inzwischen ist es gesetzlich gesichert, dass “Personen und Gruppen, die in den öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Medien unterrepräsentiert sind” hier eine Meinungsäußerungs- und Veröffentlichungsplattform haben. Was wiederum aufzeigt, wie lebensnotwendig der Kampf für eine freie Gesellschaft generell ist.

Und er ist nicht vorbei …

PS. Zudem noch ein feiner Vortrag von Jürgen Zarusky über Walter Klingenbeck.

 

Burn The World

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. März – Um das Jahr 1990 herum tauchte in Salzburg ein junger Mann aus England auf, der uns mit Hingabe und Begeisterung von einem Musiker namens Roy Harper erzählte. Dieser sei schon seit den 60ern in der britischen Musikszene aktiv und habe einige der erfolgreichsten Rockgrößen maßgeblich beeinflusst, ja sogar mit ihnen zusammen gespielt, ohne jedoch selbst jemals “berühmt” geworden zu sein (außer in Insiderkreisen). Wer denn da so alles dabei gewesen sei, fragte ich, und hörte Namen wie Led Zeppelin, Pink Floyd, Jethro Tull, Kate Bush und Paul McCartney. Davon durchaus beeindruckt kaufte ich mir eine (damals noch) Schallplatte, auf der das eigenartige Stück “Burn The World (Part 1)” enthalten war, das auch der Ausgangspunkt für unsere heutige Hörreise sein wrd …

Roy Harper - Burn The WorldDenn der gute Mann da auf dem Cover ist nicht nur eine sozusagen unberühmte Berühmtheit. Es hat sehr gute Gründe, weshalb ihn so viele anerkannte Größen aus der Wunderküche der Rockmusik als einen wesentlichen Ideengeber für ihr künstlerisches Schaffen und ihre Weiterentwicklung begreifen. Nicht nur, dass er ein beachtlicher Gitarrist und ein hochkomplexer Lyriker ist, nein, da ist nocht etwas anderes: Roy Harper ist eine Art nimmermüder Ideenschleuderer, ein Darstellungsschamane seiner eigenen Innenwelt, der einfach nur einen Entwurf nach dem anderen “raushaut” zur freien Entnahme und “to whom it may concern”. Der Begriff Ent-Wurf ist hier wichtig, denn seine Werke sind irgendwie unfertig, sind Skizzen, Andeutungen, Ideen, gerade so weit ausgearbeitet, dass man erkennen kann, worum es geht – und doch zugleich so interpretationsoffen und zum Selbstweiterbasteln einladend, dass man sie gern aufgreift, sich anverwandelt und zu etwas Neuem und Eigenem umformt, gestaltet, transformiert. So gelangt das, was einer sieht, durch viele andere nach außen

Burn the World – ein Verwandlungsphänomen. Und gerade diese 1990 entstandene Arbeit über das Verbrennen der Welt – was wird hier angesprochen – Klimawandel? Revolution? Gewalt? Hass? Vergebung? Tod? Auferstehung? Wiedergeburt? – diese Collage aus Bildern und Visionen, aus An- und Bedeutungen, aus Klängen, Schreien, rasenden Empfindungen und einem offenen Ende – dieses im Jahr 1990 als gut 18minütiges Livesolo in London aufgezeichnete Inspirationskonglomerat kann uns zum Verwandeltwerden wie zum selbstmächtigen Verwandeln anregen.

Burn the World – es ist höchste Zeit.

 

I killed my mother

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. März – Es kommt sehr darauf an, wozu man “hässliche Bilder” verwendet. Indem man etwa über die Beschaffenheit von Gewalt berichtet, wie sie entsteht, gegen wen sie sich richtet und was sie letztendlich bewirkt. Der junge Regisseur Xavier Dolan ist ein Meister in der Darstellung des Abgründigen und führt uns vor Augen, wie sich weitgehend verheimlichter Missbrauch von Macht für seine Opfer anfühlt und auf ein ganzes Gemeinwesen auswirkt. In seinem ersten Spielfilm “I killed my mother” flößt er uns fast unmerklich ein Gefühl dafür ein, auf welch verzweifelt tragische Weise die unerkannte Schuld der Verursacherin mit dem alles Lebendige bedrohenden schlechten Gewissen des ihr Ausgelieferten kollidiert. Dabei hat sich die Mutter doch nur Enkelkinder von ihrem schwulen Sohn gewünscht.

I killed my MotherÜber die Bildwelten des queeren Kino-Wunderkinds mag man sich aus Geschmacksgründen streiten, zu den von ihm gewählten Themen passen sie allerdings stets wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wie das Video zu “College Boy” von Indochine eindrucksvoll zeigt. Dieser Kurzfilm/Clip wurde wegen seiner drastischen Gewaltdarstellung noch dazu in Verbindung mit “christlicher Symbolik” vehement kritisiert und ist daher im Zuge der Mundgerechtmachung des kommerziellen Internets (andere nennen es Zensur) kaum irgendwo im Original zu finden. Ähnlich ergeht es auch vielen Videos der französischen Anarchistenband Achab, deren “Un Monde formidable” wir uns und euch im heutigen Kontext nicht vorenthalten wollen. Thomas Bernhard, Edward Snowden, Julian Assange? – Als Nestbeschmutzer (und Schlimmeres) gilt, wer auf verborgene Verbrechen hinweist.

Womit wir wiederum beim eingangs erwähnten Film “I killed my mother” ankommen. Was auf der einen Seite als völlig normal gilt, als ganz und gar natürlicher Wunsch “jeder Mutter”, nämlich von ihren Kindern Enkelkinder “zu bekommen”, das erweist sich auf der anderen Seite als unerkannter emotionaler Missbrauch, der bei seinen Opfern Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Gesundsein und Lebenwollen hervorruft. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr also, die aufzudecken, zu benennen und einer sie weitgehend ignorierenden Gesellschaft ins Bewusstsein zu stellen, sicher kein Verbrechen ist – sondern ein unschätzbarer Verdienst am Gemeinwohl.

Noch dazu unter Zuhilfenahme von so wunderbarer Musik wie etwa dieser hier.

PS. Portrait von Xavier Dolan aus dem Jahr 2011, das auch die recht spezielle Entstehungsgeschichte seines ersten Films “I killed my mother” beleuchtet.

 

Ariadne von Schirach

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. März – Vorab erst mal von Schirach. Dieser Name. Da war doch was, abgesehen von dem von uns sehr geschätzten Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Genau, der böse Baldur, der zur Zeit des 2. Weltkriegs als Gauleiter von Wien für die Judendeportationen verantwortlich war und der deshalb auch im Nürnberger Prozess verurteilt wurde. Der war ihr Großvater. Als ebenfalls Nachfahr von zumindest angebräunten Ahnen interessierte es mich zunehmend, wie die Kinder und Enkel der damals Verantwortlichen mit ihren Familiengeschichten umgehen. Und da stieß ich auf einen Vortrag von Ariadne von Schirach, in dem sie einen überaus bemerkenswerten Satz prägte: “Martin Heidegger, den wir trotz seiner Angebräuntheit und sehr schlimmer Verfehlungen als klugen Denker achten wollen…”

Ariadne von SchirachUngefähr zur selben Zeit entdeckte der Hase ihr Buch “Du sollst nicht funktionieren” und davon angeregt auch seine Liebe zur Philosophie. Spätestens als er ihr nächstes Werk “Die psychotische Gesellschaft” zu sich genommen (und mir weiter empfohlen) hatte, beschlossen wir, irgendwann einmal unbedingt eine Sendung über diese Denkerin zu machen, die zugleich lebensfroh und verwegen in Erscheinung tritt. Man kann es auch so sagen: Bei ihr wohnen Gefühl und Verstand sehr nah beieinander und kommen wie zwei benachbarte Saiten auf einem Instrument auch gemeinsam in Schwingungen. Diesen Umstand erkennt, ja erspürt man besonders dann, wenn man sie live lesen oder eben vortragen hört. Für die vielen, die das nicht persönlich unmittelbar erleben können, haben wir diese Buchvorstellung aus dem Literaturzentrum Hamburg als Beispiel gewählt. Es geht dabei um ihre jüngste Veröffentlichung “Glücksversuche”, einen Essayband mit dem schönen Untertitel “Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen.” Die Autorin lädt uns darin ein, ihre Selbstversuche nachzuvollziehen.

Das ist insofern erfrischend, als hier nicht “eine Bescheidwissende” daher ratgebert, wie wir, genau nach Rezept und erstens, zweitens, drittens glücklichere Menschen werden könnten oder gar müssensollen. Stattdessen denkt, spürt und erlebt sie uns hier dar, was für sie zur Entwicklung einer sinnvollen Lebensweise beitragen kann, die nicht in Gehorsamkeit gegenüber was auch immer für Autoritäter*innen, sondern die in eine selbst zu entdeckende, selbst zu erschaffende und selbst zu gestaltende Daseinsform mündet – die noch dazu imstande ist, ihre Ambivalenzen auszuhalten.

Es ist also eine Ansammlung von Angeboten, auf die wir uns einlassen können, sie auszuprobieren oder auch nicht, aus der wir auswählen können, was sich für uns als stimmig anfühlt, was entsprechend sein könnte, was uns neugierig macht, hier und da tiefer einzudringen und (das erinnert mich jetzt an die Kreisky-SPÖ in den 70ern) “ein Stück des Wegs gemeinsam zu gehen.” Nicht zuletzt (und hier schließt sich ein Kreis) habe ich mich in ihre Stimme verliebt, die viel von dem fühlbar macht, was sie mit ihren Gedanken ausdrückt. Fühlen und Denken ergänzen einander vortrefflich.

 

Und überhaupt, einen Ariadnefaden können wir doch alle gut gebrauchen …

 

Peter Gabriel – i/o (das Album)

> Sondersendung: Artarium vom Sonntag, 10. MärzJa, da schau her, eine Doppelstunde. Warum denn das? Weil Peter Gabriel (nicht der evangelische Pfarrer aus Hallein) ein neues Album herausgebracht hat. Und das ist uns eine Betrachtung wert, die über das übliche Vorstellen und Abspielen desselben hinaus geht. Nicht, dass wir es nicht spielen würden – allerdings erst in der zweiten Stunde, nachdem wir zuvor einige inhaltliche Anregungen aus dem Gabriel’schen Gesamtwerk beleuchten wollen. Über das Album i/o selbst (das bei uns im Dark-Side-Mix stattfinden wird) ist eh schon allerhand Sinnvolles gesagt worden. Über seine eigenartige Entstehung lässt sich auch auf Wikipedia noch einiges erfahren. Dass Peter Gabriel uns sowohl im Artarium als auch bei der Nachtfahrt schon länger begleitet, dürfte bekannt sein.

Peter Gabriel i/o CoverDas erste, was uns aus dem neuen Album ins Auge sprang, war das KI-generierte Video zu “Panopticom”. Allein dieser Begriff und die dazu angestellten Überlegungen aus der wundersamen Welt im Kopf des Erfinders würden längere Studien erfordern. Die Ideen dahinter sind aus einer selbstermächtigenden Umkehrantwort auf jenes im 18. Jahrhundert von Jeremy Bentham erdachte “Panopticon” entstanden, das später als Grundkonzept für die Gefängnisarchitektur diente und als Urstruktur jedweder zentralisierter Überwachung gilt. Dass sich ein ausgewiesener Menschenrechtsaktivist wie Peter Gabriel, immerhin Mitbegründer von Organisationen wie Witness und The Elders, für die Umkehrung oder besser noch Auflösung unterdrückerischer Machtverhältnisse einsetzt, liegt auf der Hand. Dass er uns in seine vielschichtigen Überlegungen dazu, dahinter und noch darüber hinaus einlädt, das ist eine Herausforderung an unsere Phantasie – und erfordert eben ausführlichere “Studien” im Sinn eines Überwindens von überkommenen Vorstellungen, Denkstrukturen und Gefühlsgewohnheiten

Doch wie soll das gehen? Hier kommt die andere Seite von Peter Gabriel ins Spiel, die uns schon immer fasziniert und beeindruckt hat. Und hier tut sich eine mögliche Verbindung zwischen der Innenwelt jedes Einzelnen und der “Welt da draußen” mit all ihren scheinbar so unverrückbaren Gegebenheiten auf. “Sind es die falschen Geschichten, die wir uns kollektiv erzählen?” fragt sich der Biologe und Genetiker Johannes Vogel. Der selbst- und therapieerfahrene Musikkünstler Peter Gabriel hat sich in seinen Arbeiten immer wieder dort hinein versetzt, wo diese entstehen.

In der Psyche von Menschen in Extremsituationen wird deutlich, was da alles aus dem Abgrund des Unbewussten empor steigt, um uns entgegen aller Absichten “fernzusteuern”. Zum Beispiel “Intruder” (1980) oder “Mercy Street” (1986) oder auch “Darkness” (2002)immer wieder lebt sich Peter Gabriel als Protagonist innerseelischer Vorgänge dar, die mit seiner eigenen Gefühlswelt verbunden sind, und das spürt man auch. Jetzt führt er auf “Live and let live” einen neuen Begriff ein – “Forgiveness”, einen Schlüssel zur persönlichen wie auch kollektiven Befreiung.

 

Wie auch immer das gemeint sein sollte, wir wollen es uns genauer anschauen.

 

PS. Mitlesen macht schlau: Die Songtexte zum ganzen Album von Peter Gabriel.

 

Auf der Fährte des …

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. März – Und wieder einmal verbinden wir zweierlei. Unsere gemeinsame Fahrt auf der Fährte des Lebens und das, was wir neuerdings unter unendlichen Möglichkeitsformen als interessante Spuren erschnuppern. Es gibt eine neue Ausstellung inmitten all der bekannten, oft schon verblassten und im “Wind Of Change” verwehten Fundstücke vergangener Expeditionen. “Nein, zurück wollen wir reisen zum Ursprung der Sprache, zu den Quellen der Musik und den Wurzeln der Bilder und Träume.” Machen wir uns also auf den Weg – zu uns selbst und zu dem, was uns Menschen verbindet. Wir zeigen euch, was uns auf dieser Reise begegnet und was wir für lebenswertvoll erachten. Wir stellen unsere Eindrücke als dreistündigen Hörfilm in eure Seelenlandschaft

Auf der Fährte des ...Einige der Entdeckungen, die wir unterwegs gemacht haben, wollen wir euch zur näheren Betrachtung anempfehlen, zumal sie auch in uns so einiges an Denk-, Gefühls- und Wahrnehmungserweiterung über uns selbst und die Welt, in der wir leben, zum Vorschein bringen. Hier sei zuallererst ein Lied von Robert Herbe mit dem Titel “Das Festival ist abgesagt” erwähnt. Haben wir überhaupt auch nur ansatzweise verstanden, was die Zeit der Lähmung während der Corona-Pandemie in unseren Leben angerichtet hat – und wie sehr uns ihre psychischen Spätfolgen immer noch beeinträchtigen? Die unmittelbare Darstellung des Kultur-Lockdowns aus der Sicht des engagierten Lichtbildners erreicht uns heute wie in einer Zeitkapsel konserviert und ermöglicht so eine nachträgliche Neuberechnung unserer tatsächlichen Position. Chapeau! Wir leben und bewegen uns einerseits in uns selbst, entwickeln uns dabei hoffentlich weiter, befinden uns andererseits aber im Austausch mit der Außenwelt.

Auf der Fährte des ...Eine Annäherung an all das, was “da draußen vor sich geht” (und was sich eben auch in den Menschen abspielt) bietet “Agries Meres” von Yannis Paxevanis, mit dem der mannigfach ausgezeichnete Dokumentarfilm AGORA II von Yorgos Avgeropoulos beginnt, hier auf Deutsch (in der ARD-Mediathek):

Wenn die Lüge zur schönen Wahrheit wird
Wenn die Farben in Schwarz versinken
Wenn der Frühling sich wie Winter anfühlt
Wenn das Feuer nicht mehr wärmt

Hart sind die Zeiten

Weitere Annäherungen daran, wie die inneren Bewegungen mit den Zuständen um uns her in Verbindung stehen, stellen noch andere (mehr als nur) Musikprojekte vor: Sampling the World von Arthur Henry, ein ambitionierter Versuch, mit Bildern und Sounds das Gemeinsame von Menschen mit dem Lebensgefühl in ihren jeweiligen Heimatorten einzufangen – und wiederzugeben. Unlängst erschien ein Video mit dem Titel “I remix the people of KYIV” und versetzte uns auf die Fährte seiner Arbeiten, die bezeugen, dass “da draußen” viel mehr Einfühlsame umgehen als wir glauben …

Auf der Fährte des ...So wie auch Yevgeniy Breyger, aus dessen Buch “Frieden ohne Krieg” wir in dieser Nachtfahrt das Gedicht “Streu.Obst” zweistimmig vortragen werden. Unsere Begegnung mit ihm bei seiner Lesung im Literaturhaus hat einen längst überfälligen Kontakt von erlittenen Schrecklichkeiten mit einer tiefen Gefühlswahrnehmung für das Lebendigsein geschlossen. Etwas, wonach wir schon immer und immer wieder suchen, findet sich auf der Fährte des … Alles? Nichts? Lebens? Peter Gabriel hat es in “Live and let live” so formuliert: “Just how much does it have to hurt before you let go the pain? Just how deep does it have to be before you yearn to be free again?” Der Begriff “Forgiveness” muss auf jeden Fall noch näher untersucht werden, was so wie hier damit gemeint ist und inwieweit er sich als Schlüssel zur Befreiung vom erlebten Unrecht eignet (wir werden dem in einem Artarium nachgehen). Eins ist deutlich wahrnehmbar: Es riecht verdächtig nach einem möglichen Ausweg aus der Spirale der Gewalt in und um uns.

Folgen wir dieser Fährte

Every wound can lock you away
You can walk or you can choose to remain
Everyday can pass you by
While you were holding the key

 

Frieden ohne Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Februar — In unserer letzten Nachtfahrt über Verdrängungen (etwa bei 1:25:35) stellt Christopher Yevgeniy Breygers neues Buch “Frieden ohne Krieg” vor – und mir fährt die ganze seit zwei Jahren angestaute Wut über dieses tagtägliche Verbrechen namens “Ukrainekrieg” aus dem Gesicht. Kurze Zeit später ist auch mir klar, dass ich diesen Autor, der etwas in Worte gefasst hat, das ich so lange Zeit in mir gespürt habe und dabei nie sprachgedanklich zum Ausdruck bringen konnte, unbedingt livehaftig erleben will. Und so besuchten wir am Montag seinen feinerweise von prolit organisierten Auftritt im Literaturhaus, um den Menschen hinter den Gedichten kennen zu lernen. Was wir dabei erlebt haben – und wozu uns diese Begegnung inspiriert – davon erzählen, spielen und lesen wir heute.

Yevgeniy Breyger - Frieden ohne KriegDie doch recht plötzliche Bewusstwerdung der Tatsache, dass es nun schon zwei Jahre sind, seit wir erstmals vom ungezügelten Ausbruch der russischen Gewalt gegen die Ukraine sprachlos geworden sind, nötigt uns nachgerade zu einer neuerlichen Betrachtung unserer damaligen Reaktionen. Und zur Überlegung, auf welchen Weg wir uns seitdem gemacht haben, ja, wohin uns das alles inzwischen führt. Ich erinnere mich an unser fast schon verzweifeltes Festhalten am Werk einzelner Künstler aus den “betroffenen” Ländern, an das Herbeizitieren exemplarischer Reaktionen aus aller Welt, die wir als irgendwie “gegen den Strom” empfanden – und an einige Ausblicke hinter den “kyrillischen Vorhang”, die uns mit der Gefühlswelt der Menschen in Verbindung bringen sollten, von denen wir so viel hörten – und die wir doch so wenig verstehen. Da fällt mir die unlängst erst in einem Dokumentarfilm erläuterte дедовщина ein. Die russische Gesellschaft ist von dieser “Häfenhierarchie” schon so durchsetzt wie ein Brot von einem Schimmelpilz. Die Begrifflichkeit dieses Gewaltsystems kommt in deutschsprachigen Medien kaum jemals zur Erwähnung. Ob das vielleicht damit zusammen hängt, dass die allermeisten von uns nicht sehen, nicht spüren und auch lieber gar nicht wahrhaben wollen, von was für schädlichen Myzelen unsere eigenen Gesellschaften durchwuchert sind? Um bei der Pilzmetapher zu bleiben – wir sitzen alle im selben Brot. Das Brot ist voll.

Von Yevgeniy Breyger heißt es, in ihm seien zwei Persönlichkeiten zugange, eine traumatisierte und eine kindlich verspielte. Diese beiden Seiten seiner selbst derart in Balance zu bringen und auch zu halten, das macht die Faszination seiner Sprache als ein Unterwegssein zu sich selbst aus, dem man ohne abspaltende Verrenkungen des Geistes begleitend beiwohnen kann. In Frieden ohne Krieg tritt uns der Mensch hinter dieser Sprache als jemand entgegen, der sich entschlossen hat, auf dem Weg zu sich selbst zu bleiben, ohne Maskierung und künsltiche Pose, einfach offen …

“Frieden ohne Krieg” – das ist ein richtiger Denksprengstoff für die Gegenwart.

Danke.