Triptychon zur Traurigkeit

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. März“Und, wie fühlst du dich jetzt nach diesen Übungen?”, fragt der freundliche Arzt aus dem Internet. Mir fällt spontan eine Antwort heraus: “Ich habe Angst. Angst vor meinen Schmerzen. Und Angst vor meiner Traurigkeit.” Da schau her. Das heutige Sendungsthema ist eines der schwierigsten und unzugänglichsten von all den Gefühlskonglomeraten, die wir bislang in unseren Perlentauchereien untersucht haben. Eine Herausforderung, die sich aber auch zunehmend aufdrängt. Seit einiger Zeit kommen mir nämlich vermehrt Menschen unter, die eine geradezu traurigkeitsvermeidende Überlebensstrategie zu verfolgen scheinen. Die also alles, was sie in diesen Gefühlszustand versetzen könnte, von vorn herein von sich fernhalten. Die vielleicht, so wie ich, Angst davor haben?

Triptychon zur Traurigkeit 1Traurigkeit ist wie ein Schleier. Ich hab mal versucht, mir etwas zugleich so ungreifbares wie auch massives vorzustellen wie “bleiernen Nebel” (der sich über die Seele legt oder so ähnlich). Ein sich beinah unmerklich ausbreitendes Gespinst, das in uns eindringt und uns von allen Seiten umgibt, sich in weiterer Folge zu einer immer undurchdringlicheren Barriere verdichtet, die uns von dort, wo wir unser Lebendigsein spüren würden, regelrecht abtrennt. Da kommen mir Bilder von Betonbunkern und Kernkraftwerken in den Sinn, von eingesperrtem Lebenwollen, das bei jedem Versuch, nach außen durchzudringen, an seinem Gefangensein scheitert. Da steht eine Wand zwischen mir und der Welt, zwischen ich und du, zwischen einem traurigen Kind und der unendlichen Landschaft seiner Träume. Das ist wie damals, als du mich nicht verstandennicht gesehen, nicht gespürt, nicht wahrgenommenhast. Es fühlt sich heute noch so an, wenn ich enttäuscht bin. Oder ist es “nur” ein Flashback?

Triptychon zur Traurigkeit 2Traurigkeit erzählt Geschichten. Natürlich nicht gerade dann, wenn wir in ihr versinken. Doch sobald wir uns wieder lebendig fühlen, können wir ganz ohne Zwang zuhören. Als ich gestern in den ziemlich genialen Dokumentarfilm “Was tun” geraten bin, hat sich mir so eine Geschichte geradezu elementar ereignet, dass ich wieder ganz neu neugierig auf das unendliche Land hinter meiner Traurigkeit geworden bin. Der Film behandelt die Situation von Sexarbeiterinnen in den Bordellen von Bangladesh, an und für sich ein zutiefst trauriges Thema, und mir fiel auf, dass ich dabei nichts von dem empfand, was ich sonst als das traurige Gefühl bei mir kenne. Ich wunderte mich darüber – und ging innerlich auf die Suche. Kurz darauf begegnete mir Redoy, den Regisseur Michael Kranz als “meinen besten Freund” und “mein bengalisches Herz” bezeichnet – und ich erkannte mich selbst. In einer heftigen Erschütterung von zugleich Weinen und Lachen endlich wieder ganz.

Triptychon zur Traurigkeit 3Traurigkeit kann eine Spur sein. Dorthin, wo sich Räume auftun und neue Wege eröffnen. Neu insofern, als sie vielleicht schon lang nicht mehr betreten worden sind. Weil wir gelernt haben, sie zu vermeiden. Weil wir überlebt haben (und das ist definitiv ein Grund zum Feiern). Nichtsdestoweniger sind es unsere Wege, auf denen wir als glückliche Kinder im Sonnenschein unserer Neugier herumtrubeln und dabei auch die Abenteuer des Waldes und der Finsternis entdecken und bestehen. Es kommt nur darauf an (und zwar scheißegal wie alt wir sind), neugierig zu bleiben und sich schon auch mal überraschen zu lassen. Oder wollt ihr die totale Langeweile? Den schleichenden Erstickungstod durch immer dieselbe Reiz-Reaktions-Routine? Den Schleier der Traurigkeit anheben, die Geschichte dahinter verstehen wollen, der Spur ihres Rätsels folgen und das Geheimnis ergründen. Mit sich selbst auf Du – das ist ein guter Anfang für das Frage-und-Antwort-Spiel mit der Welt da draußen.

Lust auf mehr? Einfach mittauchen und gut zu hören.

 

Like A Complete Unknown

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. März“Kommst du mit ins Kino?”, frug ich den Hasen – und schon waren wir mittendrin in der Diskussion unserer inzwischen recht verschiedenen Zugangsweisen: “Ich ertrage keine Synchronfassungen mehr, weil ich mir Filme und Serien seit Jahren nur noch in ihrer Originalsprache anschaue.”, erklärte er. “Für mich stellen Übersetzung und Synchronisation eine eigene Kunstform dar, die ich zusätzlich zum Film an sich genieße.”, erwiderte ich. Dabei läuft “Like A Complete Unknown” im Filmkulturzentrum DAS KINO sowieso in der Originalversion mit deutschen Untertiteln. Und ist aufgrund seiner “etwas anderen” Erzählweise auch in dieser Gestalt überaus zugänglich, weil er die Entwicklung des jungen Bob Dylan vom akustischen Folk zum elektrifizierten Rock in vielen seiner Songs live zeigt.

Like A Complete UnknownUnd seine Songs sind eben genau so bekannt, wie His Bobness (oder wie immer er genannt werden mag) sie selbst singt, auf Englisch. Ich habe mich also in das Original mit Untertiteln hinein begeben und war einigermaßen erstaunt, wie ein über zweistündiger Film die Geschichte einer zunehmenden Deutungsverweigerung in 23 Songs sowie Ausprobiersituationenen erzählt, gefühlt über die Hälfte der gesamten Zeit. Und dabei durch die Dialoge dazwischen, die aufeinanderfolgenden Ereignisse rund um die immer enigmatischeren Aussagen einen insgesamt glaubhaften, nachvollziehbaren Entwicklungsweg zeichnet. Ich bin aus dem Film wieder aufgetaucht und war – ja, waszufrieden. Wie nach einem guten Essen, wo nichts zwickt, drückt oder übrigbleibt. Like A Complete Unknown – man kann die Geschichte des Rätselhaften erzählen. Ohne zu versuchen, sie aufzulösen. Ein offenes Ende, das sich nicht nervig anfühlt und keine losen Fäden herumhängen lässt. Chapeau! Timothée Chalamet, der sich die Person von Bob Dylan derart anverwandelt, als wäre es keine Rolle und er auch kein Schauspieler, sondern alles zusammen, der Film, die Geschichte und auch er selbst eine fortwährende Verwandlung, wächst dabei geradezu über sich hinaus.

Im Vorfeld der Veröffentlichung dieses eigenwilligen Filmprojekts war viel darüber zu erfahren, wie er sich mit Techniken des Method Acting über einen Zeitraum von 5 Jahren in den großen Unbekannten oder eben in der Originalversion “A Complete Unknown” einlebte, um ihn möglichst selbstverständlich verkörpern zu können. Wir haben jenen Artikel des Rolling Stone Magazine gefunden, auf den sich die meisten dieser Berichte beziehen. Und wir haben ein Salzburger Musikprojekt entdeckt, das sich als “Madagascar – A Bob Dylan Phantasmagoria Bootleg Series” bezeichnet.

Das Rätselraten geht also weiter. Und die Antwort auf alle Fragen (it’s blowing in the wind, you know) sind wir selbst. Fragen, auf die wiederum Fragen antworten …