Wie wir begehren

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. Oktober – Die als “Kriegsreporterin” bekannte Carolin Emcke erhält den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, genauer gesagt an diesem Sonntag, zum Abschluss der Frankfurter Buchmesse und in der dortigen Paulskirche. Da sind wir aber top-aktuell mit unserer Themenwahl – immerhin stellen wir heute ihr 2012 bei Fischer erschienenes Buch “Wie wir begehren” vor, einen feinsinnigen Essay über die subjektive wie die soziale Wahrnehmung von gleichgeschlechtlicher Liebe. “Davon erzählt sie uns durch zahlreiche Zeitsprünge in Gestalt einer kaleidoskopische Collage aus Erlebtem und Erlesenem und verknüpft dabei kunstvoll persönliche Anekdoten mit parallelen gesellschaftlichen Ereignissen.” Dergestalt wurde es bereits für “Mein Bücherschatz” auf Radio B138 beschrieben.

carolin-emckeWofür die Publizistin und Autorin (unlängst ist “Gegen den Hass” erschienen) jetzt genau mit diesem renommierten Preis ausgezeichnet wird, davon quellen die Artikel und Kulturmagazine ja derzeit ohnehin über – wir wollen uns hingegen auf jene Besonderheiten ihrer Person konzentrieren, welche das diesfalls darzustellende Buch so lesens- und erlebenswert machen. “Sie verschmilzt darin sprachliche Präzision mit emotionaler Erschüttertheit zu einem literarischen Ganzen, das ans große Feuilleton der Zwischen- und Nachkriegszeitkriegszeit erinnert (und das im akuten Kommerzhäppchening und Meinungsvielflat so dermaßen “aus der Mode” wirkt, dass es schon wieder Avantgarde sein muss).” Carolin Emcke ragt aus diesem journalistischen Entertainmentsumpf heraus wie ein seltener Glücksfall, der leider längst nicht mehr die Regel, sondern die Ausnahme darstellt. Ein mutiger Mensch mit einer eigenen Meinung, bei dem sich Empathie und Realismus zu einer ganzheitlichen Weltsicht verbinden. Chapeau! Und vor allem – sie scheißt uns nicht zu mit Schachterln und Schubladen, in die wir uns der Reihe nach einsortieren sollten. Nein, sie regt zum eigenständigem Leben an!

Abschließend ein kurzer Textauszug: “Er fremdelte in der Schule, weil ihm nichts von der Materie, die der Unterricht vorsah, über ein Leben erzählte, wie er es sich erträumte. Ihn irritierten die Mitschüler, die schon ihre eigenen Großeltern zu sein schienen. noch bevor sie überhaupt geschlechtsreif waren. Tom hatte etwas Klaustrophobisches, weil er unter jeder Form geistiger oder sexueller Enge litt.”

 

 

Es war einmal die Musicbox

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. OktoberNachruf auf eine ORF-Sendung, der viele vieles verdanken. Vor genau 49 Jahren entstand die Musicbox mitsamt ihrem dazugehörigen Sender. Vor gut 22 Jahren verschwand sie aus dem Programm von Ö3. Was bleibt, ist Erinnerung. Und Bedeutung für Unzählige, die Popkultur nicht nur konsumieren, sondern erforschen, definieren und so selbst mitgestalten wollten. “Wenn um 15 Uhr, präziser: fünf Minuten nach 15 Uhr, die Signation der Musicbox ertönte, schaltete halb Österreich auf die Regionalwellen um. Die andere Hälfte aber lauschte entweder gebannt oder irritiert dem Wort- und Musikschwall, der da folgte.“ Soweit Ex-Musicbox-Redakteur Walter Gröbchen, zitiert in diesem hilfreichen Artikel des Kulturpool zur Veröffentlichung einiger Cassetten-Mitschnitte aus den 80ern.

musicboxMmmm, “Wort- und Musikschwall”, das gefällt uns eh schon mal gut! Auch wenn man mit derlei nicht mehr die Radionation in zwei Hälften spalten kann (dieses Zeitfenster ist längst wieder zu), so knüpfen wir doch gern immer wieder daran an, diese Art einer “Wall of Sound” entspricht der Gestaltung unseres zweisamen Kopftheaters

Nicht nur eine ganze Kultur des Musikjournalismus hat das längst legendäre Magazin hierzulande befruchtet, auch Kunstschaffende jedweder Richtung und Staatsnähe (oder -ferne) zur fortwährenden Verbearbeitung der Wirklichkeit zwischen allen Genres und Generationen angestiftet. Literaturen entdeckt, Musikstile hinterfragt, politische Entwicklungen verfolgt, Geschmäcker und Gewohnheiten kritisiert, Neues begeistert vorgestellt und Zeitloses wieder hervor gekramt. Was hat diese Sendung in den 27 Jahren ihres Gehörtwerdens eigentlich nicht angefasst, ausgespuckt, oder einfach gegen den Strich gebürstet? Weshalb sollten wir da versuchen, dem recht reichlichen Œvre der Herren Gröbchen (Blog), Blumenau (Blog) oder Ostermayer (Portrait) hier noch Fußnoten hinterher zu schreiben? Sie alle waren ja die Musicbox.

Wollen wir also bei unserem Leisten bleiben und euch eine schöne Andenkensendung schustern. Mit eigenen Anekdoten vom damals durchaus prägenden Hinhören und mit Beispielen dafür, wie dortselbst einst Vorgebrachtes die Zeitgrenzen zur Gegenwart überspringt und – verbearbeitet – weiter wirkt. Unter Beihilfe von Michael Köhlmeier & Reinhold Bilgeri, Bob Dylan, Patti Smith sowie naturgemäß Laibach. Allesamt einst vehement vertreten in und von jenem Höreignis, man frage bloß mal die Archivpiraten!

 

Let Yourself Be Huge

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. SeptemberGewaltig endet der Sommer, gewaltig geistern die Arme des Herbstes, komm zu mir liebes Kätzchen, ich nehm‘ dir die Furcht, die alte, die gräßliche; fühle mich manchmal als Teschek, indes singen Blätter und Zweige von Tausch und Täuschung, wer pflückt dereinst die Gaben? Wir glätten die Wellen, nein, lass es uns lassen, was mir halt so ein- und zufällt, zufällig auf Zufälle vertrauend, und ihre verwegene Braue, das Herz der Harpyie frisch gebraten, ein Baby im Schlaf, es schmelzen Gesichter unscheinbar, grau melierte Kinder in Armani-Anzügen die hektisch ihre Smartphones betouchen; darf ich mich aufsprengen?

cloudkickerWelch viskoser Fall, mir scheint alles träge und dämmrig, es zirkuliert = heil(ig)e Welt! Schwalbentanz, ein Blick in die Wolken, weit fort zu gehen, oh Lady of Shalott, dein Leib, dein Lied, stets Schatten im Spiegel / Gemütsaquarelle, schleichende Färbung, der gesichelte Mond gleitet aus Baumkronentrichtern, scheue Laternen, das Finster ruft mit wächsernen Stimmen, so seidene Stimmchen : gekrauste Sturm= orchidee. Theodizee zwischen Tür und Engel, oder der Blutakt weicher Uhren, indes nachmittägliche Ausflüchte, umgeben von einem Rauschen unbekannter Art, mehr Holundersaft aus der Bierflasche … Collagenleben und Splitterkunst, unzähmbarer Sanftmut; ich werde gewaltig.

Wie aus alldem unschwer zu erkennen ist, präsentieren wir diesmal das ganze Album “Let Yourself Be Huge” von Cloudkicker, einem One-Man-Projekt von Ben Sharp, der seine mittlerweile 8 Alben und 4 EPs nach wie vor im Eigenvertrieb anbietet. Auf diesem speziellen Album gewährt der sonst im Progressive-Metal beheimatete Musiker allerdings durch diverse Themenskizzen einen geradezu intimen Einblick in das Entstehen seiner komplex geschichteten Klangwelt, was zudem vom Artwork (oben die vergriffene Pink-Vinyl-Version) kongenial begleitet wird. Auch der längste uns bekannte Songtitel vom Album Subsume stammt aus seiner Denkstatt. Es ist ein Zitat aus dem Roman 1Q84 von Haruki Murakami. Dazu fällt mir ja sofort DIE Löffler ein…

„He would be riding on the subway or writing formulas on the blackboard or having a meal or (as now) sitting and talking to someone across a table, and it would envelop him like a soundless tsunami.“

 

ERINNERN VERGESSEN

> Die Sendungen: Artarium Double Feature vom Sonntag, 1. Mai – Wir erinnern an die Salzburger Bücherverbrennung von 1938 und wundern uns über das seltsame Vergessen, das im Hinblick auf die NS-Vergangenheit dieser Stadt jahrzehntelang wie der Sarkophag von Tschernobyl auf dem Gedächtnis ihrer Einwohner lastete – und das nach wie vor erstaunlich weit verbreitet ist. Zu diesem Behufe senden wir 2 (in Worten ZWEI) Stunden ins Gewissen dieser kleinen Welt (in der die große ihre Probe hält). Und freuen uns auf so unterschiedliche Beiträge wie die Live-Statements jugendlicher Radiokollegen von SwitchON oder ein Hörbild zur Literatur von Ö1-Programmchef Peter Klein (welches er uns für diesen Anlass zur Verfügung gestellt hat). Naturgemäß alles fein garniert mit schräger Musik und ein paar selbstgesägten Hörcollagen

 

SPURENSUCHE IN SALZBURG   (zur 1. Sendungsstunde)

 

Berlin Mahnmal
ICH
MAHN
MAL

 

DU
DENK
MAL

 

HEUTE SCHON GELEBT ?

 

Es ist also wieder mal soweit (zum unendlichsten), die Stadt Salzburg (wer sind das eigentlich?) will den Residenzplatz neu gestalten und im Zuge dessen auch ein “in den Boden integriertes” Mahnmal errichten (lassen). Also eines (so steht zu befürchten), das niemanden stören wird, weil es nicht im Weg steht, und das man auch nur dann findet, wenn man eh schon Bescheid weiß. So ähnlich, wie das oben abgebildete Mahnmal zur Bücherverbrennung 1933 in Berlin. Na ja, vielleicht ganz passend zum Begriff des “Unterbewussten” – oder anders ausgedrückt, unser Staatsfeiertag heißt sowieso längst “Maria Verdrängnis” und findet seit 1945 an genau 365 Tagen im Jahr statt. Was? Nationalsozialismus?  Das hat doch hier niemand wollen, das ist uns mit dem Anschluss alles aufgezwungen worden, Österreich ist das erste Opfer und blablabla.”

ICHMAHNMALIn einer vielsagenden Kurzdoku von Raphael Steiner zur Salzburger Bücherverbrennung sowie zur Frage nach einem entsprechenden Gedenk-Mahnmal kommentiert der Historiker Gert Kerschbaumer souverän die üblichsten Argumente gegen ein solches. So auch jenes einer Schülerin: “Ich fänds traurig, wenn es in unserer Gesellschaft heutzutage noch notwendig wäre, so etwas aufzustellen. Weils jeder wissen sollte. Und in der Schule lernen wir auch über diese Zeit.” Gert Kerschbaumer: “Sowas sollte man eigentlich wissen. Doch wissen wir, dass das nicht so ist.” Echt jetzt? Was haben unsere jungen Sendungsgäste im Schulunterricht erfahren? Betrüblich finden wir es auf jeden Fall, dass selbst in spezialisierten Kunstschulen keinerlei Projektarbeiten zum Thema Mahnmal stattfinden. Ausgehend etwa von Max Rieders Entwurf einer Lichtskulptur könnte man doch aus dem kreativen Potenzial Heranwachsender geradezu eine Vielzahl an Ideen schöpfen – und somit auch diesen hoffnungsfrohen Zukunftgestaltern die Aufgabenstellung der Erinnerungskultur im öffentlichen Raum nahebringen. Dazu müsste man sie allerdings als ebenbürtige Projektpartner ernst nehmen – und sie nicht wie kleine Kinder behandeln, die mit den “ach so erfolgreichen” internationalen Künstler_innen überhaupt nicht mitreden können. So scheißt die Politik laufend auf eine Generation nach der anderen und opfert sie zum eigenen Machterhalt dem Moloch einer fragwürdigen Hierarchie.

 

DER VATER UND DER SOHN (SPRINGENSCHMID)   (zur 2. Sendungsstunde)

 

GRABMALUnd während die Stadt Salzburg sich wieder einmal in ihrem Herumgezicke ergeht (und es noch immer keinen Ort des Gedenkens für die Opfer dieser NS-Ausmerzung gibt), thront das Grabmal des Täters Karl Springenschmid als prominenter Ort des Erinnerns an ihn hoch über dem Aigner Friedhof. Dabei ging es den Veranstaltern des ersten Gedenkens (Ludwig Laher, Christine Haidegger und anderen von der Salzburger Autor_innen Gruppe) 49 Jahre nach dem Anschluss in erster Linie nicht um ein statisches Erinnern und Mahnen, sondern vielmehr um die Herstellung eines Bezugs zur jeweiligen Gegenwart. Das zeigte schon 1987 die berühmte Rede von Erich Fried über das Verbrennen der Welt, gehalten ganz im Eindruck der Atomkatastrophe von Tschernobyl, die sich heuer zum 30. Male jährt. In diesem Sinn wollen auch wir in der Sendung einen Zusammenhang spürbar machen, zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem. Wer sind etwa heute die “zum Schweigen Gebrachten”? Wie funktioniert Volksverblendung und Massenaufhetzung im großen Stil? Gegen wen richten sich die selben Mechanismen, derer sich die Nazis vor 80 Jahren bedienten, in unserer Zeit? Und welche innerfamiliären Probleme mit der Generation der zumeist schweigenden Kriegsteilnehmer wirken heute wie damals auf Politik und Gesellschaft ein? Dies zeigen vor allem die radikalen Selbstzeugnisse des Künstlers und Schriftstellers Ingo Springenschmid (des Sohnes vom oben erwähnten Karl).

ingo springenschmidHier lassen wir ihn im historischen Feature von Peter Klein selbst zu Wort kommen, kontrastiert von den Zitaten seines Vaters und von der Erzählung ihrer beider Biographien. Zwischen den Zeilen wird das Ringen um seine eigene Identität – und mit den Illusionen des übermächtigen Vaters verständlich. Ausgezeichnet! Und im Zitat spiegelt sich auch die Vergiftung der Heimat durch die Verstopfung der Zwiesprache. “Das hängt für mich auch mit dem Problem Salzburg zusammen, mit der Struktur Salzburg, das ist ja auch genügend dokumentiert, bis zu Trakl, wenn man so will bis zu Mozart. Diese Hierarchien, die auf der Stadt lasten wie eine Hypothek in Form der Festung. Und immer diese künstliche Situation des Aufschauens und Aufblickens, dann die Festspiele, und so wie man früher zu den Bischöfen (aufsah), so war es dann der Karajan, immer diese Künstlichkeit. (…) Und ich empfinde die Stadt also als sehr hinterhältig.” Seine ehemaligen Schüler sagen: “Ingo hat mir das sprichwörtliche Brett vom Kopf wegmontiert.” Oder: “Er hat Schüler gefördert, wo er gemerkt hat, die haben ein Talent. Es war eine totale Freiheit.” – Ein weites Land, dieses Thema, so fest steht viel!

 

Ambros im Artarium

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. März – Unser hämischer Beitrag zur Ö3-Quotendiskussion. Wie der freie Kunnstfunk den hoffentlich-rechtlichen Verhunzfunk eines Eigeneren belehrt oder Die österreichische Identität besteht eben in fortwährender Verneinung ihrer selbst. “Ideologische Missgeburten aller Länder, schleichts euch!” Zum 9. Geburtstag der real existierenden Sendungsidee Artarium gedenken wir wermutsvoll einer edlen Institution, welche durch die flächendeckende Formatradiotisierung des erwähnten ORF-Senders abgewickelt, eingespart und im wahrsten Wortsinn umgebracht wurde: Der Musicbox mitsamt ihrer allwöchentlichen Albumpräsentation “Die komplette LP”, einer derart genialen Erfindung im Medium Radio, dass wir sie zumindest monatlich als “Das ganze Album” wiederbelebt haben.

ambros“Es war einmal ein Radiosender namens Ö3 (nicht zu velwechsern mit einem heutigen Hit- oder besser noch Hiadlradio) und dortselbst ereignete sich beinah täglich “Die Musicbox”. Einmal in der Woche präsentierten deren auch sonst recht kunstsinnige Eloquenzen “Die komplette LP” ohne je drein zu reden. Welch ein Hörerlebnis! – Mit der Geschichte begann die regelmäßige Artarium-Albumpräsentation, genau am 16. Mai 2010 mit Somewhere in Afrika von Manfred Mann’s Earth Band.

Dazu gab es anfangs eine rekonstruierte Version der originalen Musicbox-Signation, die immer auch inhaltlich auf das jeweilige Album abgestimmt war. Hier gibts jetzt die entsprechende MusicboxAfricaSignation – zum Anhören und als Mp3-Download.

Das Pikante am eingangs gemachten Breitseitenhieb auf den ehemals (zumindest teilweise) avantgardistischen Radiosender Ö3 ist ja, dass durch ihn jenes Genre des Austropop geradezu miterfunden wurde, dessen ausgelutschteste Hadern dort heute bestenfalls noch als Nostalgie-Devotionalien aus dem Einheitsbrei hervor blubbern. Und dass die “einheimische Musikszene”, deren Förderung und Verbreitung diesen Sender über Jahrzehnte populär gemacht hat, jetzt von seinen Verantwortlichen zur Ursache aller Folgen ihres flachbildhirnigen Formatkonsumistmus umgepudert wird. Wolfgang Ambros hingegen, mit “Da Hofa” immerhin Verursacher des allerersten kommerziell erfolgreichen Austropop-Titels, hat darüber hinaus noch so Einiges von sich gerotzt, was dann im ORF aus ganz anderen Gründen nie gehört werden durfte.

Weg mit eahna, hautsas nieda,
sperrtses ein oda bringtses um!
De hobn ka Recht, de san vaurteilt
von vuanherein, wer scheißt si drum.

Wo ma hinschaut, nix wia Scheiße
und söba is ma mittn drin.
I kennt ma in di Goschn haun,
weu ich so ein Trottl bin.

 

Selbstbildung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 21. Februar – Was ist Bildung? Funktioniert das im Radio? Und wenn ja – wie nicht? Darüber machte sich auch Barbara Frischmuth zum 3. Radiopreis der Erwachsenenbildung im Jahr 2000 ihre Gedanken, welche sie bei dessen Verleihung in Form einer Festrede zum Selbstmitdenken vortrug. So verstehen zumindest wir diesen Umstand, dass nämlich jedwede öffentlich gemachte Überlegung eine freundliche Einladung zum Weiterdenken, Weiterentwickeln und Selbstweiterbilden darstellt. Schon haben wir den Kern der Fragestellung erfasst – “etwas zu bilden” ist ein aktiver Vorgang in der Vorstellung des Publikums. Ganz im Gegensatz zum passiven Belehrt- und Geknetetwerden nach der Vorstellung der Sendenden, als was Informationsvermittlung doch oft missverstanden wird.

radioNehmen wir dieses Thema einmal zum Anlass einer Untersuchung, wieviel “Vorbildung” ein Mensch denn mitbringen müsste, um sich mithilfe dieser Radiosendung eine hirnreichende Befriedigung durch synaptische Neuverschaltung zu besorgen. Wenn da etwa Barbara Frischmuth in ihrer Rede feststellt:

“Damit ist das Dilemma auf dem Tisch. Nämlich das der Erwachsenenbildung im Radio, die immer schon Bildung voraussetzt. Natürlich kann sie auch mit der Suggestivkraft von Stimmen Hörer in ihren Bann ziehen, doch riskiert sie dabei, dass dann das Inhaltliche zur Nebensache wird. Im Grunde ist es wohl so, dass nur Erwachsene, die bereits soweit gebildet sind, dass sie mehr davon haben möchten, sich Sendungen zur Weiterbildung anhören. Wohingegen die anderen bei den Wortsendungen erst gar nicht einsteigen.”,

und wir in unserer Sendung Hip-Hop-Samples aus einem Gespräch mit Rudi Dutschke spielen, dann stellt sich die Frage, ob und inwieweit man die Person Rudi Dutschke vorab kennen muss, um “etwas davon zu haben” im Hinblick auf die eigene Bildung. Zum Hörbeispiel: “Gefängnisrevolte” aus “Echolot” von Syndikat (Albino & Nesti)

Günter Gaus: Ich behaupte nun aber, daß jede ideologisch geprägte Politik in unserer heutigen Zeit, in unseren Industriestaaten, im Grunde menschenfeindlich ist. Sie zwingt den Menschen auf eine vorgezeichnete Bahn, der er folgen muß, damit es den späteren Menschen einmal besser geht.

Rudi Dutschke: Nein, es wird nichts vorgezeichnet. Das Vorzeichnen ist ja gerade das Kennzeichen der etablierten Institutionen, die den Menschen zwingen, etwas anzunehmen. Unser Ausgangspunkt ist Selbstorganisation der eigenen Interessen und Bedürfnisse…

 

Snökuken

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. JanuarSchneepenis, Pflückgedicht und StreetArt. Kunnst, im öffentlichen Raum? Dem Monolog der Mächtigen das Eigene entgegnen, mit Inbrunst. Hinbrunzt! Die uns angeblich allen gehörenden Lebensräume werden zunehmend verprivatisiert, das heißt den wirtschaftlichen Interessen ihrer “Besitznehmer” zweckgewidmet. Zu abstrakt? Dann nochmal langsam zum Mitdenken: Ein gewisser “Staat” in Gestalt von Bundes-, Landes- oder Gemeindeverwaltung erhebt (auf was hinauf eigentlich?) Eigentumsanspruch auf unser aller Lebensumgebung und Umwelt. Gegen Bezahlung tritt er (der Staat) dann bestimmte Rechte (unsere!) zur Verwertung des Allgemeinguts (unseres!) an “private Investoren” (anonyme Firmen oder geldschwere Einzelpersonen) ab – und verbietet uns dann die weitere Nutzung.

snökukenEin solches Geschäft kann als sittenwidrig und somit als nichtig angesehen werden, zumal es ohne Zustimmung der Miteigentümer zustande gekommen ist. “Aber das ist alles ganz legal”, werden uns die uns (das Volk) vertretenden Volksvertreter sogleich erklären, “und jede Art von Graffiti ist eine Sachbeschädigung und die Benutzung des öffentlichen Luftraums zwecks Meinungsäußerung ist eine Geschäftsstörung.” Das mag schon sein, dass seit der Erfindung der Republik Österreich und ihrer Verfassung ein paar windschiefe Juristen diesbezügliche Gesetze zu Papier geschissen haben – doch ist etwas schon deshalb wahr (und richtig), nur weil es wo geschrieben steht? Und kommen denn die Erträge aus diesen dubiosen Luftgeschäften wenigstens nachweislich “dem Volk” zugute, aus dessen Eigentum sie generiert wurden? Aber nicht doch! Statt sich im Wohlergehen des Gemeinwesens förderlich auszuwirken, verschwinden die uns listig abgeluchsten Gelder im Dickicht der internationalen Finanzwirtschaft – zur Rettung von Banken, zur Stützung von Kursen, zur Verplemperung in dysfunktionaler Repräsentation, kurz zum Sichfickenlassen von allem und jedem, was auch nur entfernt nach Investitionsklima miachtelt. Pfuigack!

barbara jesusLetztendlich wären wir gern gefragt worden, in was für einer Welt wir leben wollen – und zwar bevor man sie “zu unserem Besten” derart verunstaltet, dass wir uns in ihr kaum wiedererkennen. Letztendlich geht es dem Menschenwesen um den Dialog, um Frage und Antwort, um gemeinsames Erarbeiten von Lösungen – und nicht darum, dass uns von oben herab “Wahrheiten” übergestülpt werden, die nichts mit uns zu tun haben, aber erkennen lassen, dass sie den Interessen derer dienen, die da oben sitzen, von wo herab sie uns im Befehlston “den rechten Weg” verordnen. Gehts doch scheißen – aber bitte woanders hin! Es ist ein einziges Propagandagedröhn, das uns permanent zuquasselt, tagein, tagaus, von Schildern und Plakaten, aus Auslagen und Fernsehern, Gasthäusern, Geschäften, Nachrichten, Netzwerken, Popsongs, Radioshows, Universitäten. Die Orgel des Untergangs ist immer und überall! Und der Fleischwolf der Gedankenstopfwurst ist in unseren Köpfen, seit wir auf der Welt sind.

Sich zur erlebten Welt selbst zu äußern (in welcher Weise auch immer) ist gesund! Doch wie kann Eigenes wahrgenommen werden, solang ringsum das Fremde dröhnt? Unsere Ideen dazu: Zettelpoet Helmut Seethaler und StreetArt-Künstlerin Barbara, der Schneepenis von Göteborgoder doch der Graffiti-Krieger KIDULT, dessen brachiales Video “Visual Dictatorship” ganz neue Getreidegassen-Gefühle erzeugt?

 

Schuldig!

Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. November – Zwischen ewiggestrigen und brandaktuellen Feindbildern stehen wir fassungslos da – inmitten einer Gesellschaft, die ihren Zusammenhalt nach wie vor durch die Ausgrenzung alles Artfremden zu bewerkstelligen sucht. Wie kann es sein, dass in unserer angeblich so aufgeklärten Zivilisationskultur des 21. Jahrhunderts noch immer entweder einzelne Menschen oder ganze Bevölkerungsgruppen zu Sündenböcken gemacht werden? Riecht das nicht sehr nach Religion, nach der bizarren Glaubenswelt des alten Testaments, nach Kreuzzug und Inquisition? Oder doch mehr nach Kronenzeitung, Stammtisch und Susanne Winters Aluhut? Womöglich ist die Pestilenz ja auch dieselbe, nur die Geruchsnuancen sind unterschiedlich. Halten wir zunächst Einkehr am Friedhof

ein junger dichterIch selbst war heuer zur allerseeligsten Jahreszeit am Aigner Friedhof, wo nur ein paar Meter voneinander entfernt der jüdische Kabarettist und Chansonnier Georg Kreisler sowie der deutschtümelnde NS-Lehrer und Schriftsteller Karl Springenschmid beerdigt sind. Und auch ein alter Freund von mir, der viel zu früh verstorbene Rafi Chaimowicz, ein (im krassen Gegensatz zu dem Vorgenannten) musisches Talent vielfältiger Ausprägung. Ungefähr 1990 erzählte er mir die Geschichte, wie er im Akademischen Gymnasium von zwei älteren Mitschülern kopfüber ins Klo gesteckt wurde. „Sauf des, du Judensau!“ riefen sie dabei immer wieder. Doch als er, auf mein empörtes Drängen hin, diesen Vorfall bei der Schuldirektion meldete, nötigte man ihn dort allen Ernstes dazu, die Angelegenheit zu vergessen, damit der gute Ruf der Schule nicht zu Schaden käme. Ein Wahnsinn! Diese Episode zeigt uns überdeutlich, wie ein Feindbild über Generationen hinweg weitergereicht und verfestigt wird – und wie die Opfer der Gewalt zu möglichen Tätern umgelogen werden, damit der gute Ruf der Gesellschaft nicht leidet. Ich bin ja auch einmal in diese hoch angesehene Schule gegangen worden – da weiß man, was man hat!

ein alter sängerJahrzehntelang hat er angesungen gegen den Unsinn jeder Obrigkeit, die uns mit allerlei Mythen Gläubigkeit, Patriotismus und blinden Staatsgehorsam einzutrichtern versucht. Der große ungewollte Sohn dieses neurotischen Lands der Hämmer, in dem stets derjenige als Nestbeschmutzer verfemt wird, der einen Übelstand aufzeigt – und nicht etwa derjenige, der ihn verursacht hat. Das nächste Feindbild also, dem wir uns – zusammen mit Thomas Bernhard – auch nur allzu verwandt wissen. Störer der herrschenden Ruhe und Ordnung, Asozialer, Schmarotzer, Volksschädling und Ungläubiger! Schnell kippt die Vorurteilung wieder ins Religiöse, genau, “der Nationalsozialismus war eine politische Religion” (Friedrich Heer). Und der globale Kapitalismus mit seiner Diktatur der Finanzmärkte, trägt er nicht auch die Züge eines alleinseligmachenden Glaubenssystems mit dem Anspruch auf Weltherrschaft? In Zeiten wie diesen, in denen das Kabarett fast schon wieder allein gegen die Zuschwallerung mit Machtschwatz und Glauberei anstänkert, wollen wir Georg Kreisler einmal gemeinsam mit Max Uthoff hören, der in seinem Programm “Gegendarstellung” (Video) das neuste Feindbild “Die Armen” erklärt.

Vergesst unverzüglich die großen Siege und fahrt fort, unerschütterlich, hartnäckig, ewig in Opposition, zu fordern: fahrt fort, euch mit dem Andersartigen zu identifizieren, Skandal zu machen, zu lästern!    Pier Paolo Pasolini

 

Dicht & Doof

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. SeptemberIn Salzburg gab es noch nie eine deutschssprachige Punkband namens Thomas Bernhard. Und genau das ist einer der größten Fehler dieser Stadt. Denn während in Wien seit Jahrhunderten (von Nestroy bis Neuwirth) auch brutal selbstkritisches Liedgut zum guten wie zum schlechten Ton gehört, ergeht sich unser katholischer Kunstmarktflecken in der propagandistischen Beweihräucherung eigenen Schönscheins und Wichtigtums, dass einem so richtig schön schiach wird. Diese Stadt gehört schon längst nicht mehr uns. Im Musikvideo der zwei Wiener (!) Christoph & Lollo fehlen durchaus die Salzburger Örtlichkeiten im Abspann. Und das furchtbar süßliche (allerdings bitterböse) Grüß Gott Salzburg des Wieners (!) Ludwig Hirsch hat inzwischen auch schon 25 Jahre auf dem Buckel.

hombuchdandlungAuch aus Salzburg sind ja seit Thomas Bernhards „Friedhof der Wünsche und Phantasien“ kaum noch kritische Töne zu vernehmen. Stattdessen Hofberichterstattung von Festspielhelgas Fetzenspielen oder vom volksbrauchbesoffenen Trachtenanfall Rupertikirtag quer durch alle Medien – vor allem aus dem devotionalen Landesstudio des österreichischen Unfugs

Da müssen halt auch wir auf die Altwiener Tradition des gepflegten Protestsongs zurückgreifen und den Wolfgang-Ambros-Text von Hoiba Zwöfe aus dem Jahr 1976 nachträglich versalzburgern, um dem hier vorherrschenden Dultdunst aus Bier und Bratwurst (der hier alles niederquatschenden Geldkunst aus Gier und Staatswurst) etwas halbwegs Ketzerisches entgegen zu theatern. Und das hört sich dann so an:

Von ana Szene kann ma bei uns übahaupt ned sprech’n,
ollas dasauft im Stieglbier, es is zum Erbrech’n.
In dera Beziehung is‘ bei uns zum Scheiß’n
und es schaut ned so aus ois ob’s es irgendwann g’neiss’n.
Oba wozu wüst di aufreg’n, so is des hoid,
am Best’n is‘ du schaust dazua und wirst recht schnö oid.
Stöh da amoi vua, dass bei uns a Konzert is
wo’st fia de Koat’n nur sovü zoist, wos a wert is!
Des tät uns jo des ganze Image vaderb’n
weu Soizbuag is und bleibt…
de Stodt zum Sterb’n!

 

Abie Nathan – The Voice of Peace

> Artarium vom Sonntag, 30. August – Das Double-Feature hier zum Nachhören:

Erster Teil: From somewhere in the Mediterranean (Playing the Peace-Ship today)

Zweiter Teil: Abie Nathan – The Voice of Peace (Feature-Collage – Ein Vermächtnis)

Ein Mann und sein Lebenswerk, heute fast nur noch Eingeweihten oder Zeitzeugen bekannt, erfahren hier eine längst überfällige Würdigung. Denn der israelische Radiopirat und Friedensaktivist Abie Nathan betrieb zwischen 1973 und 1993 von seinem Sendeschiff aus die coolste Musikstation im östlichen Mittelmeer. The Voice of Peace hatte zu Spitzenzeiten über 30 Millionen Hörer_innen und wurde so schnell zum Soundtrack einer ganzen Generation. Ganz nebenbei pflanzte ihr umtriebiger Gründer auch seine Friedensvisionen in deren Ohren – und Herzen. Dies alles wäre wohl auch uns weithin unentdeckt geblieben, wenn nicht Eric Friedler 2014 den Grimme-Publikumspreis der Marler Gruppe erhalten hätte, für seinen genialen Dokumentarfilm The Voice of Peace – Der Traum des Abie Nathan:

The Voice of PeaceDadurch fand das für den NDR produzierte eineinhalbstündige Portrait seinen Weg in die üblich verdächtigen Fernsehkanäle und gelangte so letzten Endes auch zu uns. „Ich hätte Abie gern persönlich kennengelernt und wäre am liebsten auch beim Radiosender mit dabei gewesen.“ erklärt Eric Friedler in dem sehenswerten Interview zur Entstehung seines Films mehr als nur einmal. Dem haben wir nichts hinzuzufügen – das unterschreiben wir sofort – mit unserem Herzblut! Also verwandeln wir uns in der ersten Stunde unserer Hommage an den versenkten Sender einer nicht totzukriegenden Botschaft zeitlos in zwei Voice-of-Peace-DJs und senden aus dem Dampfraum der Radiofabrik als wärs im Hochsommer vor Tel Aviv. Dabei wollen wir aber nicht mit der Musik von damals dem Geist jener verflossenen Zeit nachweinen, sondern uns mit Phantasie in die Situation versetzen, wir seien ungeachtet jedweder Realität wirklich auf dem Friedensschiff und spielten die Musik, die uns dazu einfällt. So entsteht eine Verbindung aus historischen Jingles und Songs mit ganz neuen thematischen Assoziationen rund um die eisernen Vorhänge in unserer Vorstellung. Und eine Atmosphäre von Zeitlosigkeit, die es uns ermöglicht, das Wesentliche an Abie Nathans Peace-Messages zu erspüren – von gestern – für heute – und morgen

Abie Nathan 1961In der zweiten Stunde stellen wir den Menschen hinter seinem Projekt vor – und wundern uns, weshalb dieser radikale Visionär einer friedlicheren Welt heute fast schon mit Vehemenz verdrängt und vergessen wird. Es ist mit Sicherheit der überragende Verdienst von Eric Friedlers Dokumentation, dass sie den Politpoeten, den Provokations- und Aktionskünstler Abie Nathan solchem Vergessen entreißt und darüber hinaus dessen Lebenswerk einem erweiterten Kreis von potenziellen Mitstreiter_innen nachvollziehbar macht. Auch wir im Freien Radio können uns zum Beispiel fragen, was uns dieser verspielte Bruder eines glückhaften Zeitfensters so hinterlassen hat. Kann es genügen, um die eigene Existenz zu kämpfen, damit es einen halt gibt? Was ist unsere Botschaft? Wovon sind wir besessen, wofür sind wir bereit, im Wortsinn alles zu riskieren? Worin besteht die große Spaltung unserer Gesellschaft? Ist unsere Wirtschaft nicht längst Krieg? Krieg zwischen Arm und Reich? Die einen gehen daran zugrunde, die anderen gewinnen alles? Und dann? Wenn wir nicht über das scheinbar Unhinterfragbare hinaus zu denken wagen, dann wird uns das tatsächlich Unvermeidliche einholen. Alternativlos! Fragen zu stellen ist also schon mal ein guter Anfang. Und auch, etwas zu hören, das nicht in unseren Geschichtsbüchern steht.

Abie Nathan starb am 27. August 2008. We give voice to forgotten memory. Shalom!

Eine ausführliche Artikelserie von Hans Knot beleuchtet noch weitere Hintergründe…