Reclaim the Radio

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. OktoberDer ORF überschlägt sich geradezu in seiner aktuellen “100 Jahre Radio” Selbstlobinszenierungaber unterschlägt dabei unter anderem, dass es Radio in Österreich schon seit 101 Jahren und 6 Monaten gibt. Auch wenn er das einigermaßen vorsichtig formuliert: “Der 1. Oktober 1924 gilt als die Geburtsstunde des Rundfunks in Österreich.” Was immer bei wem auch immer als was auch immer gelten mag – die tatsächliche Geburtsstunde war der 1. April 1923, als der aus privater Initiative entstandene Sender Radio Hekaphon in Betrieb ging. Der hatte zwar noch keine Konzession (Lizenz) und gilt (schon wieder dieses Wort) rückblickend als illegal, die damalige Regierung benötigte 9 Monate, um dafür den Begriff “Grober Unfug” zu gebären.

Reclaiming RadiowavesUm immerhin dem Freien Radioder dritten Säule des Rundfunks in Österreich – einen gebührenden Platz an der Jubiläumssonne des sonst so selbstbezogenen ORF einzuräumen, lässt die Regisseurin Heidi Neuburger-Dumancic ihren Dokumentarfilm Wellen der Zeit” auch in die Produktionswelt der Radiofabrik eintauchen. Der Film wird am Montag, 21. Oktober um 23:15 Uhr auf ORF 2 (gleich nach dem kulturMontag) zu sehen sein. Wir sind gespannt, inwieweit unsere Rolle für die Entwicklung einer vielfältigen Medienlandschaft (diesseits des unkontrollierten Geschwallers in Sozialen Medien und jenseits des marktschreierischen Gehupes der profitorientierten Sender) zur Geltung kommt. In diesem Zusammenhang ist “gelten” ein überaus interessantes Wort. Zwischen “es gilt als” und “zur Geltung kommen” tut sich ein breites Spektrum an Bedeutungen auf, von extrem passiv wie “Du giltst nichts” bis zur Selbstermächtigung von “Ich verschaffe mir Geltung”

Wie entstehen weit verbreitete oder als allgemein anerkannt geltende Vorstellungen davon, wie sich etwas zugetragen hat und was für eine Bedeutung es für uns heute hätte? Muss dafür die sprichwörtliche “Geschichtsschreibung der Sieger” sämtliche von ihrer Interpretation der Geschehnisse abweichenden Erinnerungen wie mit dem Dampfhammer ausmerzen? Oder genügt es (und das wäre ein viel subtilerer Weg, der nicht leicht zu erkennenen ist), das eine oder andere vielleicht störende Ereignis in der Erzählung wegzulassen und diese neue Version einfach oft genug zu wiederholen?

Wir wollen uns das am eingangs erwähnten Beispiel einmal genauer anschauen.

PS. Zur legendären Sendung “Dylaneske Wortbilder” aus unserem zeitlosen Archiv.

 

Ich bien ein lernfähiger Fersager

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. September – Als der Schriftsteller Michael Köhlmeier vor vielen Jahren die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen hielt, “outete” er sich dabei auch als Legastheniker. Seine Bücher habe er überhaupt nur auf dem Umweg über das gesprochene Wort zustande gebracht, nämlich indem er den jeweiligen Text in ein Aufnahmegerät sprach, von dem seine Gefährtin Monika Helfer ihn dann wiederum in Schrift transkribierte. “So hat er sich also die ausgefeilte Erzählweise (und Stimme) erarbeitet, mit der er berühmt geworden ist.”, dachte ich mir damals spontan. Ein der Not geschuldeter “Workaround”, der die Talente hinter seiner als “Behinderung” aufgefassten Eigenart erst recht zur Geltung bringen sollte. Überhaupt fühlt sich das Wort “Fersager” viel schöner an als mit V geschrieben.

Ich bien ein lernfähiger FersagerWomit wir schon bei einem Grundproblem des gesamten Formenkreises der sogenannten Neurodiversität angelangt wären: Es wird davon ausgegangen, dass eine bestimmte Art und Weise (nämlich die “bei uns” allgemein übliche) des Lernens “normal” sei und alles davon abweichende eine reparaturbedürftige Fehlleistung. Das allerdings ist nach heutigem Kenntnisstand nicht nur ein fester Blödsinn, sondern auch noch für die gesamte Gesellschaft schädlich, also schlicht schlecht. Warum das so ist? Es gibt generell so viele unterschiedliche Gehirnarten wie es Menschen gibt (man spricht von individuell ausgeprägten Funktionsweisen des Gehirns, die genauso einzigartig und unverwechselbar sind wie Fingerabdrücke). Wenn wir also (als Schule, als Eltern, als Geschwister – und überhaupt als Mitkinder) all die irgendwie andersartig denkenden Menschen, mit denen wir es zu tun haben, als selbstschuldige Fehlfunktionen ansehen und sie auch so behandeln, dann …

… sind wir Versager, weil wir ihnen das Menschenrecht auf Entwicklung ihrer ganz eigenen Lösungswege versagen. Und uns selbst die Möglichkeit, über die bisherigen Sichtweisen hinaus zu sehen, vorenthalten. Für mich fühlt sich das Wort “Fersager”  völlig anders an als “Versager”, aber ich kann zur Zeit noch nicht begründen oder genau erklären, warum. “Regeln sind nicht im Kopf, sie sind lediglich brauchbar, um bestimmte Leistungen im Nachhinein zu beschreiben.” Der Salzburger Lernforscher Herbert Fartacek bringt uns mit diesem Satz von Manfred Spitzer auf eine Fährte

Ich bien ein lernfähiger Fersager

 

Erwachsendenbildung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. September“Und solang ich irgendwie atmen und reden und fühlen kann, und mich bewegen kann, will ich diese Magie betreiben und mich dieser Magie zur Verfügung stellen.” Doch von was für einer Verwandlung, ja geradezu Anverwandlung spricht der Mensch hinter der Maske hier eigentlich? Wenn er den Jedermann als Zauberbuch bezeichnet, dann sicher nicht in der Vorstellung, dass Wasser sich in Wein verwandelt, wenn man es dort hinein hält. “Ich werde das Gedicht.”, sagt Philipp Hochmair an anderer Stelle, und damit kommen wir dem Wesen der von ihm angesprochenen Magie schon näher. Und der Beobachtung, dass wir alle, solang wir in dieser Welt leben, werdende sind und nie fertig mit dem Prozess der Wandlung. Das ist Erwachsendenbildung

ErwachsendenbildungGibt es überhaupt “Erwachsene” (etwa als Gegenteil von Kindern) oder sollten wir nicht eher alle im werden miteinander verwandt sein? Das Konzept der Abtrennung von der eigenen Kindheit, wie es sich zum Beispiel in den Paulusbriefen wiederspiegelt, ist nicht nur höchst fragwürdig, sondern erweist sich mit zunehmendem Alter als ein festes psychologisches Problem. Denn diese “unerlösten Kinder”, die sich nie richtig entwickeln durften (und so auch nicht ihre spielerische Genialität im Leben des “Erwachsenen” ausüben können), sind ja nach wie vor anwesend und es kostet immer mehr Kraft, sie in der inneren Verbannung festzuhalten. Kraft, die uns zum Leben fehlt. Halber Mensch. Und wie schön wäre es, einem Jugendlichen, der unter seinem Anspruch “endlich nicht mehr Kind und endlich erwachsen sein zu wollen” erkennbar leidet, mitzuteilen, dass man selbst auch gerade “nicht mehr dort ist, von wo man herkommt” und zugleich “auch noch nicht dort, wo es einen hin bewegt”.

Ankommen kann (und wird) man bei sich selbst. Oder eben nicht. Das ist das ganze Geheimnis der Gelassenheit, vor allem im Hinblick auf das eigene Endlichsein hier in diesem Erdenleben. Was also gäbe es für ältere Menschen sonst an einem weiteren Geburtstag zu feiern als die Aussicht, sich selbst als eine ureigene Symphonie in immer neuen Variationen bis ins zuletzt auch Unvollendete fortzuschreiben? Das mag andeuten, wie wir im Spannungsfeld der verschiedenen Zeitbegriffe zufrieden leben können, ohne uns zerreiben zu lassen vom Chronos (der seine Kinder frisst).

Was ist ein Kulturmagazin? Nun, ein Kunnstbiotop, in dem es möglich ist, so eine Magie zu betreiben, nämlich Schönes und Interessantes in Beiträge zu verwandeln und so das, was wir entdeckt haben, was uns anspricht und fasziniert, mit unseren eigenen Gefühlen und Erfahrungen zu verbinden und in veränderter Gestalt wieder anderen zu zeigen. Wir sind in Entwicklung begriffene Erwachsende und wir laden zum Miterleben wie auch zum Selbstweiterentwickeln ein. Erwachsendenbildung, eine bemerkenswerte Begrifflichkeit, die man sich in die Seele sinken lassen sollte:

Erwachsendenbildung.

 

Wursten von Hunden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. AugustFeiern wir das Finale der Festspielsaison mit einem genialen Werk aus der Welt des Melodic Hardcore oder Skate Punk oder wie es euch gefällt … Und gedenken wir zudem eines Meisters der angewandten Sprachzerlegung, dessen Gedicht franz hochedlinger gasse unseren heutigen Ausflug mit dem Chor der wütenden Kinder inspiriert: “wo gehen ich / liegen spucken / wursten von hunden / saufenkotz / ich denken müssen / in mund nehmen / aufschlecken schlucken / denken müssen nicht wollen” Poesie und Widerstand – aus der Erfahrung des “Nicht zur Geltung kommens” und “Keine Bedeutung habens”, die den endgültigen Kontrapunkt setzen zum Geklingel der Reichen und Mächtigen, deren ganze “Weltbeherrschung” damit verglichen keine bleibende Bedeutung hat.

Wursten von Hunden - The Decline (Trump)Der kleine Norbert war unlängst in seiner frühesten Kindheit unterwegs und entdeckte dort den Topf seines eigenen Zorns. Neugierig, wie das darin herum brodelnde Wutgebräu wohl entstanden war, bemerkte er seine ersten Versuche, zu etwas “Nein” zu sagen (also irgendwie nonverbal auszudrücken, dass er dies oder jenes so jetzt nicht wolle). Und zugleich erinnerte er sich, wie diesen Neinsageversuchen immer wieder so gar nicht entsprochen wurde. – Seine Bedürfnisse und Gefühle wurden also ignoriert und stattdessen wurde ihm mit aller Macht der Erwachsenen “drübergefahren”. Das stellt die früheste Erfahrung von Missbrauch und Gewalt dar und das ist auch das Gefühl, aus dem Wut, Empörung und berechtigter Zorn entstehen. Wenn jetzt noch dazu die Äußerung dieser Emotionen (etwa von narzisstischen Eltern) zurückgewiesen oder sogar bestraft werden, dann muss das Kind sie ja irgendwo zwischenlagern in einem inwendigen Gefäß wie dem erwähnten “Topf des Zorns”. Und da drin verbleiben sie dann auch (und wirken unerkannt weiter) bis man sie anderweitig ausdrücken kann …

Das eigenwillige Opus Magnum von NOFX, das als über 18 Minuten langer Punksong konzipierte “The Decline”, gibt uns Gelegenheit, unsere oft eingetopften und im Topf verstopften Emotionen wieder wahrzunehmen, auf dass wir ihre ungeheure Kraft zu etwas für unser jetziges Leben brauchbarem, erfreulichem, lustvollem und nahrhaftem “umerschaffen” mögen. Durch das Hören von Kunnst, die aus ihrer Wut über den Wahnsinn schöpft, dazu angeregt, unsere Gefühle wieder anderen zu offenbaren. Wir werden Großes schaffennach unseren eigenen Maßstäben, was “Groß” ist.

Wir sind ein Wursten von Hunden.

Zu diesem Behufe verwenden wir unter anderem eine erstaunliche Neuaufnahme: “The Decline Live at Red Rocks with Baz’s Orchestra”, kongenialst arrangiert von Bastien “Baz” Brisson, dem es mittendrin bei seinem Xylophonsolo geradezu den Martin Grubinger raushaut. Und wir wären kein “etwas anderes Kunnstbiotop” in einer Stadt der Festspiele, wenn wir nicht zum Schluss auch noch die Übersetzung der Punkhymne in eine orchestrale Musiksprache zu Gehör und somit zur Geltung brächten: “NOFX’s The Decline (A Punk Rock Symphony)”

Es heißt, wenn schon, dann “Erwachsendenbildung” …

 

Éphémère

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. AugustWenn sich drei Künstler aus unterschiedlichen und doch artverwandten Schaffenswelten zusammenfinden, um ihre jeweiligen Stilrichtungen zu einem großen Konzeptwerk zu verschmelzen – dann sind wir trotz aller Festspiele leider nicht in Salzburg. Aber wir sind ein freies Medium und bringen euch daher dieses Ausnahmeereignis zumindest ansatzweise zu Gehör: Éphémère (das Flüchtige) von Grand Corps Malade, Gaël Faye und Ben Mazué – in Gestalt des knapp 30-minütigen Studioalbums, das einige der wesentlichen Stücke der viel umfänglicheren Liveperformance enthält, von der immerhin ein Konzertfilm hergestellt wurde, dem man auch in voller Länge beiwohnen sollte. Poetry Slam und literarischer Rap und Theatermusik begegnen sich für einen flüchtigen Moment

ÉphémèreAls Hör- und Erlebnisbeispiel sei hier der begeisternde Titel “Besoin de rien” (der vorletzte Track dieses Albums) hervorgehoben, ein aus Stadtgeräuschen und beiläufigem Geplauder heraus nach und nach in ein Dialoggedicht überfließendes Fest des (flüchtigen) schöpferischen Augenblicks, vom Melodiegesumme der musikalischen Inspiration zum regelrechten Trialog der Ideen und Möglichkeiten voran getrieben bis hin zu einer opulenten Steigerung, einer sprachrhythmischen Extase und orchestralen Vielschichtigkeit, die den kollektiven Ohrgasmus aller Beteiligten im Ansatz erahnen, in der Phantasie aber vollinhaltlich mitvollziehen lässt. Der “kleine Tod” ist auch im schöpferischen Prozess Éphémère” sprich ein überaus flüchtiger Moment. Wir sind ja nach wie vor damit beschäftigt, herauszufinden, wie wir ihn immer weiter ausdehnen, in die Länge ziehen, quasi “verdauerhaftigen” könnten. Und es gibt durchaus Hinweise darauf, wie wir diesem umtriebigen Wunsch nach fortwährender Beglückseligung lieber nicht entsprechen sollten: Durch Steigerung der Reizfrequenz sprich Beschleunigung.

“Et là, au milieu du monde, allonger les secondes – diesen Wunsch äußern Grand Corps Malade, Ben Mazué und Gaël Faye in ihrer kürzlich erschienenen Single On a pris le temps. Eine Ode an die Muße und an die Notwendigkeit, sich zwischenzeitlich die Zeit zu nehmen, seinen Geist auszuruhen und sich nicht nur vom überfüllten emploi du temps einnehmen zu lassen. In einer flüchtigen Welt, in der die Zeit vergeht, der Alltag zunehmend von Müdigkeit und Erschöpfung geprägt zu sein scheint und es immer schwieriger wird, eine Pause einzulegen, kommt das neue Album der drei Künstler gerade recht, um sich der Flüchtigkeit der Momente bewusst zu werden und aus ihnen das Positive zu schöpfen.” So zu lesen bei Friedrich (vor deren Paywall).

Éphémère

PS. In der Vorabveröffentlichung der Signation/Collage zur heutigen Sendung haben wir außerdem zwei wesentliche Texte in deutscher Übertragung beigefügt. Allons, enfants!

 

Aus der Mitte

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 28. Juli – Es gab da einmal einen Film, dessen Titel “Aus der Mitte entspringt ein Fluss” mich immer wieder auf spielerische Weise zur sprachlichen Veränderung seiner Wirklichkeit einlädt. So kann er etwa “Aus der Bitte entspringt ein Muss” heißen (das wäre psychologisch) oder aber “Aus der Miete entspringt ein Plus” (das ist kapitalistisch) oder sogar “Aus der Titte entspringt ein Fuß” (was immer das bedeuten mag). Nichtsdestodoch ist übrigens auch ein schönes Wort und für eine Sendung voller Fußnoten genauso geeignet wie Vatermutterkind. Aus der Mitte des sich Verbindens von zwei Chromosomensätzen zu einer neuen Partitur des Lebens entspringt die Einsicht, dass das damals gut war. Jedenfalls gut genug, denn sonst würde es uns vollkommen noch nie zuvor Dagewesene ja nicht geben …

Aus der MitteJe älter ich werde, desto mehr denke ich auch darüber nach, warum mir das meiste, was sich da unter dem Label “Hip-Hop” zusammendrängt, so dermaßen auf die Nerven geht. Und warum es auch immer wieder Darreichende dieses Genres gibt, die mich nachgerade entzücken. Es hat wohl damit zu tun, wie sie sich anfühlen. Also ob da jemand zum hundertzigsten Mal stereotyp “Ich bin großartig und ihr seids Opfer” ins Mikrodrom brunzt, um so seine Zielgruppe abzukassierenoder ob da ein nachvollziehbarer Mensch etwas aus seinem echten Gefühlsleben vorstellt, so dass es mich zum Nachspüren und Weiterdenken inspiriert. Tatsächlich gibt es einen ebenso feinen wie gewaltigen Unterschied zwischen Pose und Poesie. Am besten lässt sich der mit einem Beispiel vermitteln: der Schriftsteller und Sänger Gaël Faye (geboren in Burundi) reflektiert in seinem Lied Métis die höchst kontroversen Gefühle eines in Frankreich aufwachsenden “Mischlings” mit europäischem Vater und afrikanischer Mutter. Er berichtet aus der Mitte zwischen diesen beiden Herkünften über seine Suche nach seiner Identität.

Außer dieser Fußnote zum Hip-Hop-Genre gäbe es da noch eine zu meinem jüngsten Besuch bei den Kollegen von Battle & Hum, bei deren 15jähriger Jubiläumssendung mir eine gewisse Wehmutslastigkeit aufgefallen war. Nun, was soll ich sagen, Trauer tut weh – und trauern tut gut. Vielleicht kann der “Sonic Youth Song” unseres lieben Freundes Martin Konvicka hierzu einen tröstlichen Reim erzeugen. Apropos zeugen, eine Fußnote zur amerikanischen Präsidentschaftswahl von Chad Urmston hätten wir auch noch anzubringen: Wie geht das dort jetzt weiter mit dem Recht auf Abtreibung?

Und eine Footnote to HOWL von Allen Ginsberg in der Interpretation von Patti Smith als Einladung zu unserer nächsten Nachtfahrt am 9. August um 22:06 Uhr, die einen sehr zu den inneren wie auch äußeren Zuständen dieser Zeit passenden Titel trägt, nämlich “In Between Days”. Und in der dem entsprechend auch The Cure eine nicht unwesentliche Rolle spielen werden, zumal die außergewöhnliche Coverversion von “Pictures Of You” der “Sängerin und Bariton-Ukulelistin” Rio en Medio, was ja soviel bedeutet wie “Fluss im Zwischen”. Womit sich auch dieser Themenkreis schließt …

Ab durch die Mitte

 

Der General

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. Juli – Unlängst hat der Hase einen recht bemerkenswerten Song ausgegraben, der ihm in seiner Jugendzeit begegnet ist und der ihn damals in vielerlei Hinsicht beschäftigt hat. Es handelt sich um einen Klassiker aus den 90er Jahren, “The General” von Dispatch, der in beeindruckender Sprache davon erzählt, wie ein hochdekorierter Heerführer aufgrund eines intensiven Traums die bevorstehende Schlacht absagt und seine Soldaten nach Hause schickt. Dabei schließt er mit den Worten: “Go now, you are forgiven. Diese Geschichte hat mich wiederum tief bewegt, komme ich doch selbst aus einer kriegszerstörten Familie und sehne mich seit langem danach, endlich aus dem Krieg in mir entlassen zu werden. Vielleicht möcht ich auch mehr wie der General sein – und mir selbst verzeihen

Der GeneralDamit will ich darauf aufmerksam machen, dass die Geschichte, die da erzählt wird, einige Ebenen enthält, die weit über das Kriegsgeschehen ringsum in der Welt hinaus weisen in die innere Entwicklung einzelner Menschen und ihrer Einstellung zum Krieg an sich – und in sich und um uns herum. Denn wiewohl das Lied ursprünglich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den USA als einem kriegführendem Staatswesen (in der Zeit zwischen den beiden Irakkriegen) entstanden ist, berührt seine Botschaft auch noch wesentlich Allgemeingültigeres. Der, der die Macht hat, sieht im Traum “die Menschen auf der anderen Seite” und entscheidet sich dafür, “dass es keinen Wert hat und auch keinen Sinn ergibt, diesen Kampf auszutragen”. Wer aber hat die Macht, die Wirklichkeit zu verändern, wenn nicht jeder einzelne Mensch in seinem Leben, das untrennbar verknüpft ist mit dem Leben der anderen? Jeder Mensch wird den Krieg beenden, sobald er das Richtige träumt.

Das erscheint erst einmal unglaublich, zumal die immerfort auf uns einprasselnde Weltgewalt ganz andere Zustände in uns verursacht: Ohnmacht, Ausweglosigkeit, Resignation und ganz viel verstopfte Wut. Hoffen, trauern und lieben die Kinder denn ganz umsonst? Hier kann die symbolische Darstellung surrealer Traumbilder weiterhelfen, wie sie zum Beispiel in Antonello Vendittis genialem Video “In Questo Mondo Che Non Puoi Capire” stattfindet, das einerseits zwar resignierend “Sempre quella … sempre guerra” seufzt – andererseits aber den Tanz des Lebens feiert.

Einerseits, andererseits, beiderseits gleichzeitig, zwischen Zerrissenheit und dem Irrsinn Erlösung zertanzt sich das Leben im inneren Ringen nach einem Weg durch die Krise. Kommen wir also zu einem weiteren Kriegsberichterstatter seiner eigenen Seelenlandschaft, der diesen (uns wohl allen mehr oder weniger bekannten) inneren Zwiespalt wie kaum ein anderer textmusikalisch dargestellt hat. “Hi, Ren” heißt das entsprechende Video, das uns tief in die Abgründe des walisischen Künstlers blicken lässt – und uns zu einer neuen Begegnung mit unseren eigenen Dämonen ermutigt.

So. Und weil wir den real existierenden Scheißkrieg, den Putinrussland gegen die Ukraine führt, nach wie vor zum Kotzen finden, wollen wir hier zum Schluss abermals jenen “kyrillischen Vorhang” anheben, der uns von der russischen Sprache trennt. Chad Urmston von Dispatch hat nämlich in akribischer Arbeit den alten, aber (wie oben ausgeführt) zeitlosen und weit über seinen Anlass hinaus wirksamen Song “The General” auf Russisch übertragen und eingesungen. Daraus ergibt sich eine weitere sehr konkrete Bedeutungsebene, die wir euch auf keinen Fall vorenthalten wollen:

Жил да был ветеран генерал герой
Кладезь историй, человек золотой
О прошлых битвах он вёл рассказ
Победы и потери он видал не раз
На поле боя заслужил он славу и почёт
Увешен медалями, орденов не счёт
Он шрамы с поля скрыл бородой
Стоял он за солдат горой

Накануне важной битвы
Когда солдаты спят
Всё думал о смысле жизни и сам не мог уснуть
Он проснулся и рассказал о том, что увидел
И вышел медленно к ним

Все солдаты стояли в строю по струнке
Храбрые бойцы смотрели вперед
Утро было серым и они не знали, что будет
Пока генерал не сказал им идти домой

Он сказал: „Врага и во сне я видел
И я обнаружил — эта битва того не стоит
И я видел глаза матерей
И я не позволю, чтобы вы пошли за мной

Так
Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить

Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить
Идите, вас простили

Но солдаты стояли, оружие на взводе
От странной команды они растерялись
Генерал сказал: „Это мой долг, но больше ни шагу
Вы можете идти куда хотите“

Солдаты застыли, стояли не моргая
Пока один за другим они не разошлись
Старый генерал остался с эхом своих слов
Он приготовился к бою

Он сказал: „Врага и во сне я видел
И я обнаружил — эта битва того не стоит
И я видел глаза матерей
И я не позволю, чтобы вы пошли за мной

Так
Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить

Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить
Идите, вас простили

Идите, вас простили
Идите, вас простили
Идите, вас простили
Идите …

 

Was geht ab auf Lampedusa

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JuliLampedusa? Da war doch mal was. Ist das nicht die Insel mit den Flüchtlingen? Die Katastrophengeschichte von vor 10 Jahren? Das stets bei passender Gelegenheit wieder auftauchende Symbol für die Überforderung Europas mit “den unkontrolliert über uns herein brechenden Flüchtlingsströmen”? Der willkommene Anlass für jene politische Propaganda, die seit Jahren vom “Schutz der EU-Außengrenzen” vor sich hin trötet, während jedes Jahr wieder Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Lampedusa? Da war aber auch (und ist immer noch) etwas ganz anderes. Menschen, die sich inmitten der sonstigen Alltagssorgen auf einer entlegenen Insel um Menschlichkeit bemühen, die doch so selbstverständlich sein könnte, auch in gefühlsabgestumpften Zeiten

Lampedusa 1 Maggio 2015Wir spielen Teile des Albums “LAMPEDUSA 1 MAGGIO 2015”, das die verschiedensten Künstler und Musikgruppen vereint, die an jenem 1. Mai in einem Konzert die Gefühle der dort lebenden Einwohner und auch die Eindrücke der zunächst einmal geretteten Flüchtlinge als miteinander verbunden zur Aufführung brachten. Diese beiden Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, die aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln der Inselbewohner wie der Seenotopfer gespürt werden können, sind “die zwei Gesichter ein und desselben Janus”, wie es im Begleittext zum Album heißt. Eine Darstellung dieser zwei Seiten in ein und demselben Konzert, oft sogar in ein und demselben Musikstück, offenbart uns eine tiefe Verbundenheit zwischen allen Menschen, welche sich aus dem Leben auf dieser Erde begründet – und nicht aus dem Besitzanspruch eines Staatswesens. Wer einem Menschen die Hand reicht, ihn aus dem Wasser zieht um ihn so vor dem Ertrinken zu retten, dem (oder der) sind irgendwelche staatlichen Hoheitsansprüche in dem Moment gleichgültig. Es gilt das Notwendige. Das Unmittelbare. Jetzt und hier. Was in den Ämtern der Möchtigen auch verfügt wird – es verfängt nicht. Das Leben geht vor.

Zurück an Land, also auf der kleinen Insel, die näher bei Afrika als bei Italien liegt, fällt uns auf, wie viele verschiedene Einflüsse aus dem gesamten Mittelmeerraum sich hier zu einem ganz eigenen Klang- und Stimmungsbild verbunden haben. Dies wird auch durch die Auswahl der am Konzert/Album beteiligten Musikschaffenden deutlich. Und immer begegnen sich, dem Konzept der Darstellung folgend, sowohl europäisch-internationale Hörwelten/Stile als auch afrikanische, maghrebinische und orientalische Musiktraditionen. Es zeigt die Verbundenheit all dieser Welten.

Wie ein traumschweres Meer.

PS. Wir empfehlen den ausgezeichneten Dokumentarfilm “Lampedusa im Winter” von Jakob Brossmann, der ebenfalls das innere Erleben der Inselbewohner wie auch das der aus Seenot geretteten Bootsflüchtlinge als zwei Seiten derselben Wirklichkeit darstellt. Hier gibts ein ausführliches Interview mit dem Filmemacher.

 

Keine Fußballsendung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. Juni – Wir wollten gerade jetzt, wo “da draußen” wieder einmal “die Europameisterschaft” ausgebrochen ist, absichtlich keine Fußballsendung machen. Oder zumindest eine Sendung mit dem Titel “Der Fußball ist tot. Zumal es gute Gründe gibt, die chauvinistische Unkultur, die solch penetrant umworbene Geldspektakel mit sich bringen, mit umfassender Abscheu zu quittieren. Ihr seht, uns lässt das Thema auch nicht kalt. Weshalb wir uns auf die Suche nach den schönen Seiten des Fußballs machen wollen und dabei hoffentlich etwas von jener Fußballkultur wieder entdecken, die uns selbst zu berühren und zu inspirieren vermag. Denn in der Leidenschaft, die mit dem Spiel verbunden ist, lebt eine ganze Gefühlswelt, die es vor den gefräßigen Allesverwertesten zu retten gilt.

Keine FußballsendungBeginnen wir folgerichtig mit den etwas leiseren Tönen. Da gibt es zum Beispiel zwei Jugendfreunde aus Norwegen, die als Kings Of Convenience” eins der schönsten Musikvideos geschaffen haben, in dem das Fußballspielen sich ganz natürlich im Feingefühl der Kunst bewegt: “Misread”. Es gibt sie also, die Freunde, die das Spiel mit dem Ball zu einer gemeinsamen Welt in friedlicher Verbundenheit verweben. Das möchte man auch den eigenen Kindern wünschen und da stimmt selbst Stephan Weidner, sonst Bassist der Böhsen Onkelz, ein eher gefühlvolleres “Lied für meinen Sohn” an. Ach ja, wenns ums Umarmen des Lebens geht und nicht ums Auslachen, Verächtlichmachen und noch schlimmer Feindseliges, dann schau ja auch ich gern den Nachbarskindern beim Kicken zu, hör sie lachen und lehn mich zufrieden zurück in die beruhigende Melodie ihrer Unterhaltung, in der nichts Boshaftes mitschwingt, nur Freundliches, einander Aufbauendes, Wohlgesonnensein und Lebensfreude.

Wenn wir jetzt schon “keine Fußballsendung” machen und dennoch “das Phänomen Fußball” aus dem Blickwinkel der Liebe heraus betrachten, dann darf einer der größten Liebenden der Fußballgeschichte auf keinen Fall fehlen: Predrag Pašić, der mitten im Bosnienkrieg eine Fußballschule für Kinder im belagerten Sarajevo gründete. Hier in der legendären Doku “Rebellen am Ball” von Eric Cantona wird ausführlich davon erzählt. Mitten in der Schlammlawine des internationalen Konsumismus und der mit ihm verbundenen postkolonialen Kolonialkriege leuchtet die Wahrheit des Liebens.

Schon Pier Paolo Pasolini hat ja kurz vor seinem Tod beschrieben, wie diese globale Fusion aus Geldmacht, Religion und Ideologie jedwede Kultur (und er erwähnt dabei auch die Fußballkultur) in einem erstickenden Einheitsbrei aus Missgunst, Neid und Käuflichkeit zugrunde richtet. Die Poesie des Widerstands gegen eine so ausweglos erscheinende Weltgewalt besteht in der menschlichen Phantasie, deren imaginative Kraft aus der inneren Unendlichkeit ihrer Bilder gespeist wird. Fürwahr ein Füllhorn an Lebensformen, das denen, die mit dem Ende drohen, immer überlegen sein wird.

Wagen wir noch eine Prophezeihung: Das seltsame Ausblenden des Themas “Liebe und Zärtlichkeit, womöglich sogar Sexualität zwischen Männern” in der Fußballwelt ist ein letztes ungustiöses Aufrülpsen einer längst überholten Gefühlsgewohnheit, die von vielen noch immer als naturgegeben geglaubt wird, ihnen in Wirklichkeit aber von (siehe oben) Geldmacht, Religion und Ideologie gefickt eingeschädelt wurde und wird. Vor einigen Jahren veröffentlichten Sigur Rós dazu ein beeindruckendes Statement. Und Marcus Wiebusch von Kettcar ist sich absolut sicher: “Der Tag wird kommen.”

Keine Fußballsendung? Doch eine Fußballsendung …

 

Pantheressenz

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. Juni – Auf der Suche nach dem Bilddenken wurde ich jetzt endlich über ein phänomenales Buch gestolpert: In “Legasthenie als Talentsignal” erklärt Ron Davis den Begriff der Orientierung (im Hinblick auf äußere Gegebenheiten) und wie man als Bilddenker oder (was nahe verwandt ist) als visuell-räumlicher Lerntyp zu einem Gleichgewicht der Wahrnehmung gelangen kann, das in speziellen Situationen wie beim Lesenlernen, aber auch beim Tanz oder Sport von einem selbst aktivierbar ist. Im Grunde geht es bei seinen “Orientierungsübungen” um das Finden eines optimalen Orts für die bei Bilddenkern gern umherwandernde “Kameraposition”, durch die wir die Welt wahrnehmen. Wie kann ich etwas nennen, das da plötzlich über meinem Kopf schwebt? Ich nenne es meine Pantheressenz

PantheressenzIn der heutigen Sendung geht es also ums Gleichgewicht, um die Balance inmitten von einander widerstrebenden, sich andauernd verändernden und auf den ersten Blick paradox wirkenden Gegenpolen. Und es ist erstaunlich, was für eine im wahrsten Sinn ausgleichende Wirkung so eine genau über der eigenen Symmetrieachse schwebende Wahrnehmung auf das bekannte Hin- und Hergeworfensein in den Turbulenzen des vielen Gleichzeitigen entfaltet. Natürlich versuchte ich mir auch davon ein Bild, eine Vorstellung zu machen, und heraus kam ein schwarzes, rundes, nach oben gewölbtes Etwas in der Größe eines Eishockeypucks. Und weil es sich auf mich förderlich auswirkte und ich ihm zunehmend zu vertrauen lernte, verband ich seine Wesensart mit der meiner Leoparden und Panther, als die ich mir die mich immer begleitenden “guten Kräfte” darstelle, die auf mich aufpassen und die mir ihre Lebendigkeit geben oder die meine Lebendigkeit sind, aber wer will das schon so im Detail auseinander fitzeln und sehr wahrscheinlich trifft hier ohnehin wieder einmal beides zu. Über zunächst als widerstreitend erlebten Gegensätzen schwebt ein ordnendes Drittes, dessen einstweiliger Name Pantheressenz wäre …

Auf dem Weg hierher haben wir einiges an Text und Musik gefunden, mit dem sich das soeben Beschriebene atmosphärisch untermalen und sogar veranschaulichen lässt. Ein Musikstück ragt dabei besonders heraus, weil es das in sich verstrickte Gegensatzpaar von Nähe und Distanz textlich wie musikalisch perfekt miteinander verschmilzt und zugleich als darüber schwebendes Drittes einen magischen Satz, nämlich “I wish you well” zum Tragen bringt, der eine sonst nicht auszuhaltende Ausweglosigkeit aufzulösen vermag. Reines Wohlwollen. Das ist Pantheressenz.

Wir besprechen den bislang völlig zu Unrecht unveröffentlichten Track “Wish U Well feat. Trennungsagentur” des Musikprojekts Illy Bidol vom Herrn Noir Trawniczek.

Sehr zum Wohl, Bilddenker.