Auf der Flucht (Norbert)

  > Sendung anhören: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 12. September – Flucht und Vertreibung einmal etwas anders betrachtet als aus dem Blickwinkel aktueller Berichterstattung oder engagierter Migrationsstatistik. Wir alle kennen die Bilder der vor Lampedusa ertrunkenen oder gerade noch so mit dem bloßen Leben davongekommenen halbverhungerten Habenichtse aus den Abendnachrichten. Oder die fast schon endlos wiederholte Darstellung von Displaced Persons, KZ-Überlebende wie Heimatvertriebene, etwa aus den Geschichtsdokus von Hugo Portisch bis Guido Knopp. Ganz zu schweigen vom mittlerweile zu einer medialen Ikone des 20. Jahrhunderts gewordenen Foto, das ein weinend flüchtendes, durch Napalm verbranntes Mädchen im Vietnamkrieg zeigt. Was wir da jeweils zu sehen bekommen, das prägt unsere Erinnerung ans Weltgeschehen.

Erinnern Verstehen 1Wie aber verhält es sich mit unseren eigenen Geschichten? Jenen, die wir selbst bebildern, darstellen, erzählen können? Bei denen die Kommentare von uns selbst gesprochen – und die Zusammenhänge von uns selbst hergestellt werden? Die weichen oft stark von allgemeiner Geschichte ab – und auch davon, woran wir uns so zu erinnern glauben. Können wir etwas dazu beitragen, dass solche persönlichen Lebens- und Familiengeschichten nicht nur in der Erinnerung bewahrt bleiben, sondern darüber hinaus als ebenbürtige Elemente kollektiver Geschichte in Erscheinung treten? Dies ist die Fragestellung der dreistündigen Sendung rund um das Thema Flucht und ihre jeweiligen Anlässe und Auswirkungen – aber auch einem damit verbundenen dauernden Unterwegssein. Und zugleich unser Beitrag zum EU-Projekt „Memory under Construction: Giving Voice to Forgotten Memory“, einer 2-jährigen Grundtvig-Lernpartnerschaft unter Mitwirkung der Radiofabrik zu Salzburg. Wir finden das Konzept des emotional-assoziativen Zugangs zur Atmosphäre des Flüchtens besonders geeignet, derartige Fluchtgeschichten möglichst unverstellt zu erleben.

Erinnern Verstehen 2Daher wenden wir unseren Blick zunächst von heftigen Bildern und damit verbundenen Schicksalen ab. Stattdessen spüren wir ins Innere und Ungewisse des fremdbestimmten Nomadentums unserer Gesellschaft und suchen nach den Ursachen für das unfreiwillige Unstetsein inmitten von Heimat und Überfluss. Lassen wir dazu Autoren vom respektablen Literaturprojekt Denk ich an Heimat der Straßenzeitung Apropos zu Wort kommen, oder Hans Rauscher (nein, nicht der Journalist) vom bestechenden Musiksampler Über den Wolken, unter der Brücke der Wiener Augustin-Redaktion. Erzählen wir selbst die Geschichte(n) von entwurzelten Angehörigen, von äußerem Druck und innerer Unruhe, von der heimlichen Brutalität des „normalen“ Alltags, von Anpassung, Auflehnung und angemaßter Autorität. Vom Hunger nach Gerechtigkeit, vom Verzweifeln an den Verhältnissen, vom Bedrohtwerden der eigenen Existenz, vom Auswandern in die innere Emigration. Von dir und von mir und von uns. Und von der Hoffnung, die bis zuletzt nicht sterben will! Denn das macht uns zu Menschengeschwistern, dass wir miteinander teilen, was wir erleben, einander mitteilen…

„…bald sah er aus wie viele, die zur Wanderschaft gezwungen sind, weil sie kein Heim haben oder keines wollen. Weil sie keine Ruhe finden, oder weil sie sich ein Ziel gesetzt haben, das mehr ist und ferner als irgendein Ort auf dieser Erde, auf der sie nur unstete Wanderer sind – wie wir alle.“  (Joseph Roth – Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde)

> Zu diesem Thema gibts auch einen Artikel vom Chriss 😉

> sowie zum Nachhören die einstündige Zusammenschau

 

Auf der Flucht (Chriss)

Die Perlentaucher Nachtfahrt vom 12. September (hier hören) läuft um ihr Leben, flieht ins Unbekannte, zieht hinaus in die weite, ferne und beängstigende Welt. Wir sind auf der Flucht, sind heimatlos, entwurzelt, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft, kein Zuhause, kein Ort, an dem wir bleiben können, niemand, der uns aufnimmt und niemand, der uns wirklich versteht… Memory Under Construction. Giving the voiceless a voice. Forgotten Memory. Diese Nachtfahrt ist ein Beitrag zum länderverbindenden GRUNDTVIG-Projekt „Memory Under Construction“ und setzt sich nicht nur mit dem Thema „Flucht“ auseinander, sondern auch mit vergessener Geschichte – den Geschichten Einzelner, jenen Geschichten, welche gekonnt unter den Teppich gekehrt werden. Natürlich in unserer ganz eigenen Art. Unterschwellig, atmosphärisch, zwischen den Zeilen…

den vergessenenNeben der allseitsverstandenen Vorstellung von Flucht, den Gründen und den Folgen, reizen uns vorallem auch jene Aspekte, die einem
möglicherweise erst auf den zweiten Blick auffallen. Die Flucht aus der
Heimatstadt, aus dem Alltag, aus Systemen, Hierarchien, die innere
Emigration, Völkerwanderung, Seelenwanderung, innere Wanderung von Ich zu Ich, in andere Welten flüchten, durch lesen, schreiben, malen, musizieren, träumen, sich wegträumen… Wo ankommen? Überhaupt ankommen? Reisend bleiben? Nomadenleben, der Sonne entegegen, weg, fort, beyond, woanders ist besser als hier, vielleicht stimmt das, weiter gehen, weiter, immer weiter, on the road, losgelöst, frei, irgendwie schön, nichts zu haben ausser sich selbst und einen Rucksack voll Erinnerung, unterwegs, nach…

Tod.LebenWir sind alle Flüchtlinge. Tragen alle den Fluchtgedanken in uns. Jeder möchte mal ausbrechen, weggehen, in die andere Richtung, fliehen vor sich selbst und der Welt. Doch manche werden dazu gezwungen. Durch Krieg, Armut, Verfolgung, weil sie die falsche Hautfarbe, das falsche Geschlecht, die falsche sexuelle Orientierung, die falsche Religion haben, oder weil sie nicht mitmachen wollen bei den Spielchen der jeweils Mächtigen. Und dann verwandelt sich dieses schöne Bild des stets Weiterwandernden in einen Horrortrip, der realer nicht sein könnte. Bei dem es um Leben und Tod geht, der einem alles nimmt und alles verschlingt, nur noch grausam, hässlich, ohne Hoffnung, ohne Zukunft…

„Wir sind umstellt von den Bauten des nicht stattfindenden Lebens.
Sie sind riesenhaft. Es sind Riesen und sie stellen den Horizont voll
und die Riesen stampfen herbei und sie kommen näher
und ich, ich werde kleiner und mein anderes Leben wird kleiner.
Mein anderes Leben ist ein kommender Riese
und irgendwann wird sich irgendwas irgendwie ändern.
Das ist eingeschrieben in die DNA.
Es kündigt sich an, es staut sich auf – es entlädt sich.
Und meine Geste ist der Trotz und die Wut.
Und das sind nicht die Gesten des Riesen,
der Riese hat keine Geste – die braucht er nicht.
Seine Haltung ist das Kommen und seine Sache die Ankunft.
Und da ist er! Hallo Riese! Hallo mein anderes Leben!
Hallo mein stattfindendes, nicht stattfindendes Leben!
Gegrüsset seist du Maria! Ich werfe mich dir durch die Wand!“

aus „Fluchtstück“ von PeterLicht

> Zu diesem Thema gibts auch einen Artikel vom Norbert 😉

> sowie zum Nachhören die einstündige Zusammenschau

 

Live vom 4553² Literaturfestival

> Sendung hören: Artarium vom Freitag, 29. AugustLIVE auf Radio B-138 (Wiederholung am Sonntag, 31. August von 17:00 bis 19:00 Uhr in der Radiofabrik) Sondersendung mit Livegespräch und Darbietungen zum 2. Oberösterreichischen Literaturfestival 4553² in Schlierbach. Auf Einladung unserer lieben Radiomacher-Kolleg_innen aus Kirchdorf an der Krems gestalten wir als Programmerweiterung am zweiten Festivalabend eine Themensendung rund um Brita Steinwendtners aktuellen Roman „An diesem einen Punkt der Welt“ und seine Hauptperson Bernhard „Bez“ Samitz, dessen Lebensjahre im Käfergraben die Autorin darin detailliert nachzeichnet. Also erwarten wir die Brita im ersten Teil der Sendung, im Anschluss an ihre um 20 Uhr stattfindende Lesung, zum persönlichen Gespräch über das Buch und seine Geschichte.

Den Roman selbst haben wir ja bereits im Artarium letzte Woche ausführlich vorgestellt. Nutzen wir die Gelegenheit des Gastauftritts doch zu einer eingehenderen Erforschung der Entstehung dieses Buchs und seiner Sprache! Und widmen wir uns im Gespräch auch der offenbaren Faszination des „Lamandergrabenlebens“, wie es der „Tom“ der Erzählung führte – und wie es einige von uns noch beim „Bez“ im Käfergraben kennen gelernt haben: „Freitags-Beisel, sagten sie dazu. Alle waren da, die immer da waren, und ein paar neue dazu. Das Haus zog Menschen an, junge und ältere, von überall her im Bezirk. Fahrräder lagen im Gras, Mopeds standen an den Bäumen, Ribisel reiften. Drinnen lachen, reden, debattieren. Galopp in Adern und Kopf. Teil sein, sich fallen lassen. Rauchen, tändeln, lieben. Silberarmband, Ohrmuschel und einer, der fragt. Händedunkel und Lichterfäden, Gitarre, Drums und Allesvergessen. Hunger nach Anerkennung und Widerstand.“ Dergestalt schildert es Brita im ersten Kapitel – mehr davon gibts hier als Leseprobe.

Um einen atmosphärischen Übergang vom Literaturprogramm in die spontane Freiheit der Nächte zu bewerkstelligen – ganz im Sinne des oben so trefflich beschriebenen Lebensgefühls und in freundschaftlichem Andenken an den echten Bez – werden wir im zweiten Teil unserer Sendung den Raum öffnen für Dichtung und Wahrheit abseits von Verlag und Verwertung. Für Unbekanntes aus dem kreativen Vakuum des Werdens und noch Unöffentliches aus dem saftigen Ideal des Fruchtgeschmacks. Von und für Gäst_innen und Weggefährtensuchende. Musik, Collagen und Gedichte, Songtexte und Statements, whatever. Was wäre die Essenz eines prophetischen Lebens denn anderes als: Spür mir zu – und mach was draus? Dazu ein plötzlicher Gedanke, der mich beim Aufbereiten dieses Themas ansprang: Wer vermag zu bemessen, wessen Lebenswortwerk wertvoll für die Welt – und wie weit es wesentlich für die Nachbarschaft ist, war, wird? Doch wohl die Berührten und über die Brücken der Bücher nach Neuland-Nirgendwo, in die Bio-Utopie des Selbstdenkmöglichen Verführten, die hilflos am Brustmund der Sprachschöpfung hängenden Einwohner von Phant-Asien, dem Land, in dem Milch und Honig fließen. Diese hin- und mitgerissenen Nachfahren ihrer gemeinsamen Erstbeschweigung. Es lebe der Erzengel Novotny!

Einen einstündigen Ausschnitt dieser Sendung (das ganze Gespräch mit der Autorin) gibt es jetzt ebenfalls unter dem Titel Brita Steinwendtner Backstage nachzuhören 😉

 

An diesem einen Punkt der Welt

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. August – Wir haben das neue Buch von Brita Steinwendtner gelesen – und wollen es euch in dieser Sendung wärmstens empfehlen. Warum? Weil wir, wie sich denken lässt, irgendwo zwischen überzeugt und begeistert sind davon. Und weil wir als freie Radiomacher sowieso nur das besprechen, was uns persönlich und unmittelbar berührt. Wovon wir also ein Bedürfnis haben, zu berichten – aus unserer Welt. Und so entwickelte sich auch unsere Beziehung zu dieser zutiefst lebenswerten Geschichte erst langsam, über einzelne Gespräche und Begegnungen, bis endlich aus immer mehr Zufälligkeiten ein überraschender Zusammenhang entstand: Denn die Hauptperson von „An diesem einen Punkt der Welt“ ist niemand anderer als der allzu früh verstorbene „Bez“ Bernhard Samitz, zu dessen Andenken wir bereits ein Radioportrait mit dem Titel Alternative kulturelle Schutzgebiete gestaltet haben…

Beim TortenmacherDas ist Biographie: die tausend tanzenden Sonnenpunkte in uns – denn, ja, weißt du, wie ich mich gerne beschrieben sähe? Als Erzählung – als Roman -, als Text, der mit mir macht, was er will, denn – ja, Parmenides, ich möchte leben wie ein ausufernder Text, möchte Literatur werden – 

Was Tom zu Hause schrieb und dachte, wenn die Dissonanzen in den Saiten hingen und man im Grau des Nebels keinen grauen Engel finden konnte, ist nicht zu wissen. Der Lamanderbach schickte gleichmütig sein Wasser in den Wildgänseweiher und weiter in den Fluss und immer weiter,

     und Tom mischte ein Dorfleben auf wie nebenbei, es ging ins Leere und es gelang, je nachdem, aber er gab ein Beispiel, das über den Tag hinaus wirkte. Erhob den Einspruch des Poetischen gegen die traurigen Verhältnisse des Realen, lebte die Skepsis gegen simple Kausalitätsordnungen, und war, so Matthias, „dem Streit nicht zugetan, der Umarmung mehr und dem Liebkosen, wenn es um Gedanken ging“.

An diesem einen Punkt der WeltEs entspricht wohl auch mehr unserer Wesensart, nicht gar so viel über ein Buch zu reden, wenn wir es euch vorstellen, sondern es statt dessen lieber für sich selbst sprechen zu lassen (Textauszug oben Seiten 170 und 208, unten Seite 163). So wollen wir uns zwar über unsere Erlebnisse beim Lesen unterhalten, ansonsten aber Passagen daraus vortragen und in Gestalt einer Reise durch den Roman Musikstücke dazu assoziieren. Zu Entstehung und Hintergrund dieses ebenso lesens- wie liebenswert verdichteten und vielgestaltigen Entwicklungs-Roadmovies aus der Innenwelt eines integrierten Außenseiters und radikal friedvollen Poesiepropheten melden wir uns am Freitag, 29. August Live vom 4553² Literaturfestival in Schlierbach/Oberösterreich, wobei wir auch Brita Steinwendtner im Anschluss an ihre Lesung zu einem Gespräch erwarten. Die zweistündige Sondersendung beginnt auf Radio B-138 um 22 Uhr und wird am Sonntag, 31. August auf der Radiofabrik ab 17 Uhr wiederholt. Hier noch das Veranstaltungsprogramm der Literarischen Nahversorger. Bis dahin muss es genügen, wenn wir mit Denis Scheck sagen: „Vertraut uns, denn wir wissen, was wir tun!“ Und lest dieses Buch selbst – denn wer Ohren hat zu fühlen…

Wohin wollte er? Raus aus dem Dorf, dem Haus, dem Graben? Waren sie sein Gefängnis oder seine Geborgenheit? Äußerer Ring von Bäumen um seine Augen, innerer von Verstärkern, Gitarren und Büchern um seinen Atem, Bücher als Metastasen, so Matthias, sie wohnten überall, auf Tischen, Stühlen, am Boden, im Bett, im Auto, ein Haus als Depot für Schrift mehr denn eine Wohnstatt. Lese-Marathons bis spät in die Nächte hinein, Hunger nach dem unmessbaren Zauber von Sprache, weltvergessenes Lesen ohne Ziel und Verwertbarkeitsstatistik, ein dadaistisches Spiel, um die Welt auf den Kopf zu stellen. Vielleicht auch, um sich zu wappnen gegen alles Diktatorisch-Tyrannische, weg von allen Autoritäten und alten Bindungen. Von der Mutter, Dem Vater. Den Professoren. Dem Müssen. Dem Erreichen-, Glauben- und Erfüllen-Müssen.

 

Felixwillkommen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. August – Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was verzählen. Und unser Studiogast Felix Steinhauser ist ja erst unlängst von seiner Erlebnisfahrt in diverse europäische Städte zurück gekommen. Da wollen wir doch einmal nachspüren, wie sich solches Reisen auf die kreative Gestaltung der Wortkunst auswirken kann, wie sich die Eindrücke zu Ausdrücken verdichten im Nachhall vergehender Zeit. Poesie ist nämlich zuallererst schöpferische Selbstwerdung beim Wahrnehmen der Welt, und erst danach – vielleicht, womöglich – ein Beruf aus Berufung. Dichterwerdung ist kein berechenbares Geschäft mit dem Geldwert des Marktworts – das ist billiges Geklingel, bloßes Kunstmundwerk für kommerzamtliche Literaturverbraucher. Davon zum Glück noch weitgehend unbepatzt, empfehlen wir also eine etwas andere Betrachtungsweise:

FahrtwindWir sind nackt und hilflos
unter einem brennenden Himmel
voller Sternschnuppen
das erste Mal die Einsamkeit verloren
ich hatte sie doch so lange gesucht
du hast sie mir gestohlen
Trickbetrüger
jetzt können wir gehen
meine Reise endet hier
aber unsere hätte erst begonnen

DraussenObiger Text mit dem Titel G entstand nach Felix‘ Rückkehr ins heimatliche Salzburg. Er ist auch auf seinem Blog thereisnocureforhumans zu finden, woselbst viele Wortbildkreationen zur Ausdrucksform seiner Innenwelt werden. Frühere Texte waren bereits in der Sendung Denk mal fairkehrt zu hören. Doch diesmal werden wir ihren Autor noch näher kennenlernen

Fleischlustfleischlust

das blut sei sein blut
das fleisch sei sein leib

ich gebe dir gerne war mir gehört
ich lasse mich gerne ausbeuten
ich lasse mich gerne aussperren
ich lasse mich gerne unterordnen

denn alles was er ist ist gut

diese welt ist unerhört
kein mensch darüber empört

kindergekreisch blutbeschmiert
ikea handtuch
wasser gespritzt
bauch verkümmert

 

Ganz oben – Gar nichts

> Download: Artarium vom Sonntag, 20. Juli – Die Vorstellung von Hierarchie, Obrigkeit und Gehorsam geht (wenn auch unbewusst) stets davon aus, dass „da ganz oben“ irgend etwas sei. Was aber, wenn nicht? Dann rempeln sich die Hinaufstreber eigentlich ganz ohne Grund gegenseitig von der Karriereleiter. Wollen nur deshalb immer höher und höher, um noch mehr Untergebenen die Eigenschaften von etwas Erfundenem zu erklären – und zwar verbindlich, versteht sich! Ganz oben ist aber gar nichts. Oberhalb der obersten Obrigkeit ist bestenfalls dünne Luft – doch die lässt sich vortrefflich zu Gesetzen zerkauen, solang weiter unten noch Menschen daran glauben. Etwa, dass ihnen von oben herab angeschafft wird, wer oder wie sie zu sein hätten. Willkommen in der wundersamen Welt der -ismen – oder gehts noch -tümer?

Spieglein, SpiegleinEs ist schon so eine Sache mit den immer wiederkehrenden Gedanken, die sich zu roten Fäden und ganzen Themensträngen zusammenzwirbeln lassen – wenn man sie funktional zu einem Antwortende bringen möchte, nur um sie endlich als „erledigt“ zu begreifen, dann entfliehen sie einem sehr schnell – und man ist selbst bald genauso fertig, wie man es mit dem Denken gern gewesen wäre…

Doch diese immer wieder auftauchenden Motive im eigenen wie im gemeinsamen Denken als Fragmente und Teilaspekte eines größeren Gesamtbildes zu verstehen und sie auch immer wieder aufs Neue im eigenen Lebenszusammenhang zu interpretieren, das könnte mit der Zeit zu einer wirklichen Antwort werden, die man nicht bloß so dahermeint, sondern auf die zahllosen Fragen seiner menschlichen Existenz – darlebt. Und so greifen wir wieder einmal eines jener Themen auf, die uns nach wie vor nicht in Frieden lassen, und zwar die leidvolle Erfahrung mit der Machtausübung um der Macht willen (denn ganz oben gibt es ja nichts). Oder anders ausgedrückt – wenn einmal die Herrschaft von Menschen über Menschen beendet ist, dann können wir uns gern auch Gedanken über die Existenz Gottes machen. So rum wird eher ein Schuh draus.

 

Denkmal der Deserteure

-> Download: Nachtfahrt-Mahnmal vom fairkehrten Fest (Live 29:20 min) – Wir widmen ein Kriegerdenkmal kurzfristig um – in einen Ort der Erinnerung an Deserteure und Kriegsverweigerer – am Beispiel der mutigen Männer vom Böndlsee in Goldegg-Weng. Dort hatten sich 1944 einige Wehrmachts-Fahnenflüchtige aus der Region versteckt, um ohne weiteres Blutvergießen das schon absehbare Ende des 2. Weltkriegs zu erwarten. Doch dem Naziregime waren 6 aufrechte Neinsager eine solche Bedrohung, dass über 1000 Mann Waffen-SS und 60 Gestapo-Beamte ausschwärmen mussten, diese „Landplage“ ein für allemal zu beenden. Dies gelang ihnen auch mittels massiver Gewaltanwendung gegen die ansässige Bevölkerung – so wurden etwa Verwandte der Gesuchten gefoltert und in KZs verschleppt oder Unbeteiligte einfach erschossen.

ICH MAHN MAL DU DENK MALUnd während Österreich mit den Namen zahlloser gefallener Soldaten in Form von Denkmälern für „Unsere Helden“ übersät ist – so fehlen bis heute die Namen der Menschen, die gegen Unrecht, Krieg und Terror aufstanden, indem sie sich der „Pflicht zum Gehorsam“ entzogen. Und dies auch oft mit dem eigenen Leben bezahlten! Deren Einstellung sollte uns allen zum Vorbild gereichen, möchte man meinen, speziell der heutigen Jugend, die wir zu mündigen Bürger_innen zu erziehen behaupten. Doch weit gefehlt! Nicht nur, dass sich die Republik Österreich erst im Jahr 2009 (-> 64 Jahre nach Kriegsende) dazu durchringen kann, die Desertions-Urteile der NS-Militärgerichte aufzuheben. Was im Klartext heißt, dass jeder Kriegsheimkehrer, der wegen Desertion verurteilt worden war, bis 2009 als vorbestraft galt. Nein, jetzt kommt auch unser aller langjähriger Landesgrüner als Obmann des Goldegger Kulturvereins daher und meint, dass die Zeit immer noch nicht reif sei für ein Denkmal der Deserteure, solange es nicht „von der (mehrheitlichen) Bevölkerung mitgetragen wird“. (Beitrag SN-Debatte)

Unseren Helden?Wir fassen es nicht! Und geben daher den Namen der 6 Männer hier erst recht einen Gedenkort:

Karl Rupitsch

Peter Ottino

Gustl Egger

Georg Kössner

                                                                                     Richard Pfeiffenberger

sowie Franz Unterkirchner, der als Einziger und mit sehr viel Glück den „Sturm vom Böndlsee“ am 2. Juli 1944 überlebte, sich noch bis Kriegsende erfolgreich versteckte und erst 1972 eines natürlichen Todes starb. Er hätte uns aus erster Hand erzählen können, was ihn und seine Kameraden bewegte, worüber sie in ihren Verstecken so sprachen, und was jeder von ihnen als ganz persönlichen Grund für seine Flucht vor dem System genannt hätte. Von Karl Rupitsch ist immerhin dieser Satz überliefert: „Warum soll ich jemanden erschießen, der mir nichts getan hat?“ Das macht durchaus Sinn, ebenso wie die Forderung nach einem Ort des Andenkens mit den Namen der Widerständler. Auch wenn das nicht mehrheitsfähig ist – es wäre jedenfalls gerecht!

-> Gespräch mit Brigitte Höfert, Tochter von Karl Rupitsch, auf talktogether.org 😉

 

Denk mal fairkehrt

-> Download: Artarium vom Sonntag, 22.Juni – LIVE vom fairkehrten Fest in der alten Nonntaler Hauptstraße, daher diesmal auch mit Live-Lesung und Live-Musik aus dem Fundus des etwas anderen Kunnst-Biotops! Außerdem wollen wir die Gelegenheit nutzen, um euch unsere monatliche Perlentaucher-Nachtfahrt ans Herz zu legen. Denn in dieser „musikliterarischen Gefühlsweltreise“ wechseln sich ebenfalls live gelesene Textbeiträge mit vorbereiteten Soundcollagen und Titeln aus dazu passenden Playlisten ab. Und zwar jeweils in spontaner Dramaturgie – rund um das ausgewählte Thema assoziiert. Was läge also näher, als für den Programmschluss des Radiofabrik-Außenstudios den Standort des Geschehens als inhaltliche Inspiration auf uns wirken zu lassen: Ein Kriegerdenkmal, mit den Namen aller im ersten und zweiten Weltkrieg elend zu Tode gekommenen Nonntaler – und mit der Aufschrift „Unseren Helden“…

Christopher SchmallImmer, wenn sich der Hund im Artarium wieder mal in einen Wirbel redet, freut es eine(n) so richtig, diese andere angenehme Stimme zu hören: Christopher Schmall, unentbehrlicher Freund und Coproducer 🙂 sonst seines Zeichens auch Dichter, Musikschaffender und Seelenforscher. Er ist einigen noch als Sänger der Band In Confusion in Erinnerung und war seither schon des öfteren mit seinen Solonummern und SpokenWord-Experimenten im Radio zu hören. Nun wird er zum ersten Mal seit geraumer Zeit wieder live and unplugged vor versammeltem Publikum zu erleben sein – und uns mit zwei zu diesem speziellen Setting passenden Eigenkompositionen – befremden, erfreuen – oder trösten? Wir wissen es nicht – wir können uns nur darauf einlassen! Derlei ist jedenfalls selten genug heutzutage…

Felix Vali SteinhauserEbenso rar und kostbar sind auch jene Momente, in welchen sich Potenzial plötzlich entfaltet – und wir staunenden Auges die im Erschaffen begriffene Welt betreten. So erging es uns erst unlängst, als wir beim gemeinsamen Vorlesen eigener Texte Felix Vali Steinhauser kennenlernten. Und zwar bei Writers On The Storm, einer überaus empfehlenswerten Veranstaltungsreihe des Salzburger Kunstkollektivs Bureau du Grand Mot für alle „Bühnenneulinge, heimliche SchreiberInnen und sich nicht ins RampenlichttrauerInnen“. Offenbar funktioniert diese Anstiftung zur Öffentlichkeit auch irgendwie auf wundersame Weise – denn schon zwei Monate nach unserem ersten Zusammen-Auftreten begrüßen wir ihn als poetischen Mitgestalter zur Lesung seiner Stimmungsbilder im Open-Air-Studio:

„Unbekannt erscheint mir meine Umwelt…“

-> Zur Aufzeichnung unserer Aktion für ein Deserteursdenkmal

 

Kraut und Ruabn

-> Download: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 13. Juni – Potpourri, Sammelsurium, Bastelnacht der Möglichkeiten – eine Dramaturgie, die sich aus der Aneinanderreihung all dessen ergibt, was sonst in keinerlei Schachtel passt – oder eben in alle. Diesseits der Ordnung – und jenseits des Systems – überlassen wir das Ersprießen von sinnvoller Botschaft diesmal der Auswahl unserer Beiträge – und den geneigten Sinnen unseres Publikums. Kunst (und umso mehr Kunnst) entsteht eben in euren Köpf_innen 😀 sonst ist es nirgendswo. In diesem Unzusammenhang vertrauen wir auf unser emotionales Zusammengehör – und schmeißen einfach alles „Kraut und Ruabn“ durcheinander in den großen Eintopf der Weltwerdung. Dieser Chaosmos aus Licht und Schatten kann schöner schillern als der übliche Mainstream aus Obrigkeit und Unterleib. Diese Collage aus Sinn und Zufall kann uns mehr erzählen – als wir…

UmleitungUmleitung ins Unbewusste oder „Let the art do the talking“ – Die Kunst des Liebens beruht auch im gelegentlichen Loslassen dessen, was wir zu wissen und zu können glauben. Und das Beharren auf dem Bekannten und Gekonnten bewirkt ja nicht noch mehr Vertrauen, sondern statt dessen einzwangs Beton Zementierung von immer und wieder Holungszweck 😉 Ausgestiegen? Gut so, denn derlei wollen wir in unserer textmusikalischen Nachtrundreise auch erleben – und zugleich als Denk- und Spürübung weiter geben: Ein plötzliches Abdriften vom Erwartbaren ins Unverhoffte – und dadurch ein gründliches Durchlüften jener Gehirnwinkel, die sich unserem absichtsvollen Zugang ansonsten entziehen. Denn auch das Gehirn gehört gelegentlich geschüttelt, bis etwas dabei heraus kommt – nur keineswegs das, was man (wer auch immer das sei) erwartet!

SeelenfremdSo haben wir für diese unsere Seelenheimat im inzwischenen Unterwegs einige Gegensätze und (scheinbare) Widersprüche zusammen getragen, auf dass aus ihren Kontrasten jene Harmonie erwachse, die sonst nur dem Spiel des ganz selbstvergessen träumenden Kindes eigen ist – und unserem, so wir zu verstehen vergessen 😛 Es treffen ebenso typische wie artfremde Musikstücke aufeinander – unter anderem von M83/Placebo, Stiller Has, R.E.M., Sandi Thom, Finch, Rammstein, Nancy Sinatra, Hubert von Goisern, Djélimady Tounkara, Austra, Pansy Division, Jan Lauwers & Needcompany, Fever Ray und Swingin‘ Utters. Ebenso verschiedenartig sind die Textbeiträge, die wir vorbereitet haben – zu hören sind da etwa Oskar Werner (Heinrich Heine), Ernst Jandl, K3, Leonard Cohen (Early Poem), Thomas Bernhard (Lesung) und Hanns Dieter Hüsch…

Gegen SätzePräventive Psychohygiene und Selbstverteidigung inspirierten uns dazu, die auf uns andauernd heftig einprasselnden Gegenteile und Unvereinbarkeiten dergestalt abzubilden, vielleicht gar verwegener Hoffnung, sie zumindest rund um unsere Inseln aufzulösen, auszugleichen oder halt einigermaßen zufrieden zu jandln 🙂

doppelchor

es mann spielst unser frauen mit nur schilfharfe
gehst ans fingerspitzen und vorbei es.
es frau spielst unser männer mit nur klarinettich
knopfst an und bläst ein immer lied aus es.
es mann spielst unser frauen mit nur momentharmonika
sperrst um und pfeifst schlüsselrüssel.
es frau spielst unser männer mit nur es violinerin
stellst an diriganten hin und wickelst den orchaster aus.

 

Von den Besten lernen

-> Download: Artarium vom Sonntag, 8. Juni – Das Herzstück dieser Sendung bildet eine alte ORF-Aufnahme von Oskar Werner aus dem Jahr 1952, nämlich seine Lesung von Rilkes „Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“, zu finden auf der schon seit geraumer Zeit unter verschiedenen Labels kursierenden Poetry-CD „Oskar werner spricht Rainer Maria Rilke“. Sind wir jetzt also vollends literarisch geworden – oder warum tun wir das? Nun, wir sind eben selbst „lyrische Menschen“ (so tragen wir etwa am 18. 6. bei der KulturKeule im Das Kino sowie am 22. 6. beim Fairkehrten Fest im Nonntal aus eigenen Texten vor) und gern auch für jedwederlei generationenübergreifende Begegnung mit Ausdruckskunst zu haben. Allerdings muss derlei auf Augenhöhe geschehen, nicht als ehrfürchtige Belehrung! Denn im Anfang war das Gedicht – und erst viel später wurde daraus ein Geschäft.

DOskar Werner spricht Rainer Maria Rilkeoch wir wären nicht wir, wenn wir es bei der bloßen Vorstellung eines durchaus denkwürdigen Werks, noch dazu in einer schlichtweg einzigartigen Interpretation, bewenden ließen 😉 Dieses Gustostückerl an zeitloser SpokenWord-Intensität ist nicht nur an und für sich inspirierend und stilbildend, es bietet auch noch ein paar spezielle Anregungen für die Weiterentwicklung unserer sozialkritischen Gedanken:

„Es ist eigenartig, dass sich ein Mensch, dessen Existenz von Terror bedroht ist, mit der ihn bedrohenden Instanz identifiziert, mit ihr verschmilzt, seine Identität einer vermeintlichen Rettung wegen aufgibt. Der Dichter Rainer Maria Rilke erfasste diese Tatsache intuitiv in seiner „Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke“.

Auf einem Feldzug gegen die Heiden wird dieser Cornet Rilke von Feinden umzingelt. Als Selbstschutz erlebt der Held des Gedichts die auf ihn einschlagenden blitzenden Säbel als einen lachenden, auf ihn niederrieselnden Wasserbrunnen. Um den Terror nicht zu registrieren, mit dem wir konfrontiert sind, und um die eigene seelische Einheit zu bewahren, werden wir blind. Anstatt den Realitäten ins Auge zu schauen, halluzinieren wir eine Einheit mit dem uns bedrohenden Anderen und verlieren so die eigene Identität und manchmal sogar das Leben.

Dieser Prozess verursacht und steuert Gewalt, psychische oder körperliche. Die Wurzeln dieses uralten Mechanismus liegen in frühester Kindheit, wenn die versorgenden Eltern versuchen, dem Kind ihren Willen aufzuzwingen. Diese Erfahrung von Gewalt bedroht jedes Kind mit dem Erlöschen seines eigenen, gerade erst im Entstehen begriffenen Selbst. Gerade solche Kinder, deren eigener Wille besonders gewalttätig unterdrückt wurde, entwickeln einen verhängnisvollen Gehorsam und eine pathologische Treue gegenüber der Gewalt. So kommt ein Kreislauf in Gang, in dem Gewalt zur Grundlage des Seins wird.“

Zitate aus: Arno Gruen – Der Kampf um die Demokratie