Ich bien ein lernfähiger Fersager

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. September – Als der Schriftsteller Michael Köhlmeier vor vielen Jahren die Eröffnungsrede zu den Salzburger Festspielen hielt, “outete” er sich dabei auch als Legastheniker. Seine Bücher habe er überhaupt nur auf dem Umweg über das gesprochene Wort zustande gebracht, nämlich indem er den jeweiligen Text in ein Aufnahmegerät sprach, von dem seine Gefährtin Monika Helfer ihn dann wiederum in Schrift transkribierte. “So hat er sich also die ausgefeilte Erzählweise (und Stimme) erarbeitet, mit der er berühmt geworden ist.”, dachte ich mir damals spontan. Ein der Not geschuldeter “Workaround”, der die Talente hinter seiner als “Behinderung” aufgefassten Eigenart erst recht zur Geltung bringen sollte. Überhaupt fühlt sich das Wort “Fersager” viel schöner an als mit V geschrieben.

Ich bien ein lernfähiger FersagerWomit wir schon bei einem Grundproblem des gesamten Formenkreises der sogenannten Neurodiversität angelangt wären: Es wird davon ausgegangen, dass eine bestimmte Art und Weise (nämlich die “bei uns” allgemein übliche) des Lernens “normal” sei und alles davon abweichende eine reparaturbedürftige Fehlleistung. Das allerdings ist nach heutigem Kenntnisstand nicht nur ein fester Blödsinn, sondern auch noch für die gesamte Gesellschaft schädlich, also schlicht schlecht. Warum das so ist? Es gibt generell so viele unterschiedliche Gehirnarten wie es Menschen gibt (man spricht von individuell ausgeprägten Funktionsweisen des Gehirns, die genauso einzigartig und unverwechselbar sind wie Fingerabdrücke). Wenn wir also (als Schule, als Eltern, als Geschwister – und überhaupt als Mitkinder) all die irgendwie andersartig denkenden Menschen, mit denen wir es zu tun haben, als selbstschuldige Fehlfunktionen ansehen und sie auch so behandeln, dann …

… sind wir Versager, weil wir ihnen das Menschenrecht auf Entwicklung ihrer ganz eigenen Lösungswege versagen. Und uns selbst die Möglichkeit, über die bisherigen Sichtweisen hinaus zu sehen, vorenthalten. Für mich fühlt sich das Wort “Fersager”  völlig anders an als “Versager”, aber ich kann zur Zeit noch nicht begründen oder genau erklären, warum. “Regeln sind nicht im Kopf, sie sind lediglich brauchbar, um bestimmte Leistungen im Nachhinein zu beschreiben.” Der Salzburger Lernforscher Herbert Fartacek bringt uns mit diesem Satz von Manfred Spitzer auf eine Fährte

Ich bien ein lernfähiger Fersager

 

Amelia (Laurie Anderson Album)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. September – Diesmal begegnen sich zwei starke Frauen in unserer Sendung: Die genresprengende Avantgarde-Klangwelten-Geschichtenerzählerin Laurie Anderson und die frühfeministische Weltumfliegerin Amelia Earhart. Anlass ist das soeben erschienene Album “Amelia”, mit dem Laurie Anderson der Vorreiterin einer umfassenden Emanzipation ihr Denkmal setzt. Und das in Form einer beeindruckend runden und ausgereift vielschichtigen Collage, die durch die Verbearbeitung von Originalaufnahmen und Zitaten aus Amelia Earharts Leben eine bemerkenswerte Klarheit und Intensität erzeugt. Und die zugleich eine emotionale Nähe zu der 1937 im Pazifik verschollenen Flugpionierin hervorruft, ganz als würde man jetzt gerade neben ihr im Cockpit sitzen und die Welt umrunden

Laurie Anderson - Amelia (Text)Über das rätselhafte Verschwinden der bekanntesten Pilotin ihrer Zeit kann seitdem nur spekuliert werden. Vielleicht ist sie doch nicht ins Meer gestürzt und ertrunken, vielleicht haben sie und ihr Navigator Fred Noonan auf einer einsamen Insel überlebt, wir wissen es nicht. Und naturgemäß sind Elvis-lebt-artige Verschwörungsphantasien nicht das, was uns interessiert. Sich in die Seinszustände von Menschen hinein versetzen dafür umso mehr. So hat etwa Heather Nova vor gut 20 Jahren in ihrem Lied “I Miss My Sky” die Gedanken und Gefühle von Amelia Earhart im Rückblick auf ihre Karriere und in Erwartung ihres Todes nachempfunden, ein großartiges Beispiel dafür, wie mit den Mitteln der Kunst das Leben Verstorbener ins Leben Lebender übertragen und über die Todesgrenze hinweg zum Fortwirken verwandelt werden kann. Und diese Kunst-Magie vollzieht auch Laurie Anderson mit ihrem Erzählkosmos, wobei sie eine feine Balance zwischen expressiven Textpassagen und subliminalen Klangbildern zu halten versteht. Oft ist es nicht zu unterscheiden, ob sie gerade singt oder erzählt.

“I am an artist, because I want to be free. I hate it when people tell me what to do.” So beschreibt Laurie Anderson ihre Grundhaltung, ihre Herangehensweise in diesem Advice To the Young Interview. Und auch Amelia Earhart wollte sich von nichts und niemand vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben gefälligst nach irgendwelchen Normen und Rollenklischees zu gestalten habe. Um aber von ihrer Kunst oder eben von ihrer Fliegerei leben zu können, sind auch diese starken Frauen darauf angewiesen, in der Welt da draußen “Geschäfte zu machen”. There’s no Business like Showbusiness.

Kunnst?

PS. Laurie Andersons Gedankenwelt rund ums Entstehen dieses Albums in einem ausführlichen “Interview ohne Interviewer” (ein ähnliches Setting wie es bei André Hellers Menschenkinder angewandt wird). Sehr sehenswert

 

Morgen ist schöner

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. August – Ich drehte den Fernseher auf und geriet, völlig unvorbereitet, mitten hinein in die Übertragung der heurigen Jedermann-Aufführung vom Salzburger Domplatz. Mitten hinein in eine Tischgesellschaft, die so goldlackiert zurechtgeschaufenstert synchrontanzt, dass ich erschöpft aufseufze: “Jetzt haben sie den Jedermann also auch zum Hupfkasperl im Larifariland gemacht mit ihrer amerikanoiden, überall auf der Welt gleichförmigen Bühnenshow.” Wennst wirklich Choreographie auf künstlerischem Weltniveau haben möchtest, dann schau dir “RHYTHM IS IT” an. Aber geh scheißen mit so einem billigen Tinnef, der eh schon flächendeckend alles und jeden verkonsumwichtelt. Mir tut ja der Philipp Hochmair leid. Morgen ist schöner? Seine innere Heimat” muss jetzt wirklich sehr stark sein.

Morgen ist schöner (Omar Khir Alanam)Als ein Gegenmittel zu dieser kleinkarierten Inszenierung soll er ja nach wie vor mit Kurt Razelli zusammen den Jedermann-Monolog “abviechern” (wir haben das Album damals vorgestellt). Und im Gespräch mit Omar Khir Alanam wird deutlich, wie der Schauspieler im Unterschied zum Autor und Performer die innere Heimat in der fremden Sprache von Theaterdichtern und Regisseuren abfedertdurch eine selbsterschaffene Welt, in der “das geniale Kind völlig unbehindert drauflos fuhrwerken kann”. Der Film “Jedermann auf Reisen” von Wolfgang Tonninger ist sicher auch die (Wieder)entdeckung des heurigen Sommers, die uns nicht nur über die ekligen Oberflächlichkeiten des Festspielbetriebs hinaus zum “Selbst weiter spüren und denken” verhilft, sondern uns zudem noch in die tiefenentspannte Philosophie des “Dialogischen Prinzips” eintauchen lässt und so die unendliche Unterwasserwelt des ständigen Neuerschaffens zugänglich macht. Chapeau, liebe Tiefseetaucher und Seelenreisende, wir sind angekommen – unterwegs. Oder auch umgekehrt. Im Zwischen – vielleicht, aber sicher. “Im Anfang war das Wort” oder wie Grand Corps Malade es ausdrückt: “Une lumière incandescente issue d’un souffle oratoire.”

“Morgen ist schöner”, so betitelt der Autor, Poetry Slammer, Kabarettist, Trainer und – überhaupt unsere Neuentdeckung des heurigen Sommers Omar Khir Alanam eine Textcollage, die er über die Jahre schon in den verschiedensten Situationen vorgetragen hat und die er fortlaufend weiterentwickelt. Diese Geschichte, in der er seine Flucht aus Syrien und auch sein Ankommen in Österreich verbearbeitet, wollen wir zum Schluss der heutigen Sendung anhören. Eine Geschichte, die uns dazu anregt, unser aller Unterwegssein immer auch als Hoffnung zu begreifen

Wie gesagt, morgen ist schöner.

PS. Den erwähnten Dokumentarfilm “Jedermann auf Reisen – Die Weltvermessung eines Heimatlosen” gibt es derzeit noch in der ORF-Mediathek sowie darüber hinaus jederzeit bei Vimeo On Demand anzusehen. Wir empfehlen dessen hintergründige Inspirationen wirklich aus vollstem Herzen!

 

Der General

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. Juli – Unlängst hat der Hase einen recht bemerkenswerten Song ausgegraben, der ihm in seiner Jugendzeit begegnet ist und der ihn damals in vielerlei Hinsicht beschäftigt hat. Es handelt sich um einen Klassiker aus den 90er Jahren, “The General” von Dispatch, der in beeindruckender Sprache davon erzählt, wie ein hochdekorierter Heerführer aufgrund eines intensiven Traums die bevorstehende Schlacht absagt und seine Soldaten nach Hause schickt. Dabei schließt er mit den Worten: “Go now, you are forgiven. Diese Geschichte hat mich wiederum tief bewegt, komme ich doch selbst aus einer kriegszerstörten Familie und sehne mich seit langem danach, endlich aus dem Krieg in mir entlassen zu werden. Vielleicht möcht ich auch mehr wie der General sein – und mir selbst verzeihen

Der GeneralDamit will ich darauf aufmerksam machen, dass die Geschichte, die da erzählt wird, einige Ebenen enthält, die weit über das Kriegsgeschehen ringsum in der Welt hinaus weisen in die innere Entwicklung einzelner Menschen und ihrer Einstellung zum Krieg an sich – und in sich und um uns herum. Denn wiewohl das Lied ursprünglich aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den USA als einem kriegführendem Staatswesen (in der Zeit zwischen den beiden Irakkriegen) entstanden ist, berührt seine Botschaft auch noch wesentlich Allgemeingültigeres. Der, der die Macht hat, sieht im Traum “die Menschen auf der anderen Seite” und entscheidet sich dafür, “dass es keinen Wert hat und auch keinen Sinn ergibt, diesen Kampf auszutragen”. Wer aber hat die Macht, die Wirklichkeit zu verändern, wenn nicht jeder einzelne Mensch in seinem Leben, das untrennbar verknüpft ist mit dem Leben der anderen? Jeder Mensch wird den Krieg beenden, sobald er das Richtige träumt.

Das erscheint erst einmal unglaublich, zumal die immerfort auf uns einprasselnde Weltgewalt ganz andere Zustände in uns verursacht: Ohnmacht, Ausweglosigkeit, Resignation und ganz viel verstopfte Wut. Hoffen, trauern und lieben die Kinder denn ganz umsonst? Hier kann die symbolische Darstellung surrealer Traumbilder weiterhelfen, wie sie zum Beispiel in Antonello Vendittis genialem Video “In Questo Mondo Che Non Puoi Capire” stattfindet, das einerseits zwar resignierend “Sempre quella … sempre guerra” seufzt – andererseits aber den Tanz des Lebens feiert.

Einerseits, andererseits, beiderseits gleichzeitig, zwischen Zerrissenheit und dem Irrsinn Erlösung zertanzt sich das Leben im inneren Ringen nach einem Weg durch die Krise. Kommen wir also zu einem weiteren Kriegsberichterstatter seiner eigenen Seelenlandschaft, der diesen (uns wohl allen mehr oder weniger bekannten) inneren Zwiespalt wie kaum ein anderer textmusikalisch dargestellt hat. “Hi, Ren” heißt das entsprechende Video, das uns tief in die Abgründe des walisischen Künstlers blicken lässt – und uns zu einer neuen Begegnung mit unseren eigenen Dämonen ermutigt.

So. Und weil wir den real existierenden Scheißkrieg, den Putinrussland gegen die Ukraine führt, nach wie vor zum Kotzen finden, wollen wir hier zum Schluss abermals jenen “kyrillischen Vorhang” anheben, der uns von der russischen Sprache trennt. Chad Urmston von Dispatch hat nämlich in akribischer Arbeit den alten, aber (wie oben ausgeführt) zeitlosen und weit über seinen Anlass hinaus wirksamen Song “The General” auf Russisch übertragen und eingesungen. Daraus ergibt sich eine weitere sehr konkrete Bedeutungsebene, die wir euch auf keinen Fall vorenthalten wollen:

Жил да был ветеран генерал герой
Кладезь историй, человек золотой
О прошлых битвах он вёл рассказ
Победы и потери он видал не раз
На поле боя заслужил он славу и почёт
Увешен медалями, орденов не счёт
Он шрамы с поля скрыл бородой
Стоял он за солдат горой

Накануне важной битвы
Когда солдаты спят
Всё думал о смысле жизни и сам не мог уснуть
Он проснулся и рассказал о том, что увидел
И вышел медленно к ним

Все солдаты стояли в строю по струнке
Храбрые бойцы смотрели вперед
Утро было серым и они не знали, что будет
Пока генерал не сказал им идти домой

Он сказал: „Врага и во сне я видел
И я обнаружил — эта битва того не стоит
И я видел глаза матерей
И я не позволю, чтобы вы пошли за мной

Так
Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить

Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить
Идите, вас простили

Но солдаты стояли, оружие на взводе
От странной команды они растерялись
Генерал сказал: „Это мой долг, но больше ни шагу
Вы можете идти куда хотите“

Солдаты застыли, стояли не моргая
Пока один за другим они не разошлись
Старый генерал остался с эхом своих слов
Он приготовился к бою

Он сказал: „Врага и во сне я видел
И я обнаружил — эта битва того не стоит
И я видел глаза матерей
И я не позволю, чтобы вы пошли за мной

Так
Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить

Почистить сапоги и разойтись!
Время вам нельзя убивать
Вы молоды, вам жить и жить
Идите, вас простили

Идите, вас простили
Идите, вас простили
Идите, вас простили
Идите …

 

Was geht ab auf Lampedusa

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JuliLampedusa? Da war doch mal was. Ist das nicht die Insel mit den Flüchtlingen? Die Katastrophengeschichte von vor 10 Jahren? Das stets bei passender Gelegenheit wieder auftauchende Symbol für die Überforderung Europas mit “den unkontrolliert über uns herein brechenden Flüchtlingsströmen”? Der willkommene Anlass für jene politische Propaganda, die seit Jahren vom “Schutz der EU-Außengrenzen” vor sich hin trötet, während jedes Jahr wieder Tausende auf der Flucht im Mittelmeer ertrinken. Lampedusa? Da war aber auch (und ist immer noch) etwas ganz anderes. Menschen, die sich inmitten der sonstigen Alltagssorgen auf einer entlegenen Insel um Menschlichkeit bemühen, die doch so selbstverständlich sein könnte, auch in gefühlsabgestumpften Zeiten

Lampedusa 1 Maggio 2015Wir spielen Teile des Albums “LAMPEDUSA 1 MAGGIO 2015”, das die verschiedensten Künstler und Musikgruppen vereint, die an jenem 1. Mai in einem Konzert die Gefühle der dort lebenden Einwohner und auch die Eindrücke der zunächst einmal geretteten Flüchtlinge als miteinander verbunden zur Aufführung brachten. Diese beiden Aspekte ein und derselben Wirklichkeit, die aus den jeweils unterschiedlichen Blickwinkeln der Inselbewohner wie der Seenotopfer gespürt werden können, sind “die zwei Gesichter ein und desselben Janus”, wie es im Begleittext zum Album heißt. Eine Darstellung dieser zwei Seiten in ein und demselben Konzert, oft sogar in ein und demselben Musikstück, offenbart uns eine tiefe Verbundenheit zwischen allen Menschen, welche sich aus dem Leben auf dieser Erde begründet – und nicht aus dem Besitzanspruch eines Staatswesens. Wer einem Menschen die Hand reicht, ihn aus dem Wasser zieht um ihn so vor dem Ertrinken zu retten, dem (oder der) sind irgendwelche staatlichen Hoheitsansprüche in dem Moment gleichgültig. Es gilt das Notwendige. Das Unmittelbare. Jetzt und hier. Was in den Ämtern der Möchtigen auch verfügt wird – es verfängt nicht. Das Leben geht vor.

Zurück an Land, also auf der kleinen Insel, die näher bei Afrika als bei Italien liegt, fällt uns auf, wie viele verschiedene Einflüsse aus dem gesamten Mittelmeerraum sich hier zu einem ganz eigenen Klang- und Stimmungsbild verbunden haben. Dies wird auch durch die Auswahl der am Konzert/Album beteiligten Musikschaffenden deutlich. Und immer begegnen sich, dem Konzept der Darstellung folgend, sowohl europäisch-internationale Hörwelten/Stile als auch afrikanische, maghrebinische und orientalische Musiktraditionen. Es zeigt die Verbundenheit all dieser Welten.

Wie ein traumschweres Meer.

PS. Wir empfehlen den ausgezeichneten Dokumentarfilm “Lampedusa im Winter” von Jakob Brossmann, der ebenfalls das innere Erleben der Inselbewohner wie auch das der aus Seenot geretteten Bootsflüchtlinge als zwei Seiten derselben Wirklichkeit darstellt. Hier gibts ein ausführliches Interview mit dem Filmemacher.

 

Keine Fußballsendung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. Juni – Wir wollten gerade jetzt, wo “da draußen” wieder einmal “die Europameisterschaft” ausgebrochen ist, absichtlich keine Fußballsendung machen. Oder zumindest eine Sendung mit dem Titel “Der Fußball ist tot. Zumal es gute Gründe gibt, die chauvinistische Unkultur, die solch penetrant umworbene Geldspektakel mit sich bringen, mit umfassender Abscheu zu quittieren. Ihr seht, uns lässt das Thema auch nicht kalt. Weshalb wir uns auf die Suche nach den schönen Seiten des Fußballs machen wollen und dabei hoffentlich etwas von jener Fußballkultur wieder entdecken, die uns selbst zu berühren und zu inspirieren vermag. Denn in der Leidenschaft, die mit dem Spiel verbunden ist, lebt eine ganze Gefühlswelt, die es vor den gefräßigen Allesverwertesten zu retten gilt.

Keine FußballsendungBeginnen wir folgerichtig mit den etwas leiseren Tönen. Da gibt es zum Beispiel zwei Jugendfreunde aus Norwegen, die als Kings Of Convenience” eins der schönsten Musikvideos geschaffen haben, in dem das Fußballspielen sich ganz natürlich im Feingefühl der Kunst bewegt: “Misread”. Es gibt sie also, die Freunde, die das Spiel mit dem Ball zu einer gemeinsamen Welt in friedlicher Verbundenheit verweben. Das möchte man auch den eigenen Kindern wünschen und da stimmt selbst Stephan Weidner, sonst Bassist der Böhsen Onkelz, ein eher gefühlvolleres “Lied für meinen Sohn” an. Ach ja, wenns ums Umarmen des Lebens geht und nicht ums Auslachen, Verächtlichmachen und noch schlimmer Feindseliges, dann schau ja auch ich gern den Nachbarskindern beim Kicken zu, hör sie lachen und lehn mich zufrieden zurück in die beruhigende Melodie ihrer Unterhaltung, in der nichts Boshaftes mitschwingt, nur Freundliches, einander Aufbauendes, Wohlgesonnensein und Lebensfreude.

Wenn wir jetzt schon “keine Fußballsendung” machen und dennoch “das Phänomen Fußball” aus dem Blickwinkel der Liebe heraus betrachten, dann darf einer der größten Liebenden der Fußballgeschichte auf keinen Fall fehlen: Predrag Pašić, der mitten im Bosnienkrieg eine Fußballschule für Kinder im belagerten Sarajevo gründete. Hier in der legendären Doku “Rebellen am Ball” von Eric Cantona wird ausführlich davon erzählt. Mitten in der Schlammlawine des internationalen Konsumismus und der mit ihm verbundenen postkolonialen Kolonialkriege leuchtet die Wahrheit des Liebens.

Schon Pier Paolo Pasolini hat ja kurz vor seinem Tod beschrieben, wie diese globale Fusion aus Geldmacht, Religion und Ideologie jedwede Kultur (und er erwähnt dabei auch die Fußballkultur) in einem erstickenden Einheitsbrei aus Missgunst, Neid und Käuflichkeit zugrunde richtet. Die Poesie des Widerstands gegen eine so ausweglos erscheinende Weltgewalt besteht in der menschlichen Phantasie, deren imaginative Kraft aus der inneren Unendlichkeit ihrer Bilder gespeist wird. Fürwahr ein Füllhorn an Lebensformen, das denen, die mit dem Ende drohen, immer überlegen sein wird.

Wagen wir noch eine Prophezeihung: Das seltsame Ausblenden des Themas “Liebe und Zärtlichkeit, womöglich sogar Sexualität zwischen Männern” in der Fußballwelt ist ein letztes ungustiöses Aufrülpsen einer längst überholten Gefühlsgewohnheit, die von vielen noch immer als naturgegeben geglaubt wird, ihnen in Wirklichkeit aber von (siehe oben) Geldmacht, Religion und Ideologie gefickt eingeschädelt wurde und wird. Vor einigen Jahren veröffentlichten Sigur Rós dazu ein beeindruckendes Statement. Und Marcus Wiebusch von Kettcar ist sich absolut sicher: “Der Tag wird kommen.”

Keine Fußballsendung? Doch eine Fußballsendung …

 

Wilde Lieder

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. Juni“Ein Gespenst geht um in Salzburg…” und die meisten anderen dieser Schmähs sind auch schon gemacht. Haben wir doch seit kurzem einen “kommunistischen Vizebürgermeister”, genau gesagt Kay Michael Dankl von der Liste KPÖ PLUS. Der gelernte Historiker antwortet auf die wiederholte Frage, ob er Marxist sei und ob er Karl Marx gelesen habe, erstaunlich elegant mit eigenen Gedanken über eine “gerechtere Gesellschaft”, in der “Geld nicht mehr derart im Mittelpunkt steht”. Das geht doch in eine interessante Richtung, nämlich verstehen zu wollen, was den Menschen Karl Marx umgetrieben, was ihn beeinflusst und beschäftigt hat. Wir gehen gleich noch einen Schritt weiter und begeben uns in die Zeit seiner Studentenjahre. Und wir hören Die wilden Lieder des jungen Marx.

Die wilden Lieder des jungen MarxEs ist ja nur logisch – wenn ich verstehen möchte, was heute für mich, für uns bedeutsam ist, was hilfreich und sinnvoll anzuwenden wäre – von all den Gedanken und Ideen, die ein gescheiter Mensch niedergeschrieben und uns damit hinterlassen hat – dann sollte ich zunächst einmal wissen, wer da eigentlich spricht. Da schau her, ein junger Student, verliebt, voll romantischer Begeisterung, der erste Lieder und Gedichte schreibt, beginnt sich schon sehr bald an den Machtverhältnissen im Deutschen Bund der 1830er Jahre (der “Vormärz”, der in die Revolution von 1848 führen wird) zu reiben, wird selbstverständlich Teil einer größeren Bewegung, die das Joch der absolutistischen Herrschaft abschütteln will und stattdessen eine selbstgewählte demokratische Regierungsform anstrebt. Die weitreichende Umwälzung des bisher Bestehenden – das nennt sich Revolution. In der Vorstellung des Musikalbums der Grenzgänger bringt es der Deutschlandfunk auf den Punkt: “Revolution als Akt der Liebe”. Hier finden die innere Einstellung und die äußeren Handlungen zusammen.

Um sich ein Bild machen zu können, das dicht und deutlich genug ist, um die eigene Phantasie zur Entfaltung kommen zu lassen, ist es notwendig, sowohl die äußeren Umstände als auch die inneren Beweggründe des Menschen zu begreifen, den wir da betrachten. Nachdem über die jenen Karl Marx umbrandende Weltgeschichte in unzähligen Quellen viel zu hören und zu lesen ist, freuen wir uns desto mehr über die ausführliche Darstellung seiner Lieder und vertonten Gedichte und die Homepage der Grenzgänger. Oder auch über diese schöne Ausgabe vom “Weltgericht” (1837).

Immer schön kritisch bleiben Pustekuchen

 

Dream Home Heartache

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. MaiIn Every Dream Home A Heartache – der Song von Roxy Music aus dem Jahr 1973 ist eine jener besonderen Perlen, die noch Jahrzehnte nach dem erstmaligen Erscheinen ihre erstaunliche Wirkung entfalten. Es gibt eine unüberbietbare Liveversion auf dem Album Viva!, dem wir schon einmal eine ganze Sendung gewidmet haben. Heute wollen wir das Stück selbst und seinen Einfluss auf unser Empfinden noch etwas genauer unter die Lupe nehmen. Und so betrachten wir die Geschichte, die uns Bryan Ferry darin verkörpert, deren Text in zwei widersprüchlich erscheinenden, doch auch zutiefst miteinander verbundenen Begrifflichkeiten kulminiert: Dreamhome und Heartache. Was bedeutet das eigentlich – und ist in unser aller Leben wirklich das Süße stets mit dem Bitteren vermischt?

Dream Home Heartache

Exhibition by Magdalena Dukiewicz. Stand4 Gallery, Brooklyn, NY

Im Begleittext zur Ausstellung von Magdalena Dukiewicz heißt es: “Home, a simple four-letter word loaded with diverse meanings … reminds us that home is both where the heart is and where heartache can be.” Und in einer Darstellung namens Stay Home Gallery: “The yellow light coming from inside of the house … is both welcoming and hostile – the place is a shelter that can become a prison.”

Damit ist die Ambivalenz der Gefühle mit all dem, was Home, Dahoam, Heimat, Heim in uns auslösen kann, erst einmal ausgebreitet. Vertiefter noch: “Ich fühle mich nicht so recht zuhause in mir. Ich irre wie fremd in mir umher. Ich habe mir alles so hergerichtet, dass ich mich bei mir geborgen fühle – und dennoch fehlt mir andauernd etwas. Ich spreche mit einer aufblasbaren Sexpuppe – und sie anwortet mir nicht. Ich mache doch alles, um die vollkommene Glückseligkeit zu erreichen – und doch stürze ich immer wieder ab.” Verdichtet ließe sich das dann in etwa so zusammenfassen: “Aus der Mitte entspringt ein Loch.”

Es verwundert also nicht allzusehr, dass etwa Rozz Williams, der tragische Held und Gründer von Christian Death, den Roxy-Music-Song 1995 noch einmal auf seine ganz eigene zutiefst abgründige Art und Weise zum Leben erweckte. Oder dass Andreas Spechtl, den der geheimnisvolle Drogentod von Walter Benjamin 1940 in Portbou lange Zeit in Atemlosigkeit hielt, auf DMD KIU LIDT ausgerechnet jenes Bitter-Sweet von Roxy Music coverte, das Bryan Ferry auch für den Babylon Berlin Soundtrack neu einspielte. Gemeinsam ist all diesen Menschen das Neuerschaffen von etwas …

Oder wie es Bryan Ferry im Interview mit Another Man ausdrückt: “Here’s a guy in the song who has everything and nothing. That’s a very tragic resonance throughout time, people who think they’re trying to get the world and they have nothing. – I always wrote as a character. In some songs it rings more true to me, then there are others that are obviously me assuming a role. As an artist, you have to do that otherwise your horizons would be so limited. You have to expand your consciousness to become someone else, to become another ‘me’.”

Die Grenzen zwischen Kunst und Existenz. Und wenn ja – wohin wir gehen …

 

Piratenradio gegen den Nazistaat

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. AprilAm 30. März dieses Jahres wäre Walter Klingenbeck 100 Jahre alt geworden. Doch er wurde 1942 zum Tod verurteilt und 1943, im selben Jahr wie die ungleich bekanntere Sophie Scholl, hingerichtet. Er hatte gemeinsam mit drei weiteren Freunden ein sogenanntes Piratenradio errichtet, um von der gleichgeschalteten Nazipropaganda abweichende Informationen (etwa über den Kriegsverlauf) zu veröffentlichen. Das galt damals als Wehrkraftzersetzung und Hochverrat und führte in den meisten Fällen zu einem Todesurteil. Schon das bloße Weitersagen von im Radio Gehörtem (wenn es zum Beispiel Nachrichten aus dem Ausland waren) konnte lebensgefährlich sein, wie die Geschichte des Wiener Schülers Josef Landgraf zeigt, der diesen Naziwahnsinn zum Glück überlebt hat.

Piratenradio Walter KlingenbeckWalter Klingenbeck war ebenfalls 17 Jahre alt, als er sich entschloss, gegen die angebliche Allmacht der Diktatur aufzutreten. Wir wollen sein Beispiel in Erinnerung rufen, zumal gerade in unserer Zeit nicht wenige wieder mit dem braunen Erbe jener menschenverachtenden Ideologie liebäugeln oder gar herumzündeln. Für die Gestaltung der Sendung verwenden wir Auszüge des 2018 anlässlich seines 75. Todestags live dargebotenen “Akustischen Denkmals für Walter Klingenbeck” von “die grenzlandreiter” (Gerald Fiebig) und lesen aus verschiedenen Zeitdokumenten (Todesurteil, Abschiedsbrief). Doch wollen wir den Themenbogen noch darüber hinaus spannen. Zur besonderen Ausprägung jugendlichen Aufbegehrens und daraus erwachsenden Widerstands empfehlen wir diesen hervorragenden Artikel von Jürgen Zarusky. Und was den Bezug zur gefährdeten Gegenwart anbelangt, mag uns das Vater-Sohn-Gespräch, von dem Konstantin Wecker in “Vaterland” berichtet, zum Weiterdenken anregen. Das Vermächtnis Verstorbener “ins Leben erzählen” ist poetisches Erschaffen.

Dass da einer ausgerechnet das Radio als geeignetes Mittel zum Durchdringen des staatsgewaltlichen Normkonformismus ausgewählt hat, das ruft uns nicht zuletzt in Erinnerung, dass auch unser Sender, die Radiofabrik, aus einem Piratenradio heraus entstanden ist. Inzwischen ist es gesetzlich gesichert, dass “Personen und Gruppen, die in den öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Medien unterrepräsentiert sind” hier eine Meinungsäußerungs- und Veröffentlichungsplattform haben. Was wiederum aufzeigt, wie lebensnotwendig der Kampf für eine freie Gesellschaft generell ist.

Und er ist nicht vorbei …

PS. Zudem noch ein feiner Vortrag von Jürgen Zarusky über Walter Klingenbeck.

 

Burn The World

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. März – Um das Jahr 1990 herum tauchte in Salzburg ein junger Mann aus England auf, der uns mit Hingabe und Begeisterung von einem Musiker namens Roy Harper erzählte. Dieser sei schon seit den 60ern in der britischen Musikszene aktiv und habe einige der erfolgreichsten Rockgrößen maßgeblich beeinflusst, ja sogar mit ihnen zusammen gespielt, ohne jedoch selbst jemals “berühmt” geworden zu sein (außer in Insiderkreisen). Wer denn da so alles dabei gewesen sei, fragte ich, und hörte Namen wie Led Zeppelin, Pink Floyd, Jethro Tull, Kate Bush und Paul McCartney. Davon durchaus beeindruckt kaufte ich mir eine (damals noch) Schallplatte, auf der das eigenartige Stück “Burn The World (Part 1)” enthalten war, das auch der Ausgangspunkt für unsere heutige Hörreise sein wrd …

Roy Harper - Burn The WorldDenn der gute Mann da auf dem Cover ist nicht nur eine sozusagen unberühmte Berühmtheit. Es hat sehr gute Gründe, weshalb ihn so viele anerkannte Größen aus der Wunderküche der Rockmusik als einen wesentlichen Ideengeber für ihr künstlerisches Schaffen und ihre Weiterentwicklung begreifen. Nicht nur, dass er ein beachtlicher Gitarrist und ein hochkomplexer Lyriker ist, nein, da ist nocht etwas anderes: Roy Harper ist eine Art nimmermüder Ideenschleuderer, ein Darstellungsschamane seiner eigenen Innenwelt, der einfach nur einen Entwurf nach dem anderen “raushaut” zur freien Entnahme und “to whom it may concern”. Der Begriff Ent-Wurf ist hier wichtig, denn seine Werke sind irgendwie unfertig, sind Skizzen, Andeutungen, Ideen, gerade so weit ausgearbeitet, dass man erkennen kann, worum es geht – und doch zugleich so interpretationsoffen und zum Selbstweiterbasteln einladend, dass man sie gern aufgreift, sich anverwandelt und zu etwas Neuem und Eigenem umformt, gestaltet, transformiert. So gelangt das, was einer sieht, durch viele andere nach außen

Burn the World – ein Verwandlungsphänomen. Und gerade diese 1990 entstandene Arbeit über das Verbrennen der Welt – was wird hier angesprochen – Klimawandel? Revolution? Gewalt? Hass? Vergebung? Tod? Auferstehung? Wiedergeburt? – diese Collage aus Bildern und Visionen, aus An- und Bedeutungen, aus Klängen, Schreien, rasenden Empfindungen und einem offenen Ende – dieses im Jahr 1990 als gut 18minütiges Livesolo in London aufgezeichnete Inspirationskonglomerat kann uns zum Verwandeltwerden wie zum selbstmächtigen Verwandeln anregen.

Burn the World – es ist höchste Zeit.