Der Tapir zum Sonntag

Artarium am Sonntag, 28. April um 17:06 UhrDer Schriftsteller Peter Hodina veröffentlicht seit Jahren auf seinem Facebook-Profil einen “Tapir zum Sonntag” – und das unbeirrbar an jedem einzelnen. Doch was bei oberflächlicher Betrachtung eine liebenswerte Marotte zu sein scheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen als geradezu programmatisch. Denn Peter Hodina zelebriert die Wesensart seines selbst gewählten Wappentiers und verschmilzt derart mit dessen Persönlichkeit, dass er in seinen Texten auch die entlegeneren Früchte erschnüffelt und sich einen eigenen Weg durchs Dickicht des Denkens bahnt. Daher fragen wir uns, wie diese offenbar so befruchtende Beziehung zwischen dem Dichter und seinem Tapir entstanden ist – und welche Rolle das doch sehr besondere Tier in seinem Leben sonst noch spielt.

Der Tapir zum SonntagPünktlich zum World Tapir Day (am Samstag) und zum Erscheinen von Peter Hodinas “Beitrag zur Lage” kommt er endlich erstmals zu uns in die Sendung und liest höchstselbst und livehaftig aus eigenen Werken.

Wir kontrastieren seine Texte mit Liedern von Stiller Hasund wir vertrauen dem Spürsinn unseres unsichtbaren Publikums, hierbei die eine oder andere Resonanz zu erfahren. Denn so fest steht viel (oder wie das heißt) – “unbeirrbar” ist der Schlüsselbegriff, wenn man das Gemeinsame in der Lebens- und Arbeitsweise der Herren Hodina und Anaconda zu beschreiben sucht. Und wenn man das mit den charakteristischen Merkmalen des Tapirverhaltens in Verbindung bringen möchte … In eigenen Worten: Wenn da jemand seinen ureigenen Weg geht, auf eine Art und Weise denkt, fühlt, sein Leben gestaltet, die seinem inneren Wesen entspricht und sich dabei von nichts und niemand beirren lässt (also nicht ablenken, drausbringen oder gar verbehindern) – dann ermutigt mich das zu meinem eigenen Lebensentwurf. Stolz darauf, von ureigener Art zu sein

Solch erfreuliche Eigenart zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesamtwerk von Peter Hodina. Zum Beispiel Steine und Bausteine 1: “Aphorismen, Traumprotokolle, Lesefrüchte, gleichnishafte Erzählprosa, manchmal ein Gedicht. Griffe ins Volle, ins Leere, ins Dazwischen. Je nachdem. Es kommt auch auf den Lesenden an.” Oder in Spalier der Farne. Notate: “Wenn ich nur die andere Welt denke, sucht sich bereits etwas einen Weg. Es sind Versuche. / Selbst bist du Teil eines insgesamt Prozessierenden. Ein Regentropfen, ein Hagelkorn, Funke.” Rezension Richard Wall

Und wir machen mehr als nur

 

Piratenradio gegen den Nazistaat

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. AprilAm 30. März dieses Jahres wäre Walter Klingenbeck 100 Jahre alt geworden. Doch er wurde 1942 zum Tod verurteilt und 1943, im selben Jahr wie die ungleich bekanntere Sophie Scholl, hingerichtet. Er hatte gemeinsam mit drei weiteren Freunden ein sogenanntes Piratenradio errichtet, um von der gleichgeschalteten Nazipropaganda abweichende Informationen (etwa über den Kriegsverlauf) zu veröffentlichen. Das galt damals als Wehrkraftzersetzung und Hochverrat und führte in den meisten Fällen zu einem Todesurteil. Schon das bloße Weitersagen von im Radio Gehörtem (wenn es zum Beispiel Nachrichten aus dem Ausland waren) konnte lebensgefährlich sein, wie die Geschichte des Wiener Schülers Josef Landgraf zeigt, der diesen Naziwahnsinn zum Glück überlebt hat.

Piratenradio Walter KlingenbeckWalter Klingenbeck war ebenfalls 17 Jahre alt, als er sich entschloss, gegen die angebliche Allmacht der Diktatur aufzutreten. Wir wollen sein Beispiel in Erinnerung rufen, zumal gerade in unserer Zeit nicht wenige wieder mit dem braunen Erbe jener menschenverachtenden Ideologie liebäugeln oder gar herumzündeln. Für die Gestaltung der Sendung verwenden wir Auszüge des 2018 anlässlich seines 75. Todestags live dargebotenen “Akustischen Denkmals für Walter Klingenbeck” von “die grenzlandreiter” (Gerald Fiebig) und lesen aus verschiedenen Zeitdokumenten (Todesurteil, Abschiedsbrief). Doch wollen wir den Themenbogen noch darüber hinaus spannen. Zur besonderen Ausprägung jugendlichen Aufbegehrens und daraus erwachsenden Widerstands empfehlen wir diesen hervorragenden Artikel von Jürgen Zarusky. Und was den Bezug zur gefährdeten Gegenwart anbelangt, mag uns das Vater-Sohn-Gespräch, von dem Konstantin Wecker in “Vaterland” berichtet, zum Weiterdenken anregen. Das Vermächtnis Verstorbener “ins Leben erzählen” ist poetisches Erschaffen.

Dass da einer ausgerechnet das Radio als geeignetes Mittel zum Durchdringen des staatsgewaltlichen Normkonformismus ausgewählt hat, das ruft uns nicht zuletzt in Erinnerung, dass auch unser Sender, die Radiofabrik, aus einem Piratenradio heraus entstanden ist. Inzwischen ist es gesetzlich gesichert, dass “Personen und Gruppen, die in den öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Medien unterrepräsentiert sind” hier eine Meinungsäußerungs- und Veröffentlichungsplattform haben. Was wiederum aufzeigt, wie lebensnotwendig der Kampf für eine freie Gesellschaft generell ist.

Und er ist nicht vorbei …

PS. Zudem noch ein feiner Vortrag von Jürgen Zarusky über Walter Klingenbeck.

 

Burn The World

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. März – Um das Jahr 1990 herum tauchte in Salzburg ein junger Mann aus England auf, der uns mit Hingabe und Begeisterung von einem Musiker namens Roy Harper erzählte. Dieser sei schon seit den 60ern in der britischen Musikszene aktiv und habe einige der erfolgreichsten Rockgrößen maßgeblich beeinflusst, ja sogar mit ihnen zusammen gespielt, ohne jedoch selbst jemals “berühmt” geworden zu sein (außer in Insiderkreisen). Wer denn da so alles dabei gewesen sei, fragte ich, und hörte Namen wie Led Zeppelin, Pink Floyd, Jethro Tull, Kate Bush und Paul McCartney. Davon durchaus beeindruckt kaufte ich mir eine (damals noch) Schallplatte, auf der das eigenartige Stück “Burn The World (Part 1)” enthalten war, das auch der Ausgangspunkt für unsere heutige Hörreise sein wrd …

Roy Harper - Burn The WorldDenn der gute Mann da auf dem Cover ist nicht nur eine sozusagen unberühmte Berühmtheit. Es hat sehr gute Gründe, weshalb ihn so viele anerkannte Größen aus der Wunderküche der Rockmusik als einen wesentlichen Ideengeber für ihr künstlerisches Schaffen und ihre Weiterentwicklung begreifen. Nicht nur, dass er ein beachtlicher Gitarrist und ein hochkomplexer Lyriker ist, nein, da ist nocht etwas anderes: Roy Harper ist eine Art nimmermüder Ideenschleuderer, ein Darstellungsschamane seiner eigenen Innenwelt, der einfach nur einen Entwurf nach dem anderen “raushaut” zur freien Entnahme und “to whom it may concern”. Der Begriff Ent-Wurf ist hier wichtig, denn seine Werke sind irgendwie unfertig, sind Skizzen, Andeutungen, Ideen, gerade so weit ausgearbeitet, dass man erkennen kann, worum es geht – und doch zugleich so interpretationsoffen und zum Selbstweiterbasteln einladend, dass man sie gern aufgreift, sich anverwandelt und zu etwas Neuem und Eigenem umformt, gestaltet, transformiert. So gelangt das, was einer sieht, durch viele andere nach außen

Burn the World – ein Verwandlungsphänomen. Und gerade diese 1990 entstandene Arbeit über das Verbrennen der Welt – was wird hier angesprochen – Klimawandel? Revolution? Gewalt? Hass? Vergebung? Tod? Auferstehung? Wiedergeburt? – diese Collage aus Bildern und Visionen, aus An- und Bedeutungen, aus Klängen, Schreien, rasenden Empfindungen und einem offenen Ende – dieses im Jahr 1990 als gut 18minütiges Livesolo in London aufgezeichnete Inspirationskonglomerat kann uns zum Verwandeltwerden wie zum selbstmächtigen Verwandeln anregen.

Burn the World – es ist höchste Zeit.

 

I killed my mother

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. März – Es kommt sehr darauf an, wozu man “hässliche Bilder” verwendet. Indem man etwa über die Beschaffenheit von Gewalt berichtet, wie sie entsteht, gegen wen sie sich richtet und was sie letztendlich bewirkt. Der junge Regisseur Xavier Dolan ist ein Meister in der Darstellung des Abgründigen und führt uns vor Augen, wie sich weitgehend verheimlichter Missbrauch von Macht für seine Opfer anfühlt und auf ein ganzes Gemeinwesen auswirkt. In seinem ersten Spielfilm “I killed my mother” flößt er uns fast unmerklich ein Gefühl dafür ein, auf welch verzweifelt tragische Weise die unerkannte Schuld der Verursacherin mit dem alles Lebendige bedrohenden schlechten Gewissen des ihr Ausgelieferten kollidiert. Dabei hat sich die Mutter doch nur Enkelkinder von ihrem schwulen Sohn gewünscht.

I killed my MotherÜber die Bildwelten des queeren Kino-Wunderkinds mag man sich aus Geschmacksgründen streiten, zu den von ihm gewählten Themen passen sie allerdings stets wie die sprichwörtliche Faust aufs Auge, wie das Video zu “College Boy” von Indochine eindrucksvoll zeigt. Dieser Kurzfilm/Clip wurde wegen seiner drastischen Gewaltdarstellung noch dazu in Verbindung mit “christlicher Symbolik” vehement kritisiert und ist daher im Zuge der Mundgerechtmachung des kommerziellen Internets (andere nennen es Zensur) kaum irgendwo im Original zu finden. Ähnlich ergeht es auch vielen Videos der französischen Anarchistenband Achab, deren “Un Monde formidable” wir uns und euch im heutigen Kontext nicht vorenthalten wollen. Thomas Bernhard, Edward Snowden, Julian Assange? – Als Nestbeschmutzer (und Schlimmeres) gilt, wer auf verborgene Verbrechen hinweist.

Womit wir wiederum beim eingangs erwähnten Film “I killed my mother” ankommen. Was auf der einen Seite als völlig normal gilt, als ganz und gar natürlicher Wunsch “jeder Mutter”, nämlich von ihren Kindern Enkelkinder “zu bekommen”, das erweist sich auf der anderen Seite als unerkannter emotionaler Missbrauch, der bei seinen Opfern Schuldgefühle gegenüber ihrem eigenen Gesundsein und Lebenwollen hervorruft. Eine klassische Täter-Opfer-Umkehr also, die aufzudecken, zu benennen und einer sie weitgehend ignorierenden Gesellschaft ins Bewusstsein zu stellen, sicher kein Verbrechen ist – sondern ein unschätzbarer Verdienst am Gemeinwohl.

Noch dazu unter Zuhilfenahme von so wunderbarer Musik wie etwa dieser hier.

PS. Portrait von Xavier Dolan aus dem Jahr 2011, das auch die recht spezielle Entstehungsgeschichte seines ersten Films “I killed my mother” beleuchtet.

 

Ariadne von Schirach

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. März – Vorab erst mal von Schirach. Dieser Name. Da war doch was, abgesehen von dem von uns sehr geschätzten Schriftsteller Ferdinand von Schirach. Genau, der böse Baldur, der zur Zeit des 2. Weltkriegs als Gauleiter von Wien für die Judendeportationen verantwortlich war und der deshalb auch im Nürnberger Prozess verurteilt wurde. Der war ihr Großvater. Als ebenfalls Nachfahr von zumindest angebräunten Ahnen interessierte es mich zunehmend, wie die Kinder und Enkel der damals Verantwortlichen mit ihren Familiengeschichten umgehen. Und da stieß ich auf einen Vortrag von Ariadne von Schirach, in dem sie einen überaus bemerkenswerten Satz prägte: “Martin Heidegger, den wir trotz seiner Angebräuntheit und sehr schlimmer Verfehlungen als klugen Denker achten wollen…”

Ariadne von SchirachUngefähr zur selben Zeit entdeckte der Hase ihr Buch “Du sollst nicht funktionieren” und davon angeregt auch seine Liebe zur Philosophie. Spätestens als er ihr nächstes Werk “Die psychotische Gesellschaft” zu sich genommen (und mir weiter empfohlen) hatte, beschlossen wir, irgendwann einmal unbedingt eine Sendung über diese Denkerin zu machen, die zugleich lebensfroh und verwegen in Erscheinung tritt. Man kann es auch so sagen: Bei ihr wohnen Gefühl und Verstand sehr nah beieinander und kommen wie zwei benachbarte Saiten auf einem Instrument auch gemeinsam in Schwingungen. Diesen Umstand erkennt, ja erspürt man besonders dann, wenn man sie live lesen oder eben vortragen hört. Für die vielen, die das nicht persönlich unmittelbar erleben können, haben wir diese Buchvorstellung aus dem Literaturzentrum Hamburg als Beispiel gewählt. Es geht dabei um ihre jüngste Veröffentlichung “Glücksversuche”, einen Essayband mit dem schönen Untertitel “Von der Kunst, mit seiner Seele zu sprechen.” Die Autorin lädt uns darin ein, ihre Selbstversuche nachzuvollziehen.

Das ist insofern erfrischend, als hier nicht “eine Bescheidwissende” daher ratgebert, wie wir, genau nach Rezept und erstens, zweitens, drittens glücklichere Menschen werden könnten oder gar müssensollen. Stattdessen denkt, spürt und erlebt sie uns hier dar, was für sie zur Entwicklung einer sinnvollen Lebensweise beitragen kann, die nicht in Gehorsamkeit gegenüber was auch immer für Autoritäter*innen, sondern die in eine selbst zu entdeckende, selbst zu erschaffende und selbst zu gestaltende Daseinsform mündet – die noch dazu imstande ist, ihre Ambivalenzen auszuhalten.

Es ist also eine Ansammlung von Angeboten, auf die wir uns einlassen können, sie auszuprobieren oder auch nicht, aus der wir auswählen können, was sich für uns als stimmig anfühlt, was entsprechend sein könnte, was uns neugierig macht, hier und da tiefer einzudringen und (das erinnert mich jetzt an die Kreisky-SPÖ in den 70ern) “ein Stück des Wegs gemeinsam zu gehen.” Nicht zuletzt (und hier schließt sich ein Kreis) habe ich mich in ihre Stimme verliebt, die viel von dem fühlbar macht, was sie mit ihren Gedanken ausdrückt. Fühlen und Denken ergänzen einander vortrefflich.

 

Und überhaupt, einen Ariadnefaden können wir doch alle gut gebrauchen …

 

Frieden ohne Krieg

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Februar — In unserer letzten Nachtfahrt über Verdrängungen (etwa bei 1:25:35) stellt Christopher Yevgeniy Breygers neues Buch “Frieden ohne Krieg” vor – und mir fährt die ganze seit zwei Jahren angestaute Wut über dieses tagtägliche Verbrechen namens “Ukrainekrieg” aus dem Gesicht. Kurze Zeit später ist auch mir klar, dass ich diesen Autor, der etwas in Worte gefasst hat, das ich so lange Zeit in mir gespürt habe und dabei nie sprachgedanklich zum Ausdruck bringen konnte, unbedingt livehaftig erleben will. Und so besuchten wir am Montag seinen feinerweise von prolit organisierten Auftritt im Literaturhaus, um den Menschen hinter den Gedichten kennen zu lernen. Was wir dabei erlebt haben – und wozu uns diese Begegnung inspiriert – davon erzählen, spielen und lesen wir heute.

Yevgeniy Breyger - Frieden ohne KriegDie doch recht plötzliche Bewusstwerdung der Tatsache, dass es nun schon zwei Jahre sind, seit wir erstmals vom ungezügelten Ausbruch der russischen Gewalt gegen die Ukraine sprachlos geworden sind, nötigt uns nachgerade zu einer neuerlichen Betrachtung unserer damaligen Reaktionen. Und zur Überlegung, auf welchen Weg wir uns seitdem gemacht haben, ja, wohin uns das alles inzwischen führt. Ich erinnere mich an unser fast schon verzweifeltes Festhalten am Werk einzelner Künstler aus den “betroffenen” Ländern, an das Herbeizitieren exemplarischer Reaktionen aus aller Welt, die wir als irgendwie “gegen den Strom” empfanden – und an einige Ausblicke hinter den “kyrillischen Vorhang”, die uns mit der Gefühlswelt der Menschen in Verbindung bringen sollten, von denen wir so viel hörten – und die wir doch so wenig verstehen. Da fällt mir die unlängst erst in einem Dokumentarfilm erläuterte дедовщина ein. Die russische Gesellschaft ist von dieser “Häfenhierarchie” schon so durchsetzt wie ein Brot von einem Schimmelpilz. Die Begrifflichkeit dieses Gewaltsystems kommt in deutschsprachigen Medien kaum jemals zur Erwähnung. Ob das vielleicht damit zusammen hängt, dass die allermeisten von uns nicht sehen, nicht spüren und auch lieber gar nicht wahrhaben wollen, von was für schädlichen Myzelen unsere eigenen Gesellschaften durchwuchert sind? Um bei der Pilzmetapher zu bleiben – wir sitzen alle im selben Brot. Das Brot ist voll.

Von Yevgeniy Breyger heißt es, in ihm seien zwei Persönlichkeiten zugange, eine traumatisierte und eine kindlich verspielte. Diese beiden Seiten seiner selbst derart in Balance zu bringen und auch zu halten, das macht die Faszination seiner Sprache als ein Unterwegssein zu sich selbst aus, dem man ohne abspaltende Verrenkungen des Geistes begleitend beiwohnen kann. In Frieden ohne Krieg tritt uns der Mensch hinter dieser Sprache als jemand entgegen, der sich entschlossen hat, auf dem Weg zu sich selbst zu bleiben, ohne Maskierung und künsltiche Pose, einfach offen …

“Frieden ohne Krieg” – das ist ein richtiger Denksprengstoff für die Gegenwart.

Danke.

 

Perlentauchen mit Tommy Tinte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. Februar Perlentauchen, das ist so eine Lebenshaltung, aus der viele unserer Sendungen entstehen. “Inmitten des Schlamms der Kulturgeschichte entdecken wir Wertvolles, das wir, wenn es uns gefällt, weiter verarbeiten und so dem geneigten Publikum darbieten.” Sogar eine ganze Sendereihe trägt den Begriff in ihrem Titel, nämlich die monatliche Nachtfahrt der Perlentaucher. “Finding places and things” ist eine unbewusste Schnupperarbeit, bei der man nie genau sagen kann, wie sie sich vollzieht. Nur, dass sich manchmal auch mitten in den widerlichsten Umständen, wie etwa in der Kloake des Spätkapitalismus, plötzlich und auf wundersame Weise der Vorhang ins Reich des Schöpferischen einen Spalt breit auftut und dadurch ein kostbares Kleinod der Phantasie zum Vorschein kommt.

Perlentauchen mit Tommy TinteZum Beispiel auf Facebook, das bei kritischeren Geistern längst Inbegriff des blödblökenden KI-gesteuerten Nachplapperns von gemachter Meinung oder sogar das Schattenreich der Filterblase ist. Mitten dahier gibt es allerdings Menschen, die quasi “gegen den Strom” unbeirrt ihre ganz eigene Welt erschaffen – und darstellen. Der von uns oft und gern gelesene Schriftsteller Peter Hodina wäre da zu nennen, der mit seinen Träumen und philosophischen Exkursen beinah täglich den Mahlstrom des Mainstream ad absurdum führt. Oder die Musikpädagogin Alrun Pacher, die uns feine Einblicke in die Sprach- und Gefühlswelt ihrer Musikkinder nehmen lässt. Und – “tätärätäää” – an diesem Fund wollen wir die heutige Sendung aufhängen – der deutsche Autor und Historiker Thomas Riechmann, der nicht nur im sozialen Medium als Tommy Tinte in Erscheinung tritt, uns dortselbst aber speziell mit seinen Bildern und Textminiaturen erfreut, von denen wir einige vorstellen werden.

Beim weiteren Perlentauchen (Google ist wirklich voller Schlamm) haben wir so eine “Zeitschrift trotz Philosophie” namens “Der Lichtwolf” gefunden, in deren Heft 54 “Extase” ein Artikel von Tommy Tinte mit dem Titel “Drei Gläser Wasser” auftaucht, im Inhaltsverzeichnis angeführt unter Philosophistik & Misosophie”. Darüber hinaus treibt es den Autor unter seinem bürgerlichen Namen in dem nicht ganz unbekannten Periodikum Die Zeit um. Tommy Tinte wiederum lebt auch als Ideengeber für Kinder. Wir wollen das Prinzip Perlentauchen in der Geschichte zum Artikelbild beleuchten:

Auftragsarbeit für ein Kinderzimmer. Gespräch mit dem betroffenen Kind:

Was soll ich malen?
Kind (im Bockigkeitsmodus): Grrr. Mal halt nen Tier.
Was für ein Tier?
Kind: Füsch.
Welche Art von Fisch?
Kind: Schrecklichkeitsscheißefüsch.
Ok (gesagt, gemalt)

Ist der Seeteufel der richtige Fisch für ein Kinderzimmer?
Darf man den Seeteufel freundlicher malen, als er in Wirklichkeit ist?
Verunsichert man Kinder mit ungeschminktem Realismus?

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

Schreib das auf …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. Dezember – Es begann damit, dass ich vor einiger Zeit abgründige Ängste und Sorgen in meinem Denken entdeckte, die aus den Umständen und Erfahrungen meines Lebens nicht hinreichend erklärbar waren. Es kam mir so vor, als fände in mir mehr als nur mein eigener Krieg statt, als ließen mich unentrinnbare Urteile eines unsichtbaren Weltgerichts nicht im Frieden mit mir leben. Um etwaige seit Generationen in die Geschichte meiner Familie eingravierte Schreckstarren von mir und meiner eigenen Erinnerung unterscheiden zu können, ging ich auf die Suche nach der Zeit, über die meine Verwandten mir gegenüber so beharrlich geschwiegen hatten. Dabei hat mir das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch (aus dem 1. Weltkrieg) mit dem Titel “Schreib das auf, Kisch!” sehr geholfen.

Schreib das auf - Postkarte 1912Denn “der rasende Reporter”, der 1908 die sogenannte Redl-Affäre aufdeckte und ein Wegbereiter des investigativen Journalismus in Österreich war, beschreibt darin die Zustände an der Balken/Serbien-Front 1914, wo zur selben Zeit auch mein Großvater im Einsatz war. Um mich selbst besser zu verstehen, wollte ich mehr darüber erfahren, was der dort alles erlebt hat – und worüber nach Ende des 1. Weltkriegs nicht gesprochen werden konnte, wiewohl es in der Gefühlswelt aller Beteiligten auf zerstörerische Weise fortwirkte. Hier liegt ein detailliertes literarisches Zeugnis aus der Hand eines journalistisch geschulten Beobachters vor, das nicht nur die Kampfhandlungen selbst sowie die Lebensumstände der Soldaten an der Front schildert, sondern auch die zunehmend verlogene Kriegspropaganda und deren Auswirkungen auf die Stimmungslage der kämpfenden Truppe kritisch reflektiert.

Wir gestalten eine Zeitreise in die persönliche Wahrnehmung des Einzelnen, der zwischen Kriegsgräueln und Friedenssehnsucht seine eigene Sicht auf die Welt bewahrt. Und wir schauen durch seine Augen auf eine geistesgestörte Hierarchie, die sowohl die eigenen Soldaten als auch die serbische Zivilbevölkerung ohne mit der Wimper zu zucken in die Zerstörung stürzt. Weiterführende Literatur über die Hintergründe dieser Wahnsinnigen haben wir auf Empfehlung eines Großmeisters der Geschichtsschreibung, Prof. Manfried Rauchensteiner, zudem mit einbezogen.

Bei aller äußeren Betrachtung einer “Welt voller Krieg” (in der Gegenwart wie in der Vergangenheit) soll hier die grundlegende Motivation dieser Untersuchung nochmals hervorgehoben werden: Es geht mir um meinen inneren Frieden mit dem, was meine Vorfahren gemacht und was sie erlitten haben, wovon ihre Ängste und Hoffnungen gespeist wurden – und was sich über Generationen hinweg in vielen von uns oftmals unbemerkt weiter auswirkt. Eine Welt voller Unrecht, Gewalt und Zerstörung, die wir offenbar in uns tragen und die in eine Welt voller Frieden verwandelt werden muss.

Den Hasen dieser Welt wünsch ich mehr als nur einen kurzen “Weihnachtsfrieden”.

Schreib das auf …

 

Gedichte durch die Dunkelheit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. DezemberRobert Gwisdek (auch als Käpt’n Peng bekannt) sagt in einem Interview: “Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen. Nicht, dass es einem hilft, dass man eines hört. Aber es kann einem helfen, eines zu schreiben.” Dies charakterisiert auch das Verhältnis von Dichtung und Dunkelheit im Leben jener beider Lyrikerinnen, denen wir uns heute zuwenden wollen. Christine Lavant und Hilde Domin haben auf verschiedene Weise sowohl persönliche Schicksalschläge als auch “die dunkelste Zeit unserer Geschichte” überstanden – und die dabei erlebte Dunkelheit hat ihre Gedichte geprägt. Eben dadurch üben sie eine ganz besondere Kraft auf uns aus.

Gedichte durch die DunkelheitChristine Lavant litt schon seit frühester Kindheit an schweren Krankheiten und bekam deshalb kaum nennenswerte Schulbildung mit auf ihren zähen Lebensweg, der immer auch ein Leidensweg war. Nichtsdestotrotz begann sie schon bald, inspiriert von Rainer Maria Rilke, selbst zu schreiben. Die Zeit des Nationalsozialismus, die für sie als chronisch kranke und an Depressionen leidende Frau im höchsten Maß lebensgefährlich war (durch die damals beschönigend “Euthanasie” genannte “Vernichtung unwerten Lebens”), überstand sie in radikalem Rückzug und empfand sich dabei als “zu völliger innerlicher Stummheit verurteilt”. Nach Ende des (heute beschönigend “Zweiter Weltkrieg” genannten) allgemeinen Vernichtungswahnsinns brach das Dichten nachgerade “aus allen Rändern” aus ihr heraus. Bestimmt nicht zufällig enthält ein Kindereuthanasie-Mahnmal in Leipzig diese ersten zwei Zeilen:

Das ist die Wiese Zittergras
und das der Weg Lebwohl,
dort haust der Hase Immerfraß
im roten Blumenkohl.

Die Rosenkugel Lügnichtso
fällt auf das Lilienschwert,
das Herzstillkräutlein Nirgendwo
wird überall begehrt.

Der Hahnenkamm geht durch den Tau,
das Katzensilber gleißt,
drin spiegelt sich die Nebelfrau,
die ihr Gewand zerreißt.

Der Mohnkopf schläfert alle ein,
bloß nicht das Zittergras,
das muss für alle ängstlich sein,
auch für ein Herz aus Glas.

Hilde Domin hingegen besuchte ein Mädchengymnasium und studierte anschließend Rechts-, Sozial- und Staatswissenschaften, bevor sie “in allerletzter Minute” über England in die Dominikanische Republik fliehen konnte (sie wäre sonst im Deutschen Reich zur Vernichtung als Jüdin vorgesehen gewesen). Schon im Jahr 1930 hatte sie “Mein Kampf” gelesen und war dadurch zur Überzeugung gelangt, “dass Hitler das, was er da geschrieben hatte, auch ausführen würde”. Sie begann erst mit Ende 30 im Exil zu schreiben, “als Alternative zum Selbstmord”, wie sie es später einmal sagte. Ihre Gedichte sind durch die Unsicherheit der zerbrechlichen Existenz inmitten von unvorhersehbaren Ereignissen geprägt und ringen dabei auf beeindruckende Weise um ein nächstes Vertrauen, das irgendwo unter, hinter, neben dem Zerstörten ist.

“Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.”