Über artarium

Seit Herbst 07 "das etwas andere Kunnst-Biotop" in der Radiofabrik und seit Anfang 09 daselbst "im Schatten der Mozartkugel" als Artarium unterwegs. Immer auf der Suche nach neuen Gästen, Themen und Gestaltungsformen... Hochfrequenter Wortwetz- und Mundwerksmeister zwischen Live-Unmoderation und Poesie-Performance. Psychodelikate Audiocollagenkunst, stimmungsexzessive Hörweltendramaturgie, subversiver Seelenstriptease, unverzichtbares Urgewürz und... In diesem Unsinn zeig ich euch hier einen tieferen! Ab- und hintergründige Neu- und Nettigkeiten aus der wundersamen Welt des Artarium, seinen Gästinnen und Hörerichen. Kunnst mi eigntlich gern ham. So do mi - i di a! Bussal...

Rainald Grebe – 1968

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. DezemberRainald Grebe, den wir als Inbegriff des Herumhupfens kennen und schätzen gelernt haben, ist ernsthaft krank. Er leidet an einer unheilbaren Autoimmunkrankheit namens Vaskulitis und hat seit 2017 bereits sechs Schlaganfälle überlebt. Eigentlich könnte er jederzeit direkt von der Bühne in ein Pflegeheim geratenaber er macht weiterhin seine Kunst, wenn auch in entsprechend veränderter Form. So hat er uns etwa unlängst einen “Abend Popmusik” (Konzertfilm) beschert, der im Zusammenspiel mit der Band “Fortuna Ehrenfeld” entstanden ist. In dieser knapp 2-stündigen Tour de Force durch zahllose Stilzitate tauchen (dank Jenny Thiele am Keyboard) auch entlegenere Kostbarkeiten auf – wie zum Beispiel ätherisch-erzählschwebige Laurie-Anderson-Stimmungen.

Rainald Grebe - 1968Wir wollen heute allerdings ein etwas älteres Konzeptalbum von Rainald Grebe & Die Kapelle der Versöhnung zelebrieren, und zwar das 2008 “zum 40. Geburtstag” des sprichwörtlich gewordenen Jahres erschienene “1968”. Die darin enthaltene “Zeitmaschine” hat es zusammen mit dem von uns immer wieder gefeierten “Guido Knopp” sogar bis in elaborierte germanistisch-kulturhistorische Fachzeitschriften geschafft. Den diesbezüglichen Artikel “Poetik der Einebnung: Zur Amalgamierung von Raum und Zeit in den Liedern Rainald Grebes.” von Gerrit Lembke kann man sich hier im Doc-Player ab Seite 35 zu Gemüte führen. Doch auch abseits der intellektuell beflissenen Detailwürdigung gelingt diesem Album eine ebenso gefühlvolle wie lehrreiche Zeitreise durch die nachkriegsdeutsche Revolution – die eigentlich nie stattfand, dafür dann halt anders und auch wieder nicht wirklich. Wollt ihr die totale Marktwirtschaft? Oder Follow the white rabbit!” Ja, Kinder: When I was young.

Über die ungemein vielfältige und inzwischen fragil gewordene Künstlerwelt des Rainald Grebe hat Peter Blau heuer in der Ö1-Sendereihe Gedanken ein famoses Portrait gestaltet, das es hier nachzuhören gibt und das wir ausdrücklich empfehlen. Wir reisen aber lieber noch einmal zurück in jene Versöhnungs-Stilepoche, in der wir dem Autor von “Rheinland Grapefruit. Mein Leben” erstmals begegnet sind und durch die wir ihn als echten In-betweener zwischen den Genres und Generationen ins Herz geschlossen haben. Und vielleicht ganz einfach – weil es so schön rockt!

Ich habe noch Briefe mit dem Füller geschrieben
und mit Münzen telefoniert.
Hat es mir geschadet?
Hat es mit geschadet?
When I was young.
When I was young.

 

Glaubens- und Religionsreparatur

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Dezember (Erster Teil) >> Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. Dezember (Zweiter Teil) >> Abraham Abendland ist abgebranntund isst ein Apfelkompott. Wie es in der Adventszeit bei uns inzwischen üblich ist, reisen wir auch diesmal wieder kreuz & quer durch die etwas anderen Traditionen unseres Menschseins. Was ist Glauben? Und was ist Religion? Zwischen eigener Erfahrung und gesellschaftlichem System entfalten sich soziale, psychologische und spirituelle Möglichkeitsformen. Besonders dann, wenn unsere bisher für zuverlässig und wasserdicht gehaltenen Glaubensformen erodieren und sich im Wechselbad unserer Endlichkeit aufzulösen beginnen. Was passiert, wenn wir keine Macht und keine Kontrolle mehr über unser Leben haben? Wenn wir “unsere Religion verlieren” – dann brauchen wir die Religionsreparatur.

AbrahamUm diesen organischen Prozess der Umgestaltung zu veranschaulichen, haben wir eine Fülle an Gedanken- und Stimmungsbildern hergestellt und Geschichten aus Judentum, Zen-Buddhismus, Christentum, Atheismus, Philosophie und auch  Soziologie zu einem assoziativen Ideenfeuerwerk verknüpft. Damit bereiten wir den Rahmen für jene Bilder (und wahren Abenteuer, die in euren Köpfen sind) – und sind sie nicht in euren Köpfen, dann suchet sie! Wir wünschen in jedem Fall eine gedeihliche Bildwerdung. “Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid und dreht sich stumm, und dreht sich stumm, nach anderen Wirklichkeiten um.” Soweit, so weit. Wir stehen nicht auf der Seite eines festgefügten, hermetisch in sich abgeschlossenen Funktionssystems, das behauptet, durch Auslösung einer vorher festgelegten Abfolge von Kommandozeilen einen vorherbestimmten Erfolg zu erzeugen. Das funktioniert wohl im Computer – im menschlichen Denken und Fühlen und Leben allerdings nicht.

Glaubens- und Religionsreparatur - AbendlandUns ist es ein Bedürfnis, Sendungen zu machen für Menschen, die mit Gefühlseindrücken und Assoziationen “denken”, also die Wirklichkeit viel näher am überraschend wechselvollen und vergänglichen Leben wahrnehmen können – so wie wir. Menschen, die nicht im Entwederoder verhaftet sind, sondern das Sowohlalsauch als eine Grunderscheinungsform allen Lebens in ihr Begreifen und Verstehen mit einbeziehen. Ewiges Leben ist vergängliches Leben. Aber eben auch: Vergängliches Leben ist zugleich ewiges Leben. Digitales ohne Analogie kann schon seiner Natur nach nicht intelligent sein – es tut bestenfalls so als ob. Und alles, das so tut, als ob es etwas wäre, das es gar nicht ist, zersetzt das Lebendige durch Lüge und Betrug. Egal ob Wirtschaftswachstum oder Sebastian Kurz. Stellt sich noch die Frage, warum so viele Menschenleute auf dieser Welt lieber an billigen Tinnef glauben, anstatt mit sich selbst auf die Suche zu gehen nach Antworten auf die Frage, die sie dem Leben sind. Nochmals (siehe oben): Die Fragen, die das Leben uns stellt, sind zugleich auch die Fragen, die wir dem Leben stellen. Fragt sich nur, ob wir uns angesprochen fühlen. Und wenn ja, was dann

Glaubens- und Religionsreparatur - AbgebranntFür mich gibt es einen Zusammenhang, eine Denkähnlichkeit, eine Analogie zwischen dem Dialogischen Prinzip nach Martin Buber und der Resonanztheorie von Hartmut Rosa. Ich meine, wenn man diese beiden Konzepte auf sich wirken lässt, so entsteht eine weitere, sehr stimmige Wahrnehmung vom “angesprochen sein” und “einen Dialog führen können”, wie immer das dann konkret aussehen mag. Aber der Anfang, und der ist ja oft am schwierigsten, ist gemacht. Er ist nämlich immer schon da, so wie das Leben immer schon lebt. Und jetzt Zwiesprache – mit sich selbst, mit einander, mit allem, was ist. Dabei finde ich die Geschichte von jenem Jesus vielversprechend, der allen Menschen als ein menschgestaltiger Resonanzpartner zur Verfügung stehen könnte und der zudem alle Menschen zu dieser inneren Verbindung mit sich selbst und über sich hinaus bewegen würde. Wenn er nicht von Anfang an durch Machtinteressen und ihre Interpretationen derart verzerrt worden wäre, dass heute kaum noch jemand “mit ihm spielen” mag. Doch genau darum ginge es – ums unmittelbar miteinander sein. Und nicht um hohle Herrschaftsprojektion, die niemanden berührt – also nicht lebt.

ApfelkompottHören wir heute die Adventandacht von Slavoj Žižek über Scorseses “Die letzte Versuchung Christi”. Das Christentum als Königsweg zum Atheismus? Auf jeden Fall schrieb der Autor der Buchvorlage, Nikos Katzanzakis, eine um viele kirchenbedingt entstellte Details bereinigte Lebensgeschichte des Jesus von Nazareth (in diesem Artarium zu erfahren). Doch egal wessen Adventes Kranz man sein möchte – wer das ist und was man mit ihm zu tun haben will – das sollte man schon selbst entscheiden und nicht einfach reflexhaft eine Meinung rülpsen. Beim Wiener Wolfgang Teuschl hieß es noch “Da Jesus und seine Hawara” und blieb auf bloß sprachliche Übertragung beschränkt. Bei mir heißt es zur Zeit “Da Jesus und die Buam” – und was soll ich sagen – die sind alle draußen und spielen Fußball. Seien wir doch nicht so langweilig, dass wir bei irgendeiner vorgekauten Interpretation von wasauchimmer stehen bleiben! Jede unserer Welten ist viel zu schade dafür …

Da draußen ist es eh noch viereckig genug.

 

Menschliche Geschichten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. November“Geldsäckulum, gstinkerts!” Dieses Wort von Uwe Dick eignet sich trefflich als Motto für ein weiteres Jahrhundert des “Ökonomischen Diktats”. Oder für eine Fußballweltmeisterschaft, die unter den widerlichsten Machtzwängen absolutistischer Geldherrschaft zustande gekommen wurde. “Massenblödien, Quasselödien, Kassenschmähdien!”, ruft Uwe Dick in den aktualitätsfixierten Mediendschungel. Der letzte deutsche Fußballtrainer, der sich noch traut, in Interviews plötzlich menschliche Geschichten anzusprechen, meint dazu: “Wenn du auf die Welt schaust, was für Wahnsinnige da überall an der Regierung sind, und wie sie sich die Taschen voll machen – das ist halt teilweise im Fußball auch so. Das ist unser großes Problem, das wir gesellschaftlich haben.” Christian Streich

Menschliche GeschichtenReisen wir in die Vergangenheit (die Fotos vom “Weltmeisterzug” hat die Grupa Szukająca Włazu bereitgestellt) und schauen wir uns im Jahr 1954 um, als die deutschen Nationalspieler für die Dauer ihrer WM-Teilnahme Verdienstentgang bezahlt bekamen und sonst nichts. Sönke Wortmann hat 2003 einen Spielfilm über das “Wunder von Bern” gedreht, der zunächst wie ein flachlustig rührseliges Heldenepos daher kommt, auf den zweiten Blick (oder für das entsprechende Feingefühl) aber auch eine ganz andere Geschichte erzählt. Der eigentliche Held ist nämlich der 11-jährige Matthias, der stellvertretend für uns alle die Folgeschäden und Traumatisierungen in Nachkriegsdeutschland erleidet. Doch Sönke Wortmann gelingt es, sämtliche Gefahren und Bedrohlichkeiten durch “wundersame Wendungen” dahingehend umzudichten, dass er eigentlich jenes Wunder erzählt, wie eine “Heilung der Vergangenheit” tatsächlich stattfinden kann.

Brita Steinwendtner wählt wiederum einen anderen Weg, um die Geschichten, die uns Dichter*innen erzählen, mit deren Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen und sie dergestalt zu “verlebendigen”, also auch für uns Nachgeborene erlebbar – und somit wirksam zu machen. Im neuen Band “An den Gestaden des Wortes” aus ihrer Reihe “Dichterlandschaften” reist sie nicht nur durch die Zeit, sondern auch zu den Orten, wo sich deren Wirklichkeit, Imagination und Inspiration mit einander verbunden haben – und sie lädt uns ein, mit ihr auf eine magische Reise zu gehen.

Geschichte mit Gefühl nachvollziehbar zu machen, das verwandelt Geschichte in zutiefst menschliche Geschichten.

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

Flasch

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”

 

Erosionen

>> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 11. November “Die Decke der Zivilisation – die ist ja hauchdünn.” Erschreckend dünn sei dieser “Firnis der Kultur, der uns von der Barbarei trennt”, so beschrieb das Fritz Bauer in den 60er Jahren. Und allenthalben unterliegen die äußersten Schichten unserer Gesellschaft den vielfältigsten Erosionen, die sie nach und nach brüchig machen und abtragen. Uns möge die Metapher allerdings weit über die Fachgebiete der Geologie und der Medizin hinaus – oder besser noch hinein, hinunter – und hinter die Fassaden der Persönlichkeitsstruktur befördern. Als künstlerische Technik des Abtragens von Scheinidentitäten und Verkrümmungen, von längst verhärtetem Narbengewebe aus der Frühgeschichte unseres eigentlichen Lebenwollens im Bauch der Welt.

Erosionen Schicht 1Mir drängt sich da der Vergleich mit der Bildhauerei auf, von der gesagt wird, dass der Künstler die fertige Skulptur schon von Anfang an im Werkstück erkennt – und sie dann Schicht für Schicht freilegt. Was uns die Kreuzigungsgruppe des genialen Alfred Hrdlicka über die erodierenden Wertvorstellungen des “christlichen Abendlands” zu erzählen vermag, das erschließt sich bei wiederkehrender Betrachtung. Noch dazu im aktuell veränderten Kontext, im Bühnenbild der Bauwirtschaft nebst der ihr innewohnenden Religion vom immerwährenden Wachstum. Zum Vergleich hier die etwas älteren Aufnahmen aus unserem Artikel “Auf den Kopf geschissen” – und das mag jetzt durchaus mehr als nur eine inhaltliche Assoziation hervorrufen! Wir haben unseren Pasolini aufmerksam gelesen (speziell die Freibeuterschriften, in denen er die Zerstörung der Kultur durch den globalen Konsumismus vorhersagt). Auch wir wollen nicht davon ablassen, Schicht für Schicht immer tiefer zu tauchen.

Erosionen Schicht 2Dabei mögen verstörende Bilder in uns empor drängen: Leichname, zerstückelte Figuren, erodierte Bruchstückmenschen einstiger Ganzheit, umherirrende Untote und uns verschlingen wollende Abgründe. Wir befinden uns im Reich der Phantasie (es ist nicht von dieser Welt – oder womöglich doch?). Wenn einer eine Reise tut (zum Mittelpunkt der Welt, die das Selbst bedeutet), dann kann er oder er/sie/es was erleben, das könnt ihr uns jetzt glauben – oder auch nicht oder was auch immer. Letztendlich sind wir alle unentrinnbar der Erosion des Lebens (wir sprechen von Vergänglichkeit und Tod) ausgeliefert. Nichtsdestotrotz sind wir alle auch aktive Künstler, die ihre erosiven Techniken anwenden und Schicht für Schicht freilegen, was da dahinter und da darunter noch verborgen ist – von dem wir allerdings wissen, dass es da ist und dass es zum Vorschein und ans Licht der Welt kommt, indem wir an seiner Gestaltwerdung arbeiten. Es ist ein künstlerisches Wissen um das Bild

Erosionen Schicht 3In dieser Hinsicht stimmt der Satz von Joseph Beuys “Jeder Mensch ist ein Künstler” vollkommen. Sich aus der eigenen Überlebenskunst einen Reim aufs Leben an sich und über sich hinaus machen – oder wie Viktor Frankl das ausgedrückt hat: “trotzdem Ja zum Leben sagen.” Und die Kunstschaffenden? Was ist der Sinn ihrer Sinnsuche in sich und über sich hinaus? Egal ob mit Klängen, Gesängen, Gedanken, Gedichten, Bilderwelten, Bilderfluten, Sinnzusammenhängen – es ist ein Vorbereit auf das in uns Schlummernde, ein Dargebot innerer Begegnung mit uns selbst und ein Anschubs zum Aufbruch – in das, was war, was ist und was sein wird – und in das dahinter. Darunter und darüber hinaus. Damals, dann – und dazwischen. Nichts ist langweiliger, öder und trostloser als wenn alles so bleibt, wie es ist. Kunnst (hier als “Kunst der Phantasie”) ist doch genauso unverzichtbar wie Luft – und Atmen. Kunnst dir mehr vorstellen als du dir vorstellen kannst? Und du kunnst das echt erleben

Wir wünschen Gute Reise!

 

Weltzeit zum Totschlagen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. OktoberHerzlich wir kommen zur akuten Zeitverwandlung. Aus fünf mach vier. Schwuppdiwupp. Und Puff. Die synchronisierte Weltzeit ist hierzulande wieder einmal in den Winterbetrieb gehopst. Und auch wenn die allermeisten Uhren sich wie von Zauberhand selbst umgestellt haben, so kollidiert “die offizielle Zeit” doch merkbar mit manch anderer Zeitebene, die sich naturgemäß jeder amtlichen Vorschreibung entzieht. Seit der Erfindung des Eisenbahnfahrplans müht Mensch sich herum, seine “innere Uhr” mit allerlei äußeren Abläufen in Einklang zu bringen. Und dabei quietscht, scheppert und knirscht es im biologischen System, dass einem ganz unheimlich zumute wird. Mensch ärgert sich und will sich dagegen wehren – und bleibt doch meist mit seinem Jetlag wie betäubt in der Schulbank sitzen.

Tocotronic - Weltzeit rot weiß rotUnd so gestalten wir diesmal ein Stimmungsbild zwischen die Zeiten, wobei uns vieles zum Totscheißen ärgerlich erscheint, wir uns aber oft gar nicht fragen trauen, weil man das nicht darf. Nichtsdestotrotz entkommen wir der Weltzeit samt ihren Grausligkeiten auch wieder, indem wir uns anderen Zeitebenen öffnen, etwa mit diesen Herren vor diesem (un)zufällig rotweißroten Hintervordergrund. Alles Liebe zum Tag der österreichischen Unschuld! Wer nicht gelegentlich aus der aufgepfropften Chronologie der Weltzeit aussteigt und andere, eigene Zeiten für sich entdeckt, bleibt der verursachten Weltgeschichte ausgeliefert, und das ist ganz schön trostlos – und gefährlich. Die Geschichte von Predrag Pašić sei hierfür als Beispiel erzählt: Der ehemalige jugoslawische Nationalspieler betrieb während des blutigen Bürgerkriegs in Sarajevo eine Fußballschule für Kinder, die ausdrücklich alle Volksgruppen (Serben, Kroaten und bosnische Muslime) ansprach und den Kids ein tägliches Entkommen aus dem Krieg und in den Flow ermöglichte.

Auch wenn der Zeitgeist des globalen Konsumismus (danke, Edward Bernays, du USArschloch) es immer schwieriger macht, unsere verschiedenen Innenweltzeiten mit den ständig mehr werdenden Außenweltnotwendigkeiten und Terminen in Einklang zu bringen, so geben wir dennoch unsere Versuche nicht auf, mit allen Gefühlen und Bedürfnissen und Kindern und Tieren ….. in unserer gemeinsamen Welt zu leben. Auch an jedem verdammten Sonntag um 17:06 Uhr – denn siehe: Der Anfang ist nah!

So fest steht viel.

 

Zusammenhang

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. Oktober“In the blood of Eden lie the woman and the man with the man in the woman and the woman in the man.” Den gleichnamigen Peter-Gabriel-Song hören wir am Anfang in der Interpretation von Regina Spektor. Frau und Mann – wo ist der Zusammenhang? Womöglich wird etwas von unserer gemeinsamen Menschverwandtschaft in uns selbst deutlich, wenn wir erleben, wie verschiedene Frauen Songs covern, die ursprünglich von Männern komponiert, getextet und vorgetragen wurden. Wie etwa das von R.E.M. stammende “The one I love” in einer beachtlichen Version von Widowspeak oder aber der Jimi-Hendrix-Klassiker “Hey Joe” in der Verbearbeitung von Charlotte Gainsbourg. Unter der Oberfläche unseres Gewohntseins lauern viele Seelen.

ZusammenhangWar es nicht C. G. Jung, dessen Archetypen Animus und Anima einen schönen (und naturgemäß weiterzudenkenden) Entwurf zum Verständnis der innerseelischen Wechselwirkungen vorstellte? “Jung betonte, dass Animus und Anima, wie alle Archetypen, von sich aus günstige und ungünstige, helle und dunkle, gute und böse Wirkungen entfalten.“ Ja, da schau her. Wie dämlich wirken dagegen die plumpen Versuche, uns ein stereotyp eindimensionales Mann/Frau/Selbstbild aufpfropfen und ins Bewusstsein schwindeln zu wollen. Der Mensch stirbt innerlich ab, er/sie/es geht an innerer Langeweile und Bewegungslosigkeit zugrunde, wenn die wildgewordenen Psychobrachialmechaniker versuchen, uns davon zu befreien, was ihnen oder sonstwem Angst macht. Die perversen Auswüchse solcher Umtriebe auf ganze Gesellschaften beleuchtet die Dokumentation “The Century of the Self 2” Warnhinweis in unser aller eigenster Sache: Menschen sind kein Industrieprodukt!

Der Mensch stirbt vor Schreck, wenn er plötzlich erkennt, dass er die Hälfte seines inneren Wesens erfolgreich ausgerottet hat. Der Mensch kann aber durchaus auch mit dieser anderen Hälfte in sich zusammen wirken und sich dergestalt auf jenes unendliche Abenteuer einlassen, das in den interessanteren Kreisen gemeinhin das Leben genannt wird. Hören wir hierzu das Punk-Duett von NOFX und Sarah Sandin bei “Lori Meyers” sowie Käptn Pengs hip-hopoide Würdigung zweier Menschen, die sich in Füchse verwandeln – und was danach geschah – in “Sie mögen sich”.

“Frau und Mann, aus und an, schau dich an, du bist der Zusammenhang …”

Wir hängen zusammen

 

Aphrodite’s Child – 666 (Album)

> Sendung(en) allhier nachzuhören: Aphrodite’s Child 666 (das ganze Album) sowie Aphrodite’s Child & Peter Gabriel (von der Apokalypse hin zur Passion)

Artarium vom Sonntag, 16. Oktober (von 16:00 bis 18:00 Uhr): Wer kann die Zahl des Tieres verstehen? In der Apokalypse/Offenbarung des Johannes, dem letzten Buch der Bibel, wird sie als 666 (sechshundertsechsundsechzig) bezeichnet. Und die möglichen Deutungen sind – Rabimmel Rabammel – zum schwindligwerden zahllos und seltsam. Die griechische Rockband Aphrodite’s Child hat das biblische Buch als Ausgangspunkt für ihr legendäres Album 666 ausgewählt – und daraus vor über 50 Jahren (Juhubiläum!) ein psychoakustisches Kopftheater erzeugt, dass es einem noch heute sämtliche Bedeutungsebenen durcheinander schiebt. Nun bringen wir das zeitlose Meisterwerk, das wir unlängst in Ausschnitten betrachtet haben, auf vielfachen Wunsch in seiner ganzen Gesamtheit zu Gehör. Daher die Doppelstunde.

Aphrodite's Child 666 Album CoverAnschließend an das überlange Konzeptdoppelalbum mit seinen ca. 79 Minuten Laufzeit werden wir auch wieder auf die Verfilmung von “Die letzte Versuchung” mit dem genialen Soundtrack “Passion” von Peter Gabriel zu sprechen kommen, allerdings diesmal mit ausführlichen Klangbeispielen, ganz im Sinn der Beobachtung “Wenn Griechen sich an biblischen Themen abarbeiten…” sowie der daraus erwachsenden Möglichkeiten zum Selberdenken. Nikos Katzanzakis beschrieb sein Romanprojekt als “den mühevollen Versuch, Christus leibhaftig darzustellen, ohne die Verdunklungen, Verfälschungen und Unwichtigkeiten, mit denen er von den Kirchen und Kuttenträgern ….. entstellt wurde”. Das hat ihm noch posthum die Verweigerung seines Friedhofsbegräbnisses durch die griechisch-orthodoxe Kirche eingebracht, und die römisch-katholische setzte sein Buch 1954 auf den dazumals noch bestehenden Index der verbotenen Bücher. Jössas! Unser Prädikat: Unbedingt lesenswert. Und vor allem anregend – zur längst überfälligen Entzauberung des Kindes, das man nicht mit dem Bad ausschütten muss.

Peter Gabriel Passion Album“Das bunte Kind, es grinst aus deinem Inneren, ist immer noch zu jedem Mist bereit …” So heißt es in “Die Phantasie wird siegen” von Max Prosa. Die wilde Schaffenslust der vor der damaligen griechischen Militärdiktatur reißaus nehmenden Künstler_innen, die hinter der Entstehung des Kultalbums 666 stecken, ist hier beispielgebend dokumentiert. Erstaunlich dabei ist vor allem, dass Textdichter und Konzeptentwickler Costas Ferris schon damals eine Projektidee mit dem Titel “Passion” in Arbeit hatte, die dann wegen des Erscheinens von “Jesus Christ Superstar” zurückgestellt wurde. “Da hat wider einer seinen Katzanzakis gelesen”, denk ich mir, und: “So treffen sich die roten Fäden all der schöpferischen Ideen – naturgemäß.” Wie dem auch sei, auch wir glauben an den Zusammenhang hinter dem Anscheinenden und empfehlen dazu Übungen in Phantasie. Sagen wirs einmal ohne Krieg, jenseits von Gut und Böse: Die Phantasie wird siegen – und die Realität wird vergehen – ganz einfach so …

 

Übungen in Phantasie

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. OktoberIch bin stolz, ein Hase zu sein. Und darauf, zu den drei Hasen zu gehören. Wer da jetzt “der dritte im Bund” ist, ist nicht nach den Maßstäben der Wettbewerbswelt zu beurteilen, in der es immer ums “Erstersein” geht – auf Kosten aller anderen. Was beim Downhill-Racing der Wichtigtümer funktioniert, würde jeden Hasentanz sofort aus dem Gleichgewicht werfen. So verdanken wir dem tapferen Christoph, der unsere Welt erst zu “Dreierlei Hasen in frischer Bewegung” abgerundet hat, eine bedenkenswerte Überlegung zu der Frage: “Was ist eigentlich Phantasie?” (wie sie in “Palmen Unter” gestellt wird). Nämlich, dass sich im “Vorstellungsvermögen” eher die Imagination von Erlebtem und in der realen Welt Möglichem abspielt – wohingegen aber in der “Phantasie”

Übungen in Phantasie unsere Imagination vornehmlich surreale Bilder verarbeitet, wie sie unter Außerachtlassung von Natur- und sonstigen Gesetzen in unseren Träumen vorkommen. Wohl nicht ganz zufällig ist bei dem, was da jenseits der Realität entsteht, oft auch von “Visionen” die Rede, von “anderen Welten” und auch von “übersinnlichen Erfahrungen”. Wie wirklich aber sind diese “anderen Wirklichkeiten”, von denen wir auf jeden Fall wissen, dass sie überaus wirksam sein können? Sie als Kinderkram und Phantastereien abzutun, wie das in der “einzig wahren realen Welt” aller von Herrschaft und Unterdrückung geprägten Gesellschaften leider allzuoft vorkommt, kann offenbar nicht die Lösung sein. Einerseits hört man Sätze wie: “Sie sind ja ein Phantast.” oder “Sie leiden an Realitätsverlust.”, die eine öffentliche Entmündigung der Angesprochenen bedeuten,

Übungen in Phantasieandererseits ist das kommerzielle Internet übervoll mit Angeboten zur Phantasieschulung, um mit diesem “Selbstoptimierungswerkzeug” andere erfolgreicher übertrumpfen zu können. Bin ich blöd – wenn ich hier einen eklatanten Widerspruch erkenne? Wütet hier der Weltkrieg zwischen Phantasie und Realität? Muss ich mich da für eine Seite entscheiden oder gibt es die Möglichkeit einer Versöhnung dieser zwei Gegensätze? Wo ist der dritte Hase, wenn der Tanz blockiert? Fragen über Fragen, die den Untertitel mehr denn je bewahrheiten: “Musikliterarische Gefühlsweltreise mit tiefgründigen Themen.” Und so wollen wir ein paar Bewegungsübungen erleben, die die Phantasie kräftigen – zur Selbstbestimmung, zur Selbsterhaltung – und durchaus zur Selbstverteidigung: Denn wem die Phantasie vergeht, den springt die Realität an – und frisst ihn auf.

Übungen in PhantasieEs ist ein wohlgemerkter Denk- und Arbeitskniff, wie oben angeregt, die Imaginationen in Vorstellung und Phantasie zu unterscheiden. Es hilft beim “geistig in Bewegung bleiben”, doch soll nicht unerwähnt sein, dass es eine synonyme Schnittmenge der Begrifflichkeiten gibt, in welcher eins ins andere übergeht – und diese Übergänge zudem noch fließend sind, bewegt, veränderlich – und schlicht nicht dingfest zu machen in irgendeiner Definition. Im besten Fall begegnet uns das Lebendige. Wie auch in verfremdeten Texten oder in vielschichtiger Musik. Wie in ambivalenten Stimmungen – und überhaupt in einem “offenen Ende”. Womit wir inmitten unserer Übungen angelangt wären – oder wer kann den Verlauf seines/ihres Lebens durch wasauchimmer vorherbestimmen? Eben. Besser in Bewegung bleibendamits nicht so quietscht wenns gwetzt wird …

Der Ernst des Lebens muss nämlich auch lustig sein.