Jenseits von Schatten

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. NovemberDie Schatten werden länger. Sagt man so – und passt auch in die Jahreszeit. Das hat – in unserer Außenwelt – mit dem Stand der Sonne zu tun. Wie verhält sich das hingegen mit den anderen möglichen Bedeutungen der Begrifflichkeit? Den Schattenanteilen der eigenen Persönlichkeit, etwa dem “Archetyp Schatten” nach C. G. Jung? Oder den dunklen Stellen in unserer Vergangenheit, die nicht nur die eigene Geschichte, sondern auch die der gesamten Familie, sogar die eines ganzen Landes überschatten? Welches Licht der Erkenntnis kann hier an die Stelle der Sonne treten? Oder ist es ein Licht des Lebenwollens (wie auch immer das ausschaut), ein wärmendes Feuer vielleicht, das nicht nur das Dunkle erhellt, sondern die tanzenden Schatten verwandelt, in …

Jenseits von SchattenIch stelle mir ein neugieriges Kind vor, das herausfinden möchte, was unter seinem eigenen Schatten ist. Es bückt sich zu ihm hinab, nimmt ein Ende zwischen die Finger, dreht ihn behutsam zur Seite (so wie man ein Etikett von einem Buch löst) und ja, blättert regelrecht um in seiner Welt, schlägt eine neue Seite in der Wirklichkeit auf und … Was ist da, hinter dem Schatten?

An dieser Stelle mag jemand einwenden, dass es sich bei solchen Überlegungen um nichts anderes als reine Illusion handelt. Um Hirngespinste und Phantastereien, die nur Zeit kosten und “in der realen Welt da draußen” keinerlei Nutzwert haben. Bevor wir nun entgegnen, dass genau dieses Nützlichkeitsdenken sich in der Realität der Zuvielisation mit all ihren unerwünschten Wirkungen bis zur Infragestellung allen Lebens wiederspiegelt (und dabei wie ein Glaubenssatz andauernd unhinterfragt vor sich her wiederholt wird), wollen wir doch lieber in die Welt der Poesie eintauchen

Jenseits von SchattenDie beginnt nämlich dort, wo uns das scheinbar so selbstverständliche Unterscheiden von Licht und Finsternis, oben, unten, richtig, falsch, hinter meiner, vorder meiner, links, rechts, wir, die anderen … zwischen den Definitionen verschwimmt. Wir leben nicht nur da draußen sondern zugleich auch in einer Welt jenseits von Kasterln und Kategorien. So wie es auf der Welt derzeit zugeht, hat es den Anschein, als gäbe es da zwei verschiedene Welten, die sich noch dazu in einer Art Kriegszustand mit- oder eigentlich gegeneinander befinden. Doch ist dem wirklich so? Oder sind die zwei Welten nicht vielmehr zwei Aspekte ein und derselben Wirklichkeit? Die es nur im Zusammenwirken dieser beiden Wirklichkeitsanteile gibt? Dann wäre das Ausblenden und in weiterer Folge das Abspalten (das Verleugnen, Negieren, Nichtfürwahrhalten) einer der zwei Hälften des Ganzen so etwas ähnliches wie ein teilamputiertes Leben. Dann wäre das Fürnichtexistenterklären und bei trotzdemiger Wiederinsbewusstseindrängung das Ausradieren- und Zerstörenwollen die logische Konsequenz und damit einhergehend die sich bei vollem Bewusstsein selbst lobotomiert habende Restmenschheit. In diese Regionen eigener Schuld an sich selbst vorzudringen – das tut wirklich weh.

Jenseits von SchattenJenseits von Schatten – das wäre dann also dort, wo sowohl Körper als auch Geist und Seele wieder ins Lied des Lebens einstimmen, ohne gegeneinander kämpfen zu müssen. Dort, wo Innen- und Außenwelt ein und derselben Wirklichkeit dienen, ohne lebenskraftraubenden Krampf und selbstverbehindernde Spaltung. Eine Wirklichkeit, in die einzutreten mit den Mitteln der Kunst befördert werden kann, die sich aber oft auch der Zugänglichkeit entzieht, weil manch schreckliche Erfahrung uns in ein dauerhaftes Erstarren versetzt hat. Und weil ja die meisten von uns an diesem oder jenem Punkt der Gefühlswahrnehmung mit der Zeit blind, taub oder sonst unempfindlich gemacht worden sind. Darum sei an dieser Stelle auf den Wert der therapeutischen Beziehung verwiesen, denn der schrecklichen Medusa lässt sich nur mit Hilfe eines Spiegels der Kopf abschlagen. Dann aber entspringen ihr Pegasus (das geflügelte Pferd) und Chrysaor (der Krieger mit dem goldenen Schwert). Hier gedeutet von Peter Levine.

Wer keine Visionen hat, sollte zumindest neugierig bleiben.

 

Whatever, Anyway

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. OktoberZwei von uns beiden besonders gern benutzte Symbolwörter. Immer dann, wenn der Redefluss ans Unendliche aussagbarer Möglichkeiten gelangt und es daher notwendig wird, dass der Gesprächspartner selbst weiterdenkt und spontan-assoziativ in die schier unerschöpfliche Welt der Wortbilder “hineingreift”, um das “hervorzuformulieren”, was immer schon im Gefühl da war, jedoch noch nie als Sprache gesagt werden konnte, immer dann, wenn das Erzählen von Gedankenbildern an seine Grenzen kommt (weil die Bilderfluten zu vielgestaltig werden, um sie in Gleichzeitigkeit zu beschreiben), darf eine Kunstpause entstehen … Und danach als Überleitung von einem zum anderen, als Einladung zum Eigenen ….“Whatever” ….“Anyway” ….

Whatever, AnywayIndem wir uns also mit Sprache und mit den durch sie nach Möglichkeit auszudrückenden Empfindungen oder Seinszuständen beschäftigen, sind wir immer in zwei Richtungen unterwegs. Sowohl vom Gefühl her in die bestmögliche Ausdrucksform als auch vom Ausgesagten her in die ihm jeweils zu Grunde liegenden Aggregatzustände der Seele, des Geistes, des Lebenswhatever. Und genau so herausfordernd, wie ein sich bewegendes Lebewesen auf einem Bild einzufangen, ist es auch, die Regungen und Bewegungen des Lebens an sich als eine sprachliche Momentaufnahme darzustellen. Lebenslanges Lernen ist dafür die Grundlage, sollen doch Aufnahme und Wiedergabe des mitzuteilenden Gefühls mit zunehmender Erfahrung immer zutreffender und wirksamer werden, uns selbst wie auch den/die anderen berühren und so etwas in uns allen bewegen und bewirken. Wenn Stillstand den Tod bedeutet, dann bedeutet Unterkomplexität nur Langeweile.

Whatever, AnywaySchnitt. Was war zuerst da? Das Gefühl oder sein Ausdruck? Wir reisen also auch in der Zeit hin und her, vorwärts, rückwärts. Während wir uns voran bewegen zugleich in die entgegengesetzte Richtung”. Ursache und Wirkung? Wirsache und Urkung. Viele Andeutungen. Stellen wir uns die Fragen unserer Vorfahren, die sie ihr Leben lang unterdrückt haben, weil sie sonst nicht überlebt hätten? Zum Beispiel, ob wir überhaupt in dieser Gesellschaft leben wollen? Oder wie diese Gesellschaft beschaffen sein müsste, damit wir sie bejahen können? Wir mäandern durchs vorhandene ABC auf der Suche nach neuen Worten. Wir fühlen den Klang der weiten Räume zwischen LSD und DNA. Und Antworten? Unsere eigenen Akkorde in die sich ständig fortschreibende Symphonie des Lebens einbringen, ihre Harmonie aus Schrägklang und Erhebung durch ein paar unerhörte Wendungen, uns unserer Endlichkeit bewusst werdend, ins Unvollendete denken.

Whatever, AnywayIch sehe uns als Geschichten Geschichten, die wiederum Teil von anderen Geschichten sind und dabei zugleich eigenständig erzählte. So ist unsere Geschichte einerseits das, was uns erzählt, andererseits aber genauso das, was wir verändern, indem wir uns erzählen. Einschub: “Das ist ein toller Gedanke. Lass ihn uns ausformulieren! Und schauen wir gleich, was er mit uns macht.” Genau so funktioniert das Mediopassiv, eine Verbform oder ein die Handlungsrichtung bestimmendes Genus Verbi, das etwa wie im altgriechischen “Medium” bedeutet, das Subjekt (in unsrem Fall die erzählende Person) ist beides zugleich, also sowohl aktiv das Geschehen gestaltend als auch passiv die Auswirkungen desselben Geschehens erfahrend: Eine Geschichte, die wir erzählen, ist zugleich eine Geschichte, die sich uns erzählt. Und in diesem Vorgang verändert, ja verwandelt nicht nur der Erzähler die Geschichte, sondern eben auch die Geschichte den Erzähler. Und so weiter

Denn wenn sich eine Geschichte und ein Erzähler verändern, dann verändert das ja auch alle anderen, damit in Beziehung stehenden Geschichten und deren Erzähler. Von hier an wirds echt komplex und … whatever

 

Das angewandte Paradoxon

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. JuniDie Liebe ist ein angewandtes Paradoxon. Oder ein guter Witz, in dem zwei eigentlich nicht so recht zusammen passen wollende Ebenen zueinander in Beziehung geraten. Paradoxes ereignet sich unvorhersehbar und gerade das macht seinen Charme aus. Wie wenn auf einmal eine Tür aufgeht, dort wo nie zuvor eine war – oder eben doch? Man weiß es nicht, und das ist gut so. Andernfalls wäre es ja orthodox, und das haben wir nicht so gern. Bilddenker reagieren besonders positiv auf Paradoxien, endlich einmal sind sie nicht mehr unterfordert beim Herstellen von neuen Zusammenhängen. Und wie ein guter Witz bringt einen das zum Lachen, wie die Liebe macht einen das glücklich. Daher soll man diese Sendung nicht “einfach nur anhören”man soll sie erleben.

Das angewandte ParadoxonMan sollte das Paradoxon jedoch nicht mit dem gezielt erreichbaren “erweiterten Bewusstsein” und seinen lustigen Nebenwirkungen velwechsern. Es ist vielmehr eine recht unverfügbare Draufgabe zu solcherlei Erfahrungen, seien sie nun durch Mystik, Trance, Drogen oder was auch immer bewirkt. Die Wahrnehmung des Paradoxen und seiner näheren Verwandten vom Surrealen bis zum Absurden tritt allerdings in psychischen Ausnahmesituationen gehäuft in Erscheinung (aber eben nicht ausschließlich, sonst wärs ja nicht paradox). Ein wahrer Meister in der Anwendung und Darstellung dieser Phänomene ist der als Käptn Peng bekannte Robert Gwisdek, in dessen Video “Der Anfang ist nah” auf vielen Ebenen Phantasie und Wirklichkeit … hahaha, glücklich! Der Umkehrschub ist eingeschaltet und die Welt kann so erlebt werden, wie sie wirklich ist. Ein Füllhorn der Phantasien und Wünsche. Meine Heimatstadt ist ein Friedhof der Ursache

Das angewandte ParadoxonAn dieser Stelle wollen wir uns bei der unglaublichen Facebookseite “Street Art Utopia +” bedanken, von der wir die Bilder für diesen Artikel empfangen haben. Und zu Entdeckungsreisen in deren weite Bildwelten anregen, aus denen sich kunstvoll gestaltete Paradoxien zu tiefgründigen Themen finden lassen. Und gleich noch eine Würdigung, die im Zusammenhang mit unserer Sendungsgestaltung steht: Heidi Neuburger-Dumancic von GOOD MEDIA SOLUTIONS (die neulich für einen Filmdreh bei uns zu Gast war) illustriert ihr Verhältnis zur Sprache mit einem Zitat aus dem Internet: “Words cast spells. That’s why it’s called SPELLING.” Damit unterbrechen wir diesen Artikel indem wir ihn fortschreiben (wie paradox) und sagen hiermit: “Was die spontan-assoziative Aufführung dieser Radioreise ins angewandte Paradoxon anbelangt, können sie uns vertrauen. Wir sind Bilddenker und somit oft in psychischen Ausnahmezuständen unterwegs, da kann also grundsätzlich nichts schiefgehen. Lehnen sie sich zurück (oder wohin auch sonst), entspannen sie sichund erwarten sie das Unerwartete.”

Das angewandte ParadoxonEs wird geschehen. Sobald die Menschenvernichtungsmaschine, eine Art Fleischwolf, dessen Zweck es ist, die Phantasiekinder, die von oben in ihren Trichter hinein gestopft werden, zu angepasst verviereckten Bravhampeln zu zerquetschen, in die entgegengesetzte Richtung”, also umgekehrt funktioniert, werden all die lebenslang abgetöteten, zur bloßen Funktion degradierten, von Wut auf die enttäuschte Liebe verstopften Gefühle, Phantasien, Spontanismen und Ideen wieder zu Lebewesen zusammengesetzt und entsprießen dem Todestrichter in den unendlichsten Wunderfarben sich ständig verändernder Möglichkeitsformen (und ich deute nur an). Wenn der Umkehrschub also erst einmal aktiviert ist – und ja, da ist ein Hebel außen am Gehäuse, den das missbrauchte Kind selbst umlegen kann – dann gibt es kein Halten mehr, dann geschieht es, dann ereignet es sich … all das, von dem immer schon klar war, dass es so sein sollte wie es nun einmal ist.

Na dann … Wer bist ich?

 

Hinter den Spiegel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. Mai – Der Spiegel scheint eine letzte Grenze zu sein. Und er kann viel bedeuten: Wie wir uns selbst sehen. Wie andere uns wahrnehmen. Wie wir gelernt haben, uns selbst zu begreifen. Aber der Spiegel ist tückisch, zeigt er uns doch alles spiegelverkehrt. Und nicht nur das, unser Gehirn glaubt, aus den einzelnen Eindrücken des Spiegelbilds eine allgemeingültige Aussage über unsere Wesensart hochrechnen zu müssen. Und bald stecken wir fest – in einem Selbstbild, das nur noch wenig mit dem zu tun hat, wer wir eigentlich sind. Dieses Phänomen lässt sich bei einem Besuch im Spiegelkabinett recht einleuchtend nachvollziehen. Oder beim Versuch, der Zahnärztin ohne hinzuzeigen zu erklären, wo es weh tut. Doch, wie gesagt, Spiegelungen betreffen nicht nur unser äußeres Abbild.

Hinter den SpiegelWir widmen uns in dieser Sendung verschiedensten Versuchen, die wahrnehmbare Wirklichkeit so zu verändern, dass ein Betreten von Räumen jenseits der gewohnten Vorstellungswelt möglich wird. So formuliert der Künstler Alexander Schreilechner: “Spiegelbilder von dreidimensionalen Objekten ….. lassen Objekte und Zeichnungen magisch, lebendig und in einem völlig neuen Licht erscheinen.”

Das Abenteuer, in uns selbst neue Welten zu erschaffen, enthebt uns nicht nur aus der frustrierenden Mühsal, einzig und allein in der immer bevölkerteren Außenwelt um unseren Platz zum Leben zu kämpfen. Viel mehr noch befähigt es uns endlich auch dazu, die unendlichen Räume unseres inneren Seins nach unseren Bedürfnissen zu gestalten und die dabei hinderlichen Täuschungen (Fehleinschätzungen und Lügen), die von außen in uns hinein gespiegelt wurden, umfassend unschädlich zu machen.

Hinter den SpiegelDas klingt doch zu schön, um wahr zu sein. Ist es aber, auch wenn alle auf uns einprasselnden Unkenrufe, Fernsehwerbungen und schlechten Gewissensbisse immer und immer wieder das genaue Gegenteil behaupten. Man kann sich im Labyrinth der Spiegelwelt so sehr verirren, dass man durchaus nicht wieder “nachhause” findet. Doch hinterfragen wir an diesem Punkt einmal das uns innewohnende Welt- und auch Selbstbild. Auf welches Abenteuer sollen wir uns auf keinen Fall einlassen? Auf uns selbst und die unendlichen Möglichkeiten unserer Entwicklung? Oder auf das andere, das (ich sage das hier einmal frei heraus) keines ist. Oder was soll an einem sklavischen Dasein als Befehlsempfänger vererbter Verhaltensweisen mit einem minimalen Spielraum für Veränderung überhaupt abenteuerlich sein? So etwas riecht nach Langeweile und zunehmender Depression, nach gähnender Leere genau dort, wo eine Frage nach dem Sinn gestellt werden könnte. Geh bitte! Und noch eins: Wer spricht denn da in deinen, meinen, unseren Gedanken? Wer soll das sein, der/die uns Angst macht vor uns selbst? Es ist das Wesen des Abenteuers, ein Wagnis einzugehen, sich auf das Schreckliche wie auf das Schöne einzulassen, ohne den Ausgang vorher zu kennen.

Hinter den SpiegelMancherlei Methoden, Techniken und Kunst-Kniffe können uns dabei helfen, die Einschränkungen des alltagsüblichen Bewusstseins zu überwinden und sozusagen hinter den Spiegel vorzudringen. Nicht immer ist es ratsam, diese allein und ohne gute Begleitung anzuwenden. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, haben wir auf dieser Reise einen Weggefährten aus der Welt der inneren Entdeckungen mit an Bord, der es uns ermöglichen wird, zwischen den Zerrbildern und Projektionen eine dritte Perspektive zu etablieren. Die Methode der triangulären Peilung wird hier im Gespräch und in der Sendungsgestaltung zur eigenen Positionsbestimmung im oft undurchdringlichen Dickicht innerseelischer Störsignale angewandt. Über diese Metapher hinaus freuen wir uns ganz allgemein auf “einen frischen Wind” sowie auf jedwede Einlassung, die unser neuer Mitnachtfahrer Matteo aus dem unendlichen Unverfügbaren mitbringen wird. Das Abenteuer dieser Sendung kann beginnen

Wir sind ein geiles Institut

 

Poesie und Eigenart

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. November – Du wachst plötzlich auf und befindest dich mitten in deinen ersten Lebenstagen. Was hast du erlebt? Wie fühlt es sich an, gerade eben erst neugeboren zu sein? Schön, wenn es für dich irgendwie schön war. Für mich war es schrecklich. Auf einmal krieg ich eine verstopfte Nase und bekomme keine Luft mehr. Und ich denke: “Ob ich das damals auch schon so überlebt hab?” Eigentlich wollte ich mich ja fragen, ob ich das damals auch schon so ähnlich erlebt habe, doch auf dem Weg zur Formulierung hat sich das Wort unmerklich verwandelt und ich muss lachen. Das ist keine bizarre Fehlleistung, das ist Poesie. Wer vermag zu sagen oder wie wollte man “definieren”, wodurch so ein sprichwörtlich verdichteter Augeblick” zustande kommt und wie man ihn fasst?

Poesie der EigenartDamit verhält es sich wohl so ähnlich wie mit Kochrezepten. Natürlich lässt sich minutiös beschreiben, was in einer Torte enthalten ist und wie sich welche Aromen zum erhofften Ergebnis verbinden sollen. Doch ob es dann auch so schmeckt, wie man es sich erwartet hätte? Worin genau besteht jene Qualität, die in Ausrufen wie “Das ist mit Liebe gemacht” gipfelt? Oder noch besser “Diese Torte ist ein Gedicht”? Das bloße Aneinanderreihen von Anweisungen (und wenn diese noch so korrekt befolgt werden) führt noch lange nicht zu einem Ergebnis, von dem man sagen könnte, dass es gut riecht, gut schmeckt, gut ausschaut oder sich überhaupt irgendwie (vorzugsweise gut) anfühlt. Es kommt mir so vor, als steckten wir in einer Welt von Kochrezepten fest. In einer Welt voller Menschen, die daran glauben, dass das richtigrum Runterradeln von Backanleitungen und (hier verlassen wir die Metapher) Verhaltensvorschriften der Sinn des Lebens sei. Das erachte ich allerdings für eine erhebliche Entgleisung dessen, was am Leben an sich lebenswert ist. Nämlich, dass es sich anfühlt. Dass es riecht, dass es schmeckt, dass es klingt, dass es leuchtet, dass es unterzugehen droht, dass es übersteht, dass es flüstert, dass es poltertund dass es sich reimt.

Poesie der EigenartWomit wir dann auch schon mitten drin wären – in dem, was wir hier so veranstalten und – indem wir es für uns selbst ausüben, allerohrs “zu Gespür bringen”. Nämlich unsere Textcollage “Radio ist Resonanz”, die wir für den 25. Geburtstag der Radiofabrik entwickelt haben – und die wir in dieser Sendung ganz neu überarbeitet und zweihasenstimmig vortragen werden. Live vor unserem unsichtbaren Publikum und fein garniert mit der wunderbaren Musik von Nils Petter Molvaer. Warum wir das tun? Weil es sich reimt. Und weil für uns schon das Proben Poesie erzeugt. “Der Begriff bedeutet im übertragenen Sinn eine bestimmte Qualität. So spricht man etwa von der Poesie eines Moments oder einem poetischen Film und meint damit, dass von dem Bezeichneten eine sich der Sprache entziehende oder über sie hinausgehende Wirkung ausgeht, etwas Stilles, ähnlich wie bei einem Gedicht, das eine sich der Alltagssprache entziehende Wirkung entfaltet.”   (Wikipedia)

Poesie der EigenartDas eigenartige daran ist, dass sich diese Kunst unmittelbar auf einen übertragen kann. Dass sie einem “zu Herzen geht” wenn sie “von Herzen kommt”. So bedeutet eigenartig mehr “aus sich selbst heraus entwickelt” – und nicht “seltsam und verschroben” (obwohl der Sprachgebrauch dies in seiner oft abwertenden Tendenz nahelegt). Irgendwann habe ich angefangen, die verdrehte Weltsicht der Wertvorgaben wieder zurück auf die Füße zu stellen und zum Beispiel das Wort EigenArt nur noch so zu schreiben (und somit umzudenken) im Sinne von SelbstKunnst. Mit zwei N assoziiert sich das dann zu Möglichkeit. Und schon kann allerhand passieren, woran du nicht einmal im Traum zu glauben gewagt hast. Die erschreckende Erkenntnis, dass du nie das bekommen hast, was du von Anfang an gebraucht hättest. Nicht irgendeine Sache in einer bestimmten Situation, das wäre zu banal. Sondern gespürt zu werden, willkommen geheißen und bejaht, bestätigt. In all deiner Eigenart – in dem, wer, wie und was du bist. Und die unvorhergesehene Begegnung mit einem unbekannten Kind, auf das du instinktiv genau so reagieren kannst, wie damals nie auf dich reagiert worden ist. Resonanz zu erfahren, so erklärt das jedenfalls Hartmut Rosa, setzt eine grundlegende Antwortbereitschaft voraus.

Frequenz, Resonanz, Poesie.

 

Mehr als nur …

>> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 6. Oktober – Was wir hier machen ist mehr als nur … eine monatliche Radiosendung. Da steckt viel mehr dahinter als nur … Musikdarbietung, Textgestaltung, Thementiefgang und nicht zuletzt Unterhaltung. Was wir hier machen hat viel mit dem Motto zu tun, das die Radiofabrik anlässlich ihres 25-jährigen Bestehens gewählt hat. Ein Motto, von dem wir überzeugt sind, weil es dem entspricht, wer wir sind, was wir tun und wie wir das zum Ausdruck bringen. Uns so mitzuteilen, mit euch zu teilen, was uns beschäftigt und wie wir uns dabei über die Jahre entwickeln, das ist nur in einer von kommerziellen, politischen und weltanschaulichen Machtinteressen freien Umgebung möglich. Genau daher machen wir gern mehr als nur Tschinn-Bumm.

Mehr als nur ...Es sind die Geschichten hinter der “Geschichte”, die erkennen lassen, was “unter der Oberfläche” eigentlich geschieht, was “hinter der Fassade” wirklich stattfindet und was “jenseits des Alltäglichen” an Abenteuern zu erleben wäre, wenn wir die Grenzen überschreiten. Wie das gehen soll? Das können wir euch nicht sagen. Wir können euch nur zeigen, wie wir leben. Und das ist schon sehr viel. Dass das überhaupt möglich ist, ist ein großer Verdienst dieser genialen Konstruktion namens “Freies Radio”. Denn was da Tag für Tag von vielen Menschen aus eigenem Antrieb (und meist ohne Bezahlung) hergestellt und “dargelebt” wird, das ist die Essenz dessen, wozu Medien als Mittel zur Mitteilung zwischen einander eigentlich da sein sollten. Da geht es darum, was jemand von sich zu sagen (oder zu zeigen) hat, nicht darum, was jemand von wo auch immer eingerummst bekommt, was dann auswendig aufgesagt wird … nur um eine möglichst große Gruppe dahingehend zu beeinflussen, dass sie sich so verhält, wie das Firma X, Partei Y oder Religion Z zwecks ihres Machtausbaus haben möchten.

Mehr als nur ...And like words together
We can make some sense
Much more than this
Way beyond imagination
Much more than this
Beyond the stars
With my head so full
So full of fractured pictures
And I’m all there
Right next to you
So much more than this
There is something else there

Peter Gabriel – More than this

Im Gespräch mit unserer langjährigen Programmkoordinatorin Eva Schmidhuber kam mir folgendes in den Sinn: “Was wir hier herstellen ist Germ der Gesellschaft.” So wie die Wirkweise eines Enzyms (dass sich die einzelnen Zutaten beim Backen zu einem genießbaren Ganzen verbinden) zunächst eher indirekt bemerkt wird (weil der Teig eben “schön aufgegangen” ist), so lassen sich die feinen Vorgänge zwischen Menschen und ihren Mit-, Um- und Innenwelten zunächst besser indirekt (unbewusst, emotional, atmosphärisch) darstellen, auch um sie vor der Verwurstung im Nutzzweck des großen Geschäfts zu bewahren. Auch das ist etwas, worin wir uns hier versuchen.

Mehr als nur ...Kunst (oder eben “Kunnst”, wie wir im Sinn von “könntest” gern sagen) ist eine Möglichkeitsform. Wie das Gestalten einer Sendung im Freien Radio. Wo wir die Zutaten unserer Erfahrung mit neuen Einfällen und bislang Unbekanntem vermischen, wo wir die Welt, in der wir jeden Tag sind, “mit anderen Augen sehen”, wo wir all das, was in uns auftaucht, zu einem Augenblick verdichten – schaffen wir Gegenwart. Und die ist ebenso unendlich wie verwandelbar. Kunst kann Unsichtbares sichtbar machen. Das nicht gleich auf den ersten Blick sichtbare. Das Dahinter. Das Dazwischen. Eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Eine üblicherweise ausgeblendete ganz leichte Irritation, die meist nur im Vorbeigehen, aus dem Augenwinkel oder beim irgendwie “unscharf Hindurchschauen” wahrgenommen werden kann. Die abgesehen davon bei den meisten Menschen irgendwo im Hinterkopf unbehandelt abgespeichert bleibt, von wo aus sie manchmal unverständliche Botschaften ins Bewusstsein sendet. Uns macht es einfach Spaß, mit den Elementen zu spielen. Und das ist mehr als nur

Arbeit

 

Salzenburger Fetzenspiele

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. AugustDie alljährliche Ambivalenz im Salzburger Festspielsommer mit all ihren Chancen und Risiken und vor allem Nebenwirkungen beschäftigt uns naturgemäß auch heuer. Ein Gefühlsbild unseres Befangenseins zwischen dem möglichen Theaterglück und dem rundum erschallendem Kommerzwahnsinn. Niemand, der in Salzburg lebt, bleibt von diesem “Sowohl als auch” unbetroffen, ganz gleich, wie bewusst oder unterbewusst dieser Einfluss auch sein mag. Und genau deshalb ist eine lyrische Darstellung wie diese geeignet, die widersprüchliche Gefühlsvielfalt in der Festspielstadt einzufangen – und wiederzugeben.” So steht es geschrieben im Begleittext zu unserer Collage “Ein fester Festspielflash”. Salzenburger Fetzenspiele. Ein Zuhörtheater in 3 Akten

Salzenburger Fetzenspiele 1 (Erster Akt)Der Tod spielt offenbar eine zentrale Rolle, die ganze Stadt ist Bühne und das Bühnenbild ist überaus barock. Auf den verwehenden Spuren von Thomas Bernhard jener “Friedhof der Wünsche und Phantasien”, in dem er sich als junger Salzburger immer ungern wahrgenommen hat. Eine einsame Seele zerschellt am Pompösen der beherrschaftlichen Duck-dich-Architektur und an der Monstrosität ihrer Ausstrahlung. Erst aus der Perspektive eines Ausländerkinds (oder eines anderen an Gewalt und Machtmissbrauch leidenden Menschen) wird die Wirklichkeit hinter dem künstlich schönen Schein erkennbar. Das Spiel vom Sterben des reichen Mannes vor einem Publikum, das finanziell über Leichen geht. Und noch eine Hightech-Spielstätte in den letzten freien Raum gequetscht. Und abgesperrt. Und abkassiert. Und ab dafür. “Schau rauf zum Himmel, diese Erde, sie ist gelb wie Stroh. Komm, lass sie uns verbrennen, ich will es so. Jetzt weißt du, wer ich bin. Herzlichen Glückwunsch

Salzenburger Fetzenspiele 2 (Zweiter Akt)“Deutsch Sprach sein Kunst. Sein ein Kunst-Sprach. Vaterland sein Kunst. Deutsch Sprach und Österreich Vaterland sein Kunst. Österreich sein ein Kunst-Land. Vater-Kunst-Land. Kunst-Vaterland. Salzenburger Fetzenspiele. Burgentheatern. Operan. Schuber und Brahmst. Schrammenmusik. Österreich sein ein Kunst-Land. Donau zu blau, zu blau, zu blau. Sein ein Kunst-Vaterland.

Viel Kunst heut nicht gut sein. Viel Kunst heut nicht viel gut sein. Sein viel Schmutzen. Kunst-Schmutzen. Sein viel viel Schmutzen. Viel viel Kunst-Schmutzen. Sein ich Kunst schutzen. Deutsch Sprach schutzen. Österreich Vaterland schutzen. Schutzen. Sein viel viel nicht Kunstler. Sein Kunst-Schmutzen. Sein Schmutzen. Schmutzenfinken. Schmutzenbacher. Pfui Gack.”             Entschuldigen sie, wenn ich jandle

Salzenburger Fetzenspiele 3 (Dritter Akt)Ein einigermaßen unorthodoxer Psychoanalytiker wurde unlängst gefragt, was in Jugendlichen so vor sich gehe, wenn sie auf “Sozialen” Medien dauernd mit Darstellungen zurechtgeschönter Idealfigur*inen zugeschüttet werden, die noch dazu auftreten, als hätten sie permanent Erfolg und umwerfend guten Sex. Er antwortete, dass es darauf zwei Reaktionen geben könne, nämlich entweder “Ich will auch so sein wie die” oder “Ich bring die alle um”. Nun wollen wir angespürs der recht ähnliche Auswüchse hervorbringenden Festspielsaison irgendwo zwischen Anpassung und Amoklauf in der Ambivalenz schweben bleiben – und die unendlichen Möglichkeiten des “Sowohl als auch” kultivieren. In diesem Sinn wählen wir nur Beiträge aus, die sowohl den kritischen Blick auf die Wirklichkeit nicht vermeiden, als auch kunstvoll der Phantasie der Verwandlung Raum bieten. Der bodenlose Bottich einer beinah leergefressenen Welt verwandelt sich in das kreative Vakuum des Neuerschaffens.

Bleib ba dir …

 

Maibam Oida

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 5. MaiWir vorverlegen uns diesmal um eine Woche, weil die Radiofabrik zum Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai 2023 eine “Lange Nacht der Pflege” der Pflegestützpunkt-Redaktion von Radio Helsinki übernimmt/ausstrahlt. Da stellen wir keinen Bam auf – das werden wir auf jeden Fall unterstützen. Abgesehen davon – Maibam oder mei Bam? Oder hängt das nicht eh alles unentwirrbar zusammen mit der allgemeinen Selbstermächtigung des Frühlings? “Des is mei Bam”, rief ich aus, als ich ihm unlängst wieder begegnete. Ich hatte ihn nämlich in den 60ern (da waren wir beide noch sehr klein) gemeinsam mit meinem Vater aus einer entlegenen Fichtenplantage befreit und ihn danach in den Garten meiner Tante verpflanzt. Dort steht er noch heute: Lebendiges Trotz alledem.

Maibam Oida KirchenturmOb Bam, Bimbam oder Maibam – wir spüren jener Lebenskraft nach, die allfrühlinglich das Wachsen, Werden und Wiederauferstehen in der Natur (auch in der Natur des Menschen!) bewirkt. Und jenen Kräften, die dem Austrieb entgegen wirken und die uns vom fröhlichen Erigieren himmliger Fruchtbarkeitssymbole abzubringen trachten. Das wird ein Reigen der widersprüchlichen Gefühlszustände, jedoch mit Betonung auf dem Kraftvollen, das eher nicht in äußerlichem Protz besteht (hihi), viel mehr in innerer Bewegung. Oder – was macht das Gras wachsen? Was genau? Eben. Und in diesem Sinn einer Hinwendung zum Kern der Kulturgeschicht’ kannvom Penis bis zum Glockenturm – alles vorkommen, was zu einer ordentlichen Emanzipation von den erfundenen Beherrschvereinen taugt. Hoch die internationale Maibamfeier und Freundschaft dem Frühlingserwachen! Keine noch so perfekte Weltausbeutung kann das Leben an sich zerstören. Doch sie kann es für uns unerträglich machen – und dagegen gilt es nicht enden wollend anzusenden – was wir hiermit wieder tun.

Maibam Oida ÖtscherpenisIm Freien Radio – was ja schon insofern sympathisch ist, als es demokratische Entscheidungen ermöglicht, die sich einer falsch verstandenen Sprachhygiene (“Dirty Words”) verweigern und uns so genügend Freiraum für den legendären Schwanz aus der “Alt-Wiener Futoper” bereitstellen. Es geht hier um Lebenskraft, auch im Widerstand gegen die drohende Auslöschung. Und angesichts des schon bald bevorstehenden 100. Geburtstags von Ernst Jandl müssen wir uns mit aller Entschiedenheit seiner eigenen Forderung anschließen: “Ich will, dass meine Sprechgedichte weiter ertönen, auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus.” Dabei meinte er die “kurze Dauer” seiner Lebenszeit. Entschuldigen sie hin oder her – es muss weiter gejandelt werden! Wesentliches auch jenseits des “kommerziellen Mainstream” wieder beleben – und bewahren, das ist unser subjektives Interesse. Ähnlich gestaltete derlei Brita Steinwendtner

Maibam Oida PhantasieDie Welt der Kunst, Musik, Literatur bietet sich darüber hinaus zur freien Entnahme in Gestalt einer inneren Zeitreise an. Du wanderst durch dein Leben und nimmst, je nachdem, was dich gerade anspricht, etwas aus den Regalen der unendlichen Möglichkeit, eine Geschichte, ein Lied, eine Lesung, ein Gedicht, ein Stück, ein Bild, ein Erlebnis … Und du nimmst es in dich auf, spiegelst dich darin, erkennst dich selbst wieder in etwas, das jemand ganz anderer vor langer Zeit, oder erst unlängst, aufgenommen, aufgeschrieben, aufgezeichnet hat. Ziemlich zufällig und ohne vorherigen Plan entdeckst du deine Welt in der Welt vieler Welten und wirst dadurch immer reicher an Erfahrung, die du mit ihnen allen teilst. Du hast Gefühle (sind es deine oder sind es ihre?) und willst sie ausdrücken (so wie die anderen oder so, wie es für dich stimmig ist?). Du sprichst vom Zauber der Verwandlung und vollführst (ist es dir bewusst oder ereignet es sich einfach so?) magische Phantasie. Denn in der Imagination steckt schon die Magie. Und in der Vorstellungswelt der Vielen, wie auch in deiner eigenen, warten längst viele Ausdrucksformensprungbereit wie die Knospen der Bäume im Frühling.

Alles was du siehst gehört dir.

 

Far more in common

> Sendungen: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. April“We have far more in common than that which divides us.” (Zitat von Jo Cox) Ich kann mir ja auch nie sicher sein, ob man rinks und lechts wirklich so schwel velwechsern kann – und ob das da auf dem Bild noch ein Baum ist oder schon ein Witz, den diese Stadt über sich selbst erzählt. Wir wagen einen Versuch wie immer mit kontrastierender Musik und kontroversen Texten, doch ohne ­“Moral von der Geschicht”. Die ist und bleibt ein offenes Ende und der eigenen Phantasie überlassen. Das Schöpferische in uns will nämlich zur Geltung kommen und soll dabei schön zweckfrei bleiben dürfen! Es geht ums Herzeigen und ums Verstecken, aber gleichzeitig und ausgewogen. Da kann ich mich verbinden ohne zu verschwinden. Das beglückt und schmerzt zugleich.

Far more in common (Hase 1)Ich liege nackt auf dem nassen Boden. Über mir flimmert goldenes Licht. Blätter fallen auf meine Haut – ein Atemhauch vergangener Träume. Ich spüre die Stille um mich herum und nehme sie an. Ich umarme die langsame Ruhe, das Schreien der Vögel, das Surren der Insekten, die Fühler der Ameisen. Ich bleibe liegen. Warte auf etwas, ohne zu wissen auf was. Ich weiß nur es wird kommen … Vom Wesen des Hasen inspiriert zu einem friedvolleren und gewaltfreieren Menschendasein – auf einer Welt voller Verbrecher und folgsamer Idioten. Gefängnis fürs bloße Äußern der eigenen Meinung. Majestätsbeleidigung! Zugegeben, die real existierenden Nazis waren viel brutaler – der geistige Stoff aber, aus dem ihre Terrorherrschaft bestand, war schon längst vorhanden (er ist es immer noch): Obrigkeitsglaube, Gehorsamkeit und gewissenloses Nachplappern der vorgeschriebenen Parolen (jetzt denkt mal selbst, welche das heutzutage sind). Willkommen im Zwischen und auch hinter den Zeilen!

Far more in common (Hase 2)Denn dieser Text besteht fast ausschließlich aus Ausschnitten unserer begleitenden Artikel aus 12 Jahren gemeinsamer Kunnst. Und die Auswahl der einzelnen Passagen wie auch die Zusammenstellung erfolgt möglichst spontan, unter Umgehung der bewussten Kontrolle und Berechnung – soweit nur irgend möglich, wenn man einen Artikel zu einer Sendung verfasst. Könnten nicht noch spannendere Einblicke ins üblicherweise Unerkannte, Unerforschte, Unaussprechbare zum Vorschein kommen, wenn man Bücher an einer völlig beliebigen Stelle aufschlüge, das so Gefundene daraus vorläse – und sich auf diese Weise eine noch nie zuvor gefundene Geschichte – erzählte? Eine Technik, die wir aus dem uralten Brauch des “Bibelstechens” ableiten und die wir heute als “erweitertes Bücherstechen” bezeichnen – und auch anwenden wollen. Es macht nämlich großen Spaß, das zu ergründen, was da in und um uns wirksam und immer vorhanden ist und was wir gemeinhin nicht bewusst wahrnehmen oder erkennen können. Nicht, dass wir dem, was sich da ereignet, einen Namen geben oder sonstwie eine Definition überstülpen müssten. Nein, es mag, wie wirklich es auch immer sei, im Unverfügbaren verbleiben – und uns auf seine Art begegnen.

Far more in common (Hase 3)… zurück zur Versenkung in den Abgrund des Endlichen und zu der restlos unguten Stimmung, die beim Betrachten der eigenen Ausweglosigkeit aufkommt. Noch dazu inmitten einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Betrügern und Berserkern zugrunde gerichtet wird, dass es nur so kracht. Wie heilsam wäre in dieser Situation ein herzhaftes Lachenkönnen und das Gefühl, sich mit Sprachwitz und Verstand zumindest gegen ein paar Erscheinungsformen der allumbrodelnden Verblödungsindustrie eloquent zur Wehr zu setzen. Wer klopfet an? Asylsuchende Assoziationen auf ihrer Fluchtfahrt durch die Dunkelheit ans Licht. Die etwas andere Betrachtungsweise der uns interpretiert überlieferten Geschichte(n). Gruslig schön lustig und freischwebend. Frohgemute Verwurstung von Kulturstrandgut entgegen jeglicher Marktlogik. Keine Ahnung, was sich daraus dann im Verlauf der Sendung ergeben wird, aber irgendeinen dramaturgischen roten Faden braucht es immer …

Wir sind ein geiles Institut.

 

Literatur oder Selbsthilfegruppe

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 10. März – Bevor wir diesmal in unsere Bilderwelt aus Musik und Literatur eintauchen, wollen wir auf die Herkunft ihres heutigen Titels verweisen: Vor 15 Jahren war der Verleger Jochen Jung in der Sendung “Gierig auf Lyrik” zu Gast und äußerte dort, dass er mitunter den Eindruck von “Selbsthilfegruppe” gewinne, wenn er manchen Darbietungen zeitgemäß wirken wollender Lyrikpräsentation beiwohne. Worauf er mit dieser Formulierung anspielte, lässt sich inzwischen gut nachhören. Wir nehmen seine Ermutigung zur Selbstkritik und der damit einhergehenden Selbstreflexion zum Anlass, den etwa zu jener Zeit im Rahmen der ARGE Noah 2007 als Performance-Oper aufgeführten Text “mark will leben” einer kritischen Überarbeitung zu unterziehen – und im Radio vorzustellen:

Literatur oder Selbsthilfegruppe 1“Dieser Text erzählt exemplarisch die Geschichte von einem unter lebensbedrohlichen Bedingungen heranwachsenden Menschenkind und dessen oftmals verzweifelten Versuchen, einen Sinn in seinem Dasein zu begründen. Dabei zeigt er die Gefahren des Schweigens und der Vereinsamung auf – und stellt dem die Perspektiven eines künstlerischen Selbstausdrucks in Gemeinschaft mit anderen gegenüber. Und das ist wohl nur eine erste, äußere Schicht, wie bei der Zwiebel. Rein formal bedient sich das Wortkonglomerat bei verschiedensten Ausdrucksweisen und springt von songtextartigen Strukturen über Stream-Of-Consciousness-Passagen zu Tagebucheinträgen eines vielleicht 15-jährigen und dann weiter zu dramatischen Elementen. Will das überhaupt das sein, was man allgemein unter Literatur versteht? Das, was man allgemein unter Selbsthilfegruppe versteht, das will es jedenfalls nicht sein. Aber – was will es?

Literatur oder Selbsthilfegruppe 2Bei seiner Entstehung mischen sich ebenfalls vielfältige Eindrücke ineinander: Erinnerungen an eigene traumatische Erfahrungen, spontane Assoziationen mit Erzähltem und Miterlebtem, Eindrücke von Gesehenem, Gelesenem sowie sonst in der Kunst Dargestelltem, Träume und Phantasien, Besuche in der eigenen Kindheit, Groteskes und Monströses aus dem Fundus verdrängter Familiengeschichte. Verschiedene Versuche, hinter den Vorhang nicht nur des eigenen Abgespaltenen zu spüren und etwas von jenem Teil seiner selbst zu erahnen, der einem so verborgen wie verboten erscheint. Immerhin stellen wir uns mit ausreichendem zeitlichem Abstand nicht die Frage, was uns “der Dichter” damit sagen will – sondern fragen den Text selbst, was er möchte. Das ist ein erster Schritt zur Freiheit der Kunst – von ihrer ewigen (und überaus lästigen) Interpretation durch all die Deuter und Bedeutler, bei denen man sich doch stets die Frage “Cui bono?” (zu wessen Vorteil?) stellen sollte, die ich hier allerdings mit “Was habt ihr davon?” übersetzen würde. Doch ich deute nur an.”

Literatur oder Selbsthilfegruppe 3Der Kontext der Veranstaltung war nämlich die sinnhafte Notwendigkeit einer außerhalb der Deutungs- und Bedeutungshoheit hergebrachter gesellschaftlicher Anpassungs- und Verwertungszwänge stattfindenden Jugendkultureinrichtung, eines im besten Sinn des Wortes autonom verfassten Kunsterlebnisraums, der sowohl Selbsterfahrungs- als auch Gestaltungsmöglichkeiten offen zugänglich anbieten könnte. Und deshalb will der Text “mark will leben” das zugleich selbst- wie auch gesellschaftstherapeutische Potential von eben nicht nur Literatur, sondern jedweder aus eigenem Verwirklichungsbedürfnis entstehender Kunst aufzeigen. Er will einladen ins Unbekannte, mitnehmen ins Verdrängte und mit dem im Weggemachten Lebenden vertraut machen. Vielleicht verstört er dabei die eingefahrene Gewohnheit der Weltbetrachtung, vielleicht zerstört er dabei auch das eine oder andere längst bestehende Urteil über unmöglich Erscheinendes

Is there anybody out there?