Keine Fußballsendung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. Juni – Wir wollten gerade jetzt, wo “da draußen” wieder einmal “die Europameisterschaft” ausgebrochen ist, absichtlich keine Fußballsendung machen. Oder zumindest eine Sendung mit dem Titel “Der Fußball ist tot. Zumal es gute Gründe gibt, die chauvinistische Unkultur, die solch penetrant umworbene Geldspektakel mit sich bringen, mit umfassender Abscheu zu quittieren. Ihr seht, uns lässt das Thema auch nicht kalt. Weshalb wir uns auf die Suche nach den schönen Seiten des Fußballs machen wollen und dabei hoffentlich etwas von jener Fußballkultur wieder entdecken, die uns selbst zu berühren und zu inspirieren vermag. Denn in der Leidenschaft, die mit dem Spiel verbunden ist, lebt eine ganze Gefühlswelt, die es vor den gefräßigen Allesverwertesten zu retten gilt.

Keine FußballsendungBeginnen wir folgerichtig mit den etwas leiseren Tönen. Da gibt es zum Beispiel zwei Jugendfreunde aus Norwegen, die als Kings Of Convenience” eins der schönsten Musikvideos geschaffen haben, in dem das Fußballspielen sich ganz natürlich im Feingefühl der Kunst bewegt: “Misread”. Es gibt sie also, die Freunde, die das Spiel mit dem Ball zu einer gemeinsamen Welt in friedlicher Verbundenheit verweben. Das möchte man auch den eigenen Kindern wünschen und da stimmt selbst Stephan Weidner, sonst Bassist der Böhsen Onkelz, ein eher gefühlvolleres “Lied für meinen Sohn” an. Ach ja, wenns ums Umarmen des Lebens geht und nicht ums Auslachen, Verächtlichmachen und noch schlimmer Feindseliges, dann schau ja auch ich gern den Nachbarskindern beim Kicken zu, hör sie lachen und lehn mich zufrieden zurück in die beruhigende Melodie ihrer Unterhaltung, in der nichts Boshaftes mitschwingt, nur Freundliches, einander Aufbauendes, Wohlgesonnensein und Lebensfreude.

Wenn wir jetzt schon “keine Fußballsendung” machen und dennoch “das Phänomen Fußball” aus dem Blickwinkel der Liebe heraus betrachten, dann darf einer der größten Liebenden der Fußballgeschichte auf keinen Fall fehlen: Predrag Pašić, der mitten im Bosnienkrieg eine Fußballschule für Kinder im belagerten Sarajevo gründete. Hier in der legendären Doku “Rebellen am Ball” von Eric Cantona wird ausführlich davon erzählt. Mitten in der Schlammlawine des internationalen Konsumismus und der mit ihm verbundenen postkolonialen Kolonialkriege leuchtet die Wahrheit des Liebens.

Schon Pier Paolo Pasolini hat ja kurz vor seinem Tod beschrieben, wie diese globale Fusion aus Geldmacht, Religion und Ideologie jedwede Kultur (und er erwähnt dabei auch die Fußballkultur) in einem erstickenden Einheitsbrei aus Missgunst, Neid und Käuflichkeit zugrunde richtet. Die Poesie des Widerstands gegen eine so ausweglos erscheinende Weltgewalt besteht in der menschlichen Phantasie, deren imaginative Kraft aus der inneren Unendlichkeit ihrer Bilder gespeist wird. Fürwahr ein Füllhorn an Lebensformen, das denen, die mit dem Ende drohen, immer überlegen sein wird.

Wagen wir noch eine Prophezeihung: Das seltsame Ausblenden des Themas “Liebe und Zärtlichkeit, womöglich sogar Sexualität zwischen Männern” in der Fußballwelt ist ein letztes ungustiöses Aufrülpsen einer längst überholten Gefühlsgewohnheit, die von vielen noch immer als naturgegeben geglaubt wird, ihnen in Wirklichkeit aber von (siehe oben) Geldmacht, Religion und Ideologie gefickt eingeschädelt wurde und wird. Vor einigen Jahren veröffentlichten Sigur Rós dazu ein beeindruckendes Statement. Und Marcus Wiebusch von Kettcar ist sich absolut sicher: “Der Tag wird kommen.”

Keine Fußballsendung? Doch eine Fußballsendung …

 

Wilde Lieder

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. Juni“Ein Gespenst geht um in Salzburg…” und die meisten anderen dieser Schmähs sind auch schon gemacht. Haben wir doch seit kurzem einen “kommunistischen Vizebürgermeister”, genau gesagt Kay Michael Dankl von der Liste KPÖ PLUS. Der gelernte Historiker antwortet auf die wiederholte Frage, ob er Marxist sei und ob er Karl Marx gelesen habe, erstaunlich elegant mit eigenen Gedanken über eine “gerechtere Gesellschaft”, in der “Geld nicht mehr derart im Mittelpunkt steht”. Das geht doch in eine interessante Richtung, nämlich verstehen zu wollen, was den Menschen Karl Marx umgetrieben, was ihn beeinflusst und beschäftigt hat. Wir gehen gleich noch einen Schritt weiter und begeben uns in die Zeit seiner Studentenjahre. Und wir hören Die wilden Lieder des jungen Marx.

Die wilden Lieder des jungen MarxEs ist ja nur logisch – wenn ich verstehen möchte, was heute für mich, für uns bedeutsam ist, was hilfreich und sinnvoll anzuwenden wäre – von all den Gedanken und Ideen, die ein gescheiter Mensch niedergeschrieben und uns damit hinterlassen hat – dann sollte ich zunächst einmal wissen, wer da eigentlich spricht. Da schau her, ein junger Student, verliebt, voll romantischer Begeisterung, der erste Lieder und Gedichte schreibt, beginnt sich schon sehr bald an den Machtverhältnissen im Deutschen Bund der 1830er Jahre (der “Vormärz”, der in die Revolution von 1848 führen wird) zu reiben, wird selbstverständlich Teil einer größeren Bewegung, die das Joch der absolutistischen Herrschaft abschütteln will und stattdessen eine selbstgewählte demokratische Regierungsform anstrebt. Die weitreichende Umwälzung des bisher Bestehenden – das nennt sich Revolution. In der Vorstellung des Musikalbums der Grenzgänger bringt es der Deutschlandfunk auf den Punkt: “Revolution als Akt der Liebe”. Hier finden die innere Einstellung und die äußeren Handlungen zusammen.

Um sich ein Bild machen zu können, das dicht und deutlich genug ist, um die eigene Phantasie zur Entfaltung kommen zu lassen, ist es notwendig, sowohl die äußeren Umstände als auch die inneren Beweggründe des Menschen zu begreifen, den wir da betrachten. Nachdem über die jenen Karl Marx umbrandende Weltgeschichte in unzähligen Quellen viel zu hören und zu lesen ist, freuen wir uns desto mehr über die ausführliche Darstellung seiner Lieder und vertonten Gedichte und die Homepage der Grenzgänger. Oder auch über diese schöne Ausgabe vom “Weltgericht” (1837).

Immer schön kritisch bleiben Pustekuchen

 

Dream Home Heartache

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. MaiIn Every Dream Home A Heartache – der Song von Roxy Music aus dem Jahr 1973 ist eine jener besonderen Perlen, die noch Jahrzehnte nach dem erstmaligen Erscheinen ihre erstaunliche Wirkung entfalten. Es gibt eine unüberbietbare Liveversion auf dem Album Viva!, dem wir schon einmal eine ganze Sendung gewidmet haben. Heute wollen wir das Stück selbst und seinen Einfluss auf unser Empfinden noch etwas genauer unter die Lupe nehmen. Und so betrachten wir die Geschichte, die uns Bryan Ferry darin verkörpert, deren Text in zwei widersprüchlich erscheinenden, doch auch zutiefst miteinander verbundenen Begrifflichkeiten kulminiert: Dreamhome und Heartache. Was bedeutet das eigentlich – und ist in unser aller Leben wirklich das Süße stets mit dem Bitteren vermischt?

Dream Home Heartache

Exhibition by Magdalena Dukiewicz. Stand4 Gallery, Brooklyn, NY

Im Begleittext zur Ausstellung von Magdalena Dukiewicz heißt es: “Home, a simple four-letter word loaded with diverse meanings … reminds us that home is both where the heart is and where heartache can be.” Und in einer Darstellung namens Stay Home Gallery: “The yellow light coming from inside of the house … is both welcoming and hostile – the place is a shelter that can become a prison.”

Damit ist die Ambivalenz der Gefühle mit all dem, was Home, Dahoam, Heimat, Heim in uns auslösen kann, erst einmal ausgebreitet. Vertiefter noch: “Ich fühle mich nicht so recht zuhause in mir. Ich irre wie fremd in mir umher. Ich habe mir alles so hergerichtet, dass ich mich bei mir geborgen fühle – und dennoch fehlt mir andauernd etwas. Ich spreche mit einer aufblasbaren Sexpuppe – und sie anwortet mir nicht. Ich mache doch alles, um die vollkommene Glückseligkeit zu erreichen – und doch stürze ich immer wieder ab.” Verdichtet ließe sich das dann in etwa so zusammenfassen: “Aus der Mitte entspringt ein Loch.”

Es verwundert also nicht allzusehr, dass etwa Rozz Williams, der tragische Held und Gründer von Christian Death, den Roxy-Music-Song 1995 noch einmal auf seine ganz eigene zutiefst abgründige Art und Weise zum Leben erweckte. Oder dass Andreas Spechtl, den der geheimnisvolle Drogentod von Walter Benjamin 1940 in Portbou lange Zeit in Atemlosigkeit hielt, auf DMD KIU LIDT ausgerechnet jenes Bitter-Sweet von Roxy Music coverte, das Bryan Ferry auch für den Babylon Berlin Soundtrack neu einspielte. Gemeinsam ist all diesen Menschen das Neuerschaffen von etwas …

Oder wie es Bryan Ferry im Interview mit Another Man ausdrückt: “Here’s a guy in the song who has everything and nothing. That’s a very tragic resonance throughout time, people who think they’re trying to get the world and they have nothing. – I always wrote as a character. In some songs it rings more true to me, then there are others that are obviously me assuming a role. As an artist, you have to do that otherwise your horizons would be so limited. You have to expand your consciousness to become someone else, to become another ‘me’.”

Die Grenzen zwischen Kunst und Existenz. Und wenn ja – wohin wir gehen …

 

Das Sternenkind

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. April“Du soist nie aufhean zum lernen, oabeit mit da Phantasie”, so singen André Heller und Wolfgang Ambros in ihrer Bob-Dylan-Adaption “Für immer jung”. Und das drückt eigentlich eh schon alles aus, was zum Thema “Märchen für Erwachsene” gesagt sein sollte. Wir hören in der heutigen Ausgabe des ganzen Albums ein solches Kunstmärchen von Oscar Wilde, nämlich “Das Sternenkind” in einer Aufnahme der überaus umtriebigen Schauspielerin Maja Chrenko. Das ist starker Tobak und kann zu erheblichen Nebenwirkungen führen, wenn man das inwendige Abenteuer mit den äußeren Realitäten falsch vermischt -oder gar verwechselt. Doch keine Angst – lassen wir uns einfach einmal darauf ein – wer Mitgefühl für den armen Hasen zeigt, wird alle Schätze in sich entdecken

Das Sternenkind - Ein Fall für die PhantasieEin Bild, das wohl zunächst das genaue Gegenteil von blühenden Landschaften darstellt (aber eine wunderbare Punk-Location sein könnte), das vor sich hin verfallende Hotel Phantasie in Eisenach, habe ich aus diesem Lost-Places-Blog von Coola Irrgang hervorgestöbert. Aber sind wir nicht alle irgendwie “auferstanden aus Ruinen” – und seitdem auf der Suche nach dem wirklichen Frieden? Nach einem Neubeginn ohne Verleugnung? Nach der sprichwörtlichen friedlichen Koexistenz? Was müsste in uns stattfinden, damit wir außen nicht mehr lebensfeindlich herumzerstören? Solcherlei Fragen drängen sich auf, wenn wir uns überlegen, welchen Wert unsere Phantasien für die Gestaltung unserer Welt besitzen. Wenn wir überhaupt einmal zulassen, dass Märchen und andere ausgedachte Geschichten nicht bloß Unterhaltungsschmarrn fürs Beruhigen, Beschwichtigen und Behupfdudeln lästiger Nichterwachsener sind.

Das Sternenkind von Oscar Wilde erzählt von einer inneren Entwicklung (die gewiss nicht ohne Schmerzen vor sich geht) und nimmt uns mit auf die Lebensreise eines Menschen, der wir alle immer auch selbst sind. Ein Schlüssel zur Verwandlung des Protagonisten ist dabei wohl das Mitgefühl (es wird oft gesagt, dass gute Literatur uns zum Mitgefühl befähigt, weil durch sie das Einfühlen in andere angeregt wird). Offen bleibt, in welche Dickichte und Verknotungen inneren Erlebens wir dabei individuell geraten. Doch eins steht für uns fest – es wird ein weiterer Schritt auf dem Weg sein.

Wir sind ein geiles Institut.

 

Piratenradio gegen den Nazistaat

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. AprilAm 30. März dieses Jahres wäre Walter Klingenbeck 100 Jahre alt geworden. Doch er wurde 1942 zum Tod verurteilt und 1943, im selben Jahr wie die ungleich bekanntere Sophie Scholl, hingerichtet. Er hatte gemeinsam mit drei weiteren Freunden ein sogenanntes Piratenradio errichtet, um von der gleichgeschalteten Nazipropaganda abweichende Informationen (etwa über den Kriegsverlauf) zu veröffentlichen. Das galt damals als Wehrkraftzersetzung und Hochverrat und führte in den meisten Fällen zu einem Todesurteil. Schon das bloße Weitersagen von im Radio Gehörtem (wenn es zum Beispiel Nachrichten aus dem Ausland waren) konnte lebensgefährlich sein, wie die Geschichte des Wiener Schülers Josef Landgraf zeigt, der diesen Naziwahnsinn zum Glück überlebt hat.

Piratenradio Walter KlingenbeckWalter Klingenbeck war ebenfalls 17 Jahre alt, als er sich entschloss, gegen die angebliche Allmacht der Diktatur aufzutreten. Wir wollen sein Beispiel in Erinnerung rufen, zumal gerade in unserer Zeit nicht wenige wieder mit dem braunen Erbe jener menschenverachtenden Ideologie liebäugeln oder gar herumzündeln. Für die Gestaltung der Sendung verwenden wir Auszüge des 2018 anlässlich seines 75. Todestags live dargebotenen “Akustischen Denkmals für Walter Klingenbeck” von “die grenzlandreiter” (Gerald Fiebig) und lesen aus verschiedenen Zeitdokumenten (Todesurteil, Abschiedsbrief). Doch wollen wir den Themenbogen noch darüber hinaus spannen. Zur besonderen Ausprägung jugendlichen Aufbegehrens und daraus erwachsenden Widerstands empfehlen wir diesen hervorragenden Artikel von Jürgen Zarusky. Und was den Bezug zur gefährdeten Gegenwart anbelangt, mag uns das Vater-Sohn-Gespräch, von dem Konstantin Wecker in “Vaterland” berichtet, zum Weiterdenken anregen. Das Vermächtnis Verstorbener “ins Leben erzählen” ist poetisches Erschaffen.

Dass da einer ausgerechnet das Radio als geeignetes Mittel zum Durchdringen des staatsgewaltlichen Normkonformismus ausgewählt hat, das ruft uns nicht zuletzt in Erinnerung, dass auch unser Sender, die Radiofabrik, aus einem Piratenradio heraus entstanden ist. Inzwischen ist es gesetzlich gesichert, dass “Personen und Gruppen, die in den öffentlich-rechtlichen oder kommerziellen Medien unterrepräsentiert sind” hier eine Meinungsäußerungs- und Veröffentlichungsplattform haben. Was wiederum aufzeigt, wie lebensnotwendig der Kampf für eine freie Gesellschaft generell ist.

Und er ist nicht vorbei …

PS. Zudem noch ein feiner Vortrag von Jürgen Zarusky über Walter Klingenbeck.

 

Burn The World

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. März – Um das Jahr 1990 herum tauchte in Salzburg ein junger Mann aus England auf, der uns mit Hingabe und Begeisterung von einem Musiker namens Roy Harper erzählte. Dieser sei schon seit den 60ern in der britischen Musikszene aktiv und habe einige der erfolgreichsten Rockgrößen maßgeblich beeinflusst, ja sogar mit ihnen zusammen gespielt, ohne jedoch selbst jemals “berühmt” geworden zu sein (außer in Insiderkreisen). Wer denn da so alles dabei gewesen sei, fragte ich, und hörte Namen wie Led Zeppelin, Pink Floyd, Jethro Tull, Kate Bush und Paul McCartney. Davon durchaus beeindruckt kaufte ich mir eine (damals noch) Schallplatte, auf der das eigenartige Stück “Burn The World (Part 1)” enthalten war, das auch der Ausgangspunkt für unsere heutige Hörreise sein wrd …

Roy Harper - Burn The WorldDenn der gute Mann da auf dem Cover ist nicht nur eine sozusagen unberühmte Berühmtheit. Es hat sehr gute Gründe, weshalb ihn so viele anerkannte Größen aus der Wunderküche der Rockmusik als einen wesentlichen Ideengeber für ihr künstlerisches Schaffen und ihre Weiterentwicklung begreifen. Nicht nur, dass er ein beachtlicher Gitarrist und ein hochkomplexer Lyriker ist, nein, da ist nocht etwas anderes: Roy Harper ist eine Art nimmermüder Ideenschleuderer, ein Darstellungsschamane seiner eigenen Innenwelt, der einfach nur einen Entwurf nach dem anderen “raushaut” zur freien Entnahme und “to whom it may concern”. Der Begriff Ent-Wurf ist hier wichtig, denn seine Werke sind irgendwie unfertig, sind Skizzen, Andeutungen, Ideen, gerade so weit ausgearbeitet, dass man erkennen kann, worum es geht – und doch zugleich so interpretationsoffen und zum Selbstweiterbasteln einladend, dass man sie gern aufgreift, sich anverwandelt und zu etwas Neuem und Eigenem umformt, gestaltet, transformiert. So gelangt das, was einer sieht, durch viele andere nach außen

Burn the World – ein Verwandlungsphänomen. Und gerade diese 1990 entstandene Arbeit über das Verbrennen der Welt – was wird hier angesprochen – Klimawandel? Revolution? Gewalt? Hass? Vergebung? Tod? Auferstehung? Wiedergeburt? – diese Collage aus Bildern und Visionen, aus An- und Bedeutungen, aus Klängen, Schreien, rasenden Empfindungen und einem offenen Ende – dieses im Jahr 1990 als gut 18minütiges Livesolo in London aufgezeichnete Inspirationskonglomerat kann uns zum Verwandeltwerden wie zum selbstmächtigen Verwandeln anregen.

Burn the World – es ist höchste Zeit.

 

Peter Gabriel – i/o (das Album)

> Sondersendung: Artarium vom Sonntag, 10. MärzJa, da schau her, eine Doppelstunde. Warum denn das? Weil Peter Gabriel (nicht der evangelische Pfarrer aus Hallein) ein neues Album herausgebracht hat. Und das ist uns eine Betrachtung wert, die über das übliche Vorstellen und Abspielen desselben hinaus geht. Nicht, dass wir es nicht spielen würden – allerdings erst in der zweiten Stunde, nachdem wir zuvor einige inhaltliche Anregungen aus dem Gabriel’schen Gesamtwerk beleuchten wollen. Über das Album i/o selbst (das bei uns im Dark-Side-Mix stattfinden wird) ist eh schon allerhand Sinnvolles gesagt worden. Über seine eigenartige Entstehung lässt sich auch auf Wikipedia noch einiges erfahren. Dass Peter Gabriel uns sowohl im Artarium als auch bei der Nachtfahrt schon länger begleitet, dürfte bekannt sein.

Peter Gabriel i/o CoverDas erste, was uns aus dem neuen Album ins Auge sprang, war das KI-generierte Video zu “Panopticom”. Allein dieser Begriff und die dazu angestellten Überlegungen aus der wundersamen Welt im Kopf des Erfinders würden längere Studien erfordern. Die Ideen dahinter sind aus einer selbstermächtigenden Umkehrantwort auf jenes im 18. Jahrhundert von Jeremy Bentham erdachte “Panopticon” entstanden, das später als Grundkonzept für die Gefängnisarchitektur diente und als Urstruktur jedweder zentralisierter Überwachung gilt. Dass sich ein ausgewiesener Menschenrechtsaktivist wie Peter Gabriel, immerhin Mitbegründer von Organisationen wie Witness und The Elders, für die Umkehrung oder besser noch Auflösung unterdrückerischer Machtverhältnisse einsetzt, liegt auf der Hand. Dass er uns in seine vielschichtigen Überlegungen dazu, dahinter und noch darüber hinaus einlädt, das ist eine Herausforderung an unsere Phantasie – und erfordert eben ausführlichere “Studien” im Sinn eines Überwindens von überkommenen Vorstellungen, Denkstrukturen und Gefühlsgewohnheiten

Doch wie soll das gehen? Hier kommt die andere Seite von Peter Gabriel ins Spiel, die uns schon immer fasziniert und beeindruckt hat. Und hier tut sich eine mögliche Verbindung zwischen der Innenwelt jedes Einzelnen und der “Welt da draußen” mit all ihren scheinbar so unverrückbaren Gegebenheiten auf. “Sind es die falschen Geschichten, die wir uns kollektiv erzählen?” fragt sich der Biologe und Genetiker Johannes Vogel. Der selbst- und therapieerfahrene Musikkünstler Peter Gabriel hat sich in seinen Arbeiten immer wieder dort hinein versetzt, wo diese entstehen.

In der Psyche von Menschen in Extremsituationen wird deutlich, was da alles aus dem Abgrund des Unbewussten empor steigt, um uns entgegen aller Absichten “fernzusteuern”. Zum Beispiel “Intruder” (1980) oder “Mercy Street” (1986) oder auch “Darkness” (2002)immer wieder lebt sich Peter Gabriel als Protagonist innerseelischer Vorgänge dar, die mit seiner eigenen Gefühlswelt verbunden sind, und das spürt man auch. Jetzt führt er auf “Live and let live” einen neuen Begriff ein – “Forgiveness”, einen Schlüssel zur persönlichen wie auch kollektiven Befreiung.

 

Wie auch immer das gemeint sein sollte, wir wollen es uns genauer anschauen.

 

PS. Mitlesen macht schlau: Die Songtexte zum ganzen Album von Peter Gabriel.

 

Selke spricht Sprachen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. JanuarDer Salzburger Komponist und Grafikdesigner (und sonst noch so allerhand) Sascha Selke hat unlängst auf seiner Bandcamp-Seite ein Spoken-Word-Album mit dem vielsagenden Titel “Selke spricht Selke” veröffentlicht. Über die darin enthaltenen Stücke schreibt er (es gibt noch so etwas wie Liner-Notes) folgendes: “Es waren die letzten meiner Texte, die noch sinnvoll vorlesbar waren. Danach wurden meine Worte immer abstrakter, immer spröder und unzugänglicher, bis sie letztlich in meinen Händen zerfielen. Ich wandte mich von den Worten ab und fand eine neue Sprache: die Musik.” Wir wollen uns diesen Übergang von einer Sprache in eine andere gemeinsam mit euch anschauen – also eigentlich anhören – getreu dem uralten Radio-Claim: “Ihre Ohren werden Augen machen.”

Zum Ende des vorigen Jahres kam ein schönes Album mit Texten von Rainer Maria Rilke heraus, das dem großen Dichter der untergehenden Donaumonarchie mehr als nur ein Denkmal setzt. Wie wir wieder aus den Liner-Notes erfahren, ist diese Aufnahme eine sehr persönliche Danksagung für die sprachliche wie auch menschliche Inspiration durch Rilkes Lebenswerk. Einige der bekannteren Gedichte, wie etwa Der Panther, werden so einfühlsam und zudem eigenwillig interpretiert, dass sie uns (die wir Oskar Werner als Standard hörgewohnt sind) völlig neue Wahrnehmungsebenen erschließen. Das haben wir auch sogleich für die Signation/Collage zur heutigen Sendung verwendet. Sascha Selke schreibt: “Rainer Maria Rilkes Werk ist für mich seit meiner Jugend ein Quell der sensibelsten und einsichtsreichsten Sprache, ein Erlebensort der Wunder und der wundervollen Alltäglichkeit, ein Rückzugsort für Schmerz, Trauer, Zuversicht, und allem voran: eine Umarmung unserer Menschlichkeit, mit allen Schwächen, allen Stärken, allen Ängsten, aller Zuversicht.” Dem wollen wir nichts mehr hinzufügen.

Doch eine Frage, nämlich die nach der Wesensart von Kunstvermittlung, soll zu diesem Thema unbedingt noch “angeschaut” sein. Zum einen heißt es im Hinblick auf Rilke: “Meine Sprache versagt, sollte ich sagen, was er mir gegeben hat. Aber ich kann seine Worte sprechen, und ich kann sie euch weitergeben.” Und zum anderen bei der atmosphärischen Komposition “The Wooden Room Inside The Neon Tower”: “So, there was this giant city, its towers rising up into the clouds, and in the highest tower of them all, there was a …” Well, let the music tell the story. What story do *you* hear?

Da lebt der Panther in mir auf, er wittert jene Fährte, die ihm das Finden der selbst gewählten, völlig neuen Sprache für den Ausdruck seiner Eindrücke verspricht …

 

Die Verwandlung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. Oktober“Und du meinst, das geht?”, fragte ich. “Wenn wirs probieren. Michael Köhlmeiers Kater Matou entdeckt seine eigene Verwandlung in einen Leoparden. Sein gesamtes viertes Leben wird er auch als Beschützer eines verstümmelten Mädchens in der belgischen Kolonie Kongo zubringen – und fürchterliche Rache an den Gräueltätern nehmen. Das macht ihn mir überaus sympathisch. Doch haben nur Katzen mehrere Leben? Oder vermögen auch wir zwischen verschiedenen Zuständen zu wechseln? Was versteckt sich hinter so banal anmutenden Aussprüchen wie “Heut fängt für mich ein neues Leben an” nicht alles an uraltem Menschheitswissen über unsere Verwandlungsfähigkeit? Es sind die fast unmerklichen Übergänge vom einen in das andere, die es zu beschützen gilt.

Die VerwandlungUnd die Menschen, die sich auf die Reise machen – in ein neues Land, das immer schon da war, aber eben auch erst betreten werden möchte. Dazu habe ich noch einen Dichter wieder hervor gekramt, mit dem ich diesen persönlichen Reisesegen für meine Weggefährten gestalte: Christoph Ransmayr. Ich bin ihm einst bei den legendären Festln in der Porzellangasse begegnet und er hat sich inzwischen als ein versierter Reisender durch verschiedenste Weiten, Untiefen, Finsternisse und Wiederauferstehungen erwiesen. Ganz besonders aber als einfühlsamer Schilderer von unerwarteten Aggregatzuständen menschlicher Veränderung, ja Verwandlung. Und das ist für die heutige Sendung von Bedeutung. Eines der letzten Bücher, das mir meine Cousine Elke kurz vor ihrem Tod geschenkt hat, war seine 2007 erschienene Bildergeschichte “Damen & Herren unter Wasser”, eine ebenso schräge wie lebenskluge Betrachtung aus dem etwas anderen Element.

Wenn sich etwa Menschen mitsamt ihren Erinnerungen an ihr einstiges Leben auf einmal in Gestalt von Meeresbewohnern wiederfinden und wie sie ihr neues Dasein in der Unterwasserwelt individuell einrichten – das ist die hohe Kunst der Phantasie. Der Mandelbaum Verlag hat diesen wunderbaren Text in seiner Bibliothek der Töne als “Klangbuch” herausgebracht, gelesen vom Autor und musikweltumschlungen vom großartigen Experimentalmusiker Franz Hautzinger. Der schreibt selbst auch Gedichte (und dieses passt perfekt zum heutigen Thema): “Über.das.präzise.Spiel.”

Gleich ist Gleich.
Ähnlich ist Ähnlich.
Gleich ist Ähnlich.

Ähnlich ist nicht Gleich.
Ähnlich ist nicht unbedingt Ähnlich.
Gleich ist nicht unbedingt Gleich.

Gleich ist nicht Gleich.
Gleich ist nicht unbedingt Ähnlich.
Gleich ist nicht unbedingt Ähnlich.

 

Leinen los

 

Opulenzfrequenz

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Oktober – Die Idee zur Beschäftigung mit dem Thema “Opulenz“ kam unlängst vom Hasen – und ich will gar nicht behaupten, dass ich verstanden habe, was da alles dahintersteckt. Auf jeden Fall hat ihn dieses glamourös-kritische Video von ContraPoints dazu angeregt (das übrigens keine deutschen Untertitel hat, ja übersetzt denn hier niemand mehr irgendwas? Ende der Anmerkung.) Das Etymologische Wörterbuch verweist unter “opulent” auf Essen und Trinken und führt dazu als Bedeutung “üppig, reichlich, vorzüglich” an. Also beginnen wir zunächst mit einer “nicht wertenden Betrachtung” des Phänomens, das in all seinen Erscheinungsformen mit seiner und unserer eigenen Frequenz zu tun hat – und erschaffen wir uns dafür als neues Kunstwort Opulenzfrequenz”.

Opulenzfrequenz oder Was ist eigentlich zuvielEin geeigneter Absprungpunkt zum Erforschen von “Üppigkeit” wäre die im genannten Video erwähnte (als kleines Kind erlebte) “erstmalige Faszination mit etwas, dessen überwältigende Eindrücke reinstes Glücksgefühl hervorrufen”. Davon ausgehend gelangen wir auch schnell an jene kaum fassbare Grenze, ab der die schiere Überflutung mit Eindrücken einem zuviel wird und eigentlich zu einer Abwehrreaktion führen müsste, wenn die Kulturgeschichte nicht wäre. “Jo, wofia brauchtsn die? No, losstsas weg!” (Karl Ferdinand Kratzl). Egal, ob Farben, Bilder, Klänge, Musik, Geschichten, Landschaften, Mahlzeiten oder Filme, alles hat seine eigene Frequenz. Die Wellenlänge des Lichts wie die Schwingungen des Klangs, die Erzähl- oder Reisegeschwindigkeit und eben auch die Szenenfolge und die Schnittfrequenz eines Films. Genauso unterschiedlich sind unsere eigenen Frequenzen, geprägt und beeinflusst von mannigfachen Faktoren wie Umwelt, Stoffwechsel, Resonanz und Verkabelung im Gehirn. Was dem einen noch Zärtlichkeit, ist dem anderen schon Gewalt. Was dem einen Übelkeit verursacht, ist dem anderen kulinarischer Genuss. Who am I to judge? Ich bin zwar gern sozial, aber kein Soziales Medium. Wo liegen unsere Grenzen des guten Geschmacks?

Nachdem wir zwei Hasen auch “musikliterarische Gefühlsweltreisen” veranstalten, untersuchen wir zunächst unsere “Welt der Musik” auf eventuelle Unterschiede oder Gemeinsamkeiten im Genuss von Üppigkeit und in Abwehr von Reizüberflutung. Bis zu welcher Opulenzfrequenz fühlen wir uns noch reichlich bewirtet und werden angenehm satt – und wodurch stellt sich im wahrsten Wortsinn Übersättigung ein? Wodurch gerät die Opulenz zur Penetranz – und jeweils wo liegt unsere individuelle Opulenzgrenze, ab der wir mit erheblichen Verdauungsstörungen rechnen müssen?

Wir wünschen guten Appetit.