Menschliche Geschichten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. November“Geldsäckulum, gstinkerts!” Dieses Wort von Uwe Dick eignet sich trefflich als Motto für ein weiteres Jahrhundert des “Ökonomischen Diktats”. Oder für eine Fußballweltmeisterschaft, die unter den widerlichsten Machtzwängen absolutistischer Geldherrschaft zustande gekommen wurde. “Massenblödien, Quasselödien, Kassenschmähdien!”, ruft Uwe Dick in den aktualitätsfixierten Mediendschungel. Der letzte deutsche Fußballtrainer, der sich noch traut, in Interviews plötzlich menschliche Geschichten anzusprechen, meint dazu: “Wenn du auf die Welt schaust, was für Wahnsinnige da überall an der Regierung sind, und wie sie sich die Taschen voll machen – das ist halt teilweise im Fußball auch so. Das ist unser großes Problem, das wir gesellschaftlich haben.” Christian Streich

Menschliche GeschichtenReisen wir in die Vergangenheit (die Fotos vom “Weltmeisterzug” hat die Grupa Szukająca Włazu bereitgestellt) und schauen wir uns im Jahr 1954 um, als die deutschen Nationalspieler für die Dauer ihrer WM-Teilnahme Verdienstentgang bezahlt bekamen und sonst nichts. Sönke Wortmann hat 2003 einen Spielfilm über das “Wunder von Bern” gedreht, der zunächst wie ein flachlustig rührseliges Heldenepos daher kommt, auf den zweiten Blick (oder für das entsprechende Feingefühl) aber auch eine ganz andere Geschichte erzählt. Der eigentliche Held ist nämlich der 11-jährige Matthias, der stellvertretend für uns alle die Folgeschäden und Traumatisierungen in Nachkriegsdeutschland erleidet. Doch Sönke Wortmann gelingt es, sämtliche Gefahren und Bedrohlichkeiten durch “wundersame Wendungen” dahingehend umzudichten, dass er eigentlich jenes Wunder erzählt, wie eine “Heilung der Vergangenheit” tatsächlich stattfinden kann.

Brita Steinwendtner wählt wiederum einen anderen Weg, um die Geschichten, die uns Dichter*innen erzählen, mit deren Lebensgeschichte in Verbindung zu bringen und sie dergestalt zu “verlebendigen”, also auch für uns Nachgeborene erlebbar – und somit wirksam zu machen. Im neuen Band “An den Gestaden des Wortes” aus ihrer Reihe “Dichterlandschaften” reist sie nicht nur durch die Zeit, sondern auch zu den Orten, wo sich deren Wirklichkeit, Imagination und Inspiration mit einander verbunden haben – und sie lädt uns ein, mit ihr auf eine magische Reise zu gehen.

Geschichte mit Gefühl nachvollziehbar zu machen, das verwandelt Geschichte in zutiefst menschliche Geschichten.

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

Flasch

 

Lyrik und Jazz: Heinrich Heine

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 13. November – Die Welt des Jazz ist unendlich vielfältig, und das lässt sich auch dann begreifen, wenn man nur wenig davon gesehen hat. Eigentlich gehört. Oder erlebt. Mitgemacht. Aigentlich Jazz war zum Beispiel so eine Veranstaltungsreihe (im Vogl & Co. in der Aignerstraße), bei der Livemusik und Livelesung ineinander übergingen. Ein Höhepunkt der Verbindung von Lyrik und Jazz war die gleichnamige Schallplattenreihe, die Joachim Ernst Behrendt (hier sei an Hesse Between Music erinnert) in den 60er Jahren herausgebraucht hat. Und der multiple Orgasmus dabei war das Livezusammenspiel von Rezitator Gert Westphal mit einem hochkarätigen Jazzensemble um Attila Zoller auf dem Album “Lyrik und Jazz: Heinrich Heine”, welches wir hier und heute zu Gehörund Gespür – bringen.

Lyrik und Jazz - Heinrich HeineDie ausgewählten Texte, die dabei in kongenialster Weise gemeinsam improvisiert/interpretiert werden, spiegeln das Gesamtwerk “eines der bedeutendsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts” wieder – und retten so seine Gedankenwelt vor dem Einreduziertwerden, wie das die kommerzielle Resteverwertung der Untenhaltungsindustrie heute nur allzu gern betreibt: “Fickificki und dann abkassieren.” Heine ist viel mehr als der heteronormative Frauenheld, zu dem er von allerlei billigen Sex-Sells-Verwurstern gern heruntergestuft wird, damit das Geldi im Kassi blingbling, ihr Pimperantokasperln! Auf diesem Album sind seine Einlassungen zu Freiheit und Revolution, Weltschmerz und Philosophie, Religion und Sklaverei, Diesseits und Jenseits und ….. zu hören, emotional legendär vorgeführt von Gert Westphal in lebhafter Interaktion mit dem Attila Zoller Quartett und Stella Banks. Dabei lösen sich die Grenzen zwischen dem Geplanten und dem spontan Inspirierten ins nicht mehr Nachvollziehbare auf, was wohl dem entspricht, was Behrendt als “die politische Brisanz des Jazz” bezeichnet.

Es ist das Unverfügbare der Improvisation, das zwischen Partitur und Aufführung flirrt, oszilliert und schweben bleibt, das erst im Ungreifbaren so richtig begreifbar wird. Es war auch das zunehmende Schwinden dieses angewandten Paradoxons in den seit den 70er Jahren auf “Schönheit und Gefälligkeit beim breiten Publikum” abzielenden Spielarten des Jazz, die der Radiopionier letztendlich vermehrt beklagte. Es ist aber genau dieser offene Raum im Zwischen, der die Phantasie anregt und uns Menschen als schöpferische Wesen jenseits des Konsumtrotteltums bewahrt.

Deshalb wird er auch immer wesentlich bleiben – egal in welcher Darreichungsform, ob beim Lesen oder in der Musik, beim gemeinsamen Denken, Fühlen, Reden, bei der Gestaltung von Lebenswelt, Kunstwerk, Sexualität. Ohne das Zwischen bleiben wir anfällig für die Fremdwunscheinpflanzung. Sind wir reduziert aufs Funktionieren. Fressen, Ficken, Fernsehschaun. Dazwischen hackeln. Und sein es doch wahrlich zum totscheißen! Knöpfchen drücken, runterspülen, fertig. Dazu muss man sagen:

That’s not how the light gets in …

Wiewohl, in dieser schönen Würdigung zur Neuauflage als CD heißt es: “Aus dem Blaublümelein wird Blausäure gepresst – so drückte es damals Gert Westphal aus.”

 

Opium für das Volk

Es ist Krieg in der Ukraine und wir wollen die Menschen jenseits von Kriegsrhetorik und Propaganda wahrnehmen. Denn was uns auf fast allen Kanälen täglich erreicht, das enthält Szenen, die unser sittliches Empfinden verletzen. Mindestens. Deshalb haben wir uns von Anfang dieses Irrsinns an auf den Weg gemacht (innerlich, denn äußerlich ist es uns schlicht nicht möglich), den Menschen zu begegnen, die nicht der jeweiligen Staatsmacht blindwütig hinterher applaudieren. Satiriker, Künstler aus dem Untergrund, Dissidenten. “Wenn du wirklich etwas über die Menschen in einem Land erfahren willst, das du nicht kennst, dann frag die Leidenden und die Verfolgten.” Oder versuch, das Widerständige und das Nichtangepasste im Leben jener zu entdecken, die sich durch verordnetes “Opium für alle” nicht vom Lebendigsein abhalten lassen.

Opium für das Volk“Die Ukraine,” erklärt ein gewisser Herr Putin, “war immer schon ein Teil Russlands.” Und er meint auch: “Der Zerfall der Sowjetunion ist die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts.” Echt jetzt? Dafür haben wir damals Löcher in den “eisernen Vorhang” gemacht, dass jetzt mit einem “neuen kalten Krieg” wieder die alten Geschäfte betrieben werden können? Dafür haben wir von der Stasi verfolgte Jugendliche, die einfach nur frei denken und reden wollten, unter Lebensgefahr bei ihrer Flucht unterstützt, dass jetzt irgend so ein abgehalfterter Geheimagent aus dem Misthaufen der Geschichte hervor quillt und in die Ukraine einmarschiert – so wie einst Lenin mit seinen roten Garden? Hab ich was nicht mitgekriegt – oder stehen auf einmal die Grenzverschiebungen des Ersten Weltkriegs wieder zur Disposition? Na, dann auf nach Duino und Triest, die Adria war eh schon immer die Krim Österreichs. Oida! Lernens Geschichte, Herr Putin. Wir tun das ja schließlich auch hier …

Apropos Lenin, dessen Rückkehr nach Russland (aus der Schweiz) während des Ersten Weltkriegs war vom Deutschen Kaiserreich betrieben worden und führte nach der Oktoberrevolution genannten Machtergreifung der Bolschewiki zum “Frieden von Brest-Litowsk”, in welchem das inzwischen sowjetisch gewordene Russland auch die Eigenstaatlichkeit der Ukraine anerkannte. Dort war die anarchistisch geprägte “Machnowschtschina” mit der Selbstverwaltung der befreiten Gebiete beschäftigt, die allerdings schon bald von der Roten Armee unter Trotzki vollends zerstört wurden.

Ein Zentrum der Bewegung um Nestor Machno war die Stadt Mariupol. Hab ich grad ein völlig aus der Zeit gefallenes Déjà-vu? Ein bizarr psychotisches Flashback aus einer Zeit vor meiner Zeit? Herr Putin ist entweder ein Hasskasper oder er leidet an einer neuen Form der schleichenden Schizophrenie. Holt Hilfe! Wo steckt eigentlich diese Gretel, wenn man sie schon einmal so dringend braucht? KGB bleibt KGB und das Volksvermögen mit Hilfe von alten (und neuen) Seilschaften an sich bringen ist ein uralter Taschenspielertrick aller Kommunisten, Kapitalisten und Orthodoxen.

Und die Kunst? Unsere Sendungen? Die sprichwörtlich gewordenen Perlen, nach denen wir alldieweil tauchen? Nun, der Historiker Rainer Mausfeld verrät etwa, wie “Demokratie” von den Herrschenden immer nur in dem Ausmaß “gewährt” wird, in dem die Kosten der Repression nicht mehr bezahlbar sind. So ist die Frage “Was kostet das Opium für das Volk?” an jeden Betreiber von “Putimkinschen Dörfern” (oder anderen Fassaden) zu richten. Und der Name des Geschichtslehrers, den der jetzige ukrainische Präsident in “Diener des Volkes” verkörpert, ist ein vielsagender:

Wassyl Holoborodko ist tatsächlich ein ukrainischer Dichter, der zu Sowjetzeiten verboten war, weil er sich weigerte, mit dem KGB “zusammen zu arbeiten” – also seine Kolleg*innen zu bespitzeln und zu verraten. Dieser Code funktioniert nicht nur in der Ukraine – er würde auch in Russland funktionieren. Genau davor fürchtet sich dieser … Wer Gedichte verbietet, ist uns zutiefst zuwider! Zumindest aber ist er ein Soziopath und, um es mit Gunkl auszudrücken: “Den dürfts ned einsperren, den müssts wegsperren! Weil den darf man nimmer unter die Leut lassen …”

Dann ist noch Hoffnung.

 

Unter der Oberfläche

Artarium am Sonntag, 12. Dezember um 17:00 Uhr – Nach all dem Zeitlosen in der Musik spielen wir diesmal ein weitgehend verschollenes Album, dem man die Zeit seiner Entstehung durchaus anhört, nämlich Unter der Oberfläche von Hans Koval aus dem Jahr 1986. Mir widerfuhr sein als LP auf schwarzem Vinyl gepresstes Werk Mitte der 90er durch einen Flohmarkt in der legendären Käfergrabenmühle (deren Hausvater Bernhard Samitz vulgo Bez wir bereits eine Sendung widmeten und der danach auch einen schönen Roman von Brita Steinwendtner inspirierte). Dass wir dieses Zeitdokument gerade jetzt wieder ausgraben und zu Gehör bringen, hängt mit den Umständen seiner Entstehung zusammen – und mit dem, was es in unsere Gegenwart hinein berichtet, wenn wir es aus seinem Kontext heraus verstehen

Unter der OberflächeSeit Mitte der 70er war das Duo Koval & Klingenbrunner in der Tradition kritischer Liedermacher unterwegs und begleitete so die Generation der Hoffnungsvollen und Verändernwollenden durch eine sich abzeichnende Endzeit des grenzenlosen Wachstums. Zwentendorf, Hainburg und die Katastrophe von Tschernobyl schienen “letzte Warnungen” zu sein, die ein globales Umdenken und Umsteuern erfordern würden, um dem Untergang zu entgehen. Doch hat sich seit damals wirklich Entscheidendes geändert? Haben also Naturzerstörung, Ressourcenraubbau, die Ausbeutung von Mensch und Tier, Meinungsmanipulation durch Massenmedien, kurz, die Zerbraucherung unser aller Leben durch die jeweiligen Beherrscher, die von Geldes Gnaden Kaiser von Hinterfotz und St. Nimmerlein, plötzlich aufgehört? Oder wenigstens nachgelassen? Ganz im Gegentum! Jetzt auch in türkis und mit Klimawandel. Immer noch schneller, noch mehr, noch rücksichtsloser. Und mitten im neualten Weltgedümmel taucht Hans Koval mit Band wieder auf – prophetisch.

Mit verschiedenen musikalischen Stilmitteln wie (damals) radiotauglichen Balladen, Anleihen aus Folk- und Volksmusik, geerdet fettigem Blues-Rock oder satirischen Couplets gelingt ihm eine sympathische Synthese aus persönlicher Hinterfragung und Kritik an den Verhältnissen. Eine Sicht auf die erschreckenden Entwicklungen mit genau dem Sowohl-als-auch, das wir in der heutigen “gespaltenen Gesellschaft” so schmerzlich vermissen. Und genau das wäre auch eine der Botschaften aus der damaligen “Zeit des Umbruchs”, die wir uns im Heute zu Herzen nehmen könnten.

“Wissen sie, warum es diese sozialen Medien gibt? Die Menschen halten es nicht aus, still zu sein, wenn es nichts mehr zu sagen gibt.” Ferdinand von Schirach (Glauben)

 

Lass fahren dahin …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. Oktober“Lass fahren dahin, sie haben’s kein’ Gewinn …” Diese Textzeile aus Martin Luthers berühmtem Lied Ein feste Burg fand ich schon in der Pubertät höchst erquieklich, zumal ich sie damals nicht ungern mit fahren gelassenem Darmwind assoziierte. Heute vor 500 Jahren allerdings saß dieser Martin Luther auf der Wartburg – und übersetzte die Bibel auf Deutsch. Das war, bei allen Verdauungsproblemen, die diesen Mann täglich plagten, revolutionär. Und es hätte der Anfang von etwas zutiefst Befreiendem sein können, wenn seine Übersetzung als ein erster Anstoß zum eigenverantwortlichen Interpretieren durch jeden einzelnen Menschen aufgefasst worden wäre. Stattdessen entstand wiederum eine “Volkskirche”, die schon bald in ihren, jetzt halt “reformierten” Ritualen ertrank.

Lass fahren dahinEin fester Schas sozusagen, denn für die Aufgaben, die das globale Leben uns seitdem stellt, ist eine zum Gehorsam gezüchtete, alles Vorgesagte brav nachplappernde Bevölkerung völlig unqualifiziert. Wir hätten 500 Jahre Zeit gehabt, eine andere Menschheit zu werden als diese niederduckmäuserische, konsumverwirrte, überwältigend vermarktbare, die wir inzwischen sind. Ich halte “die Reformation” deshalb auch für gescheitert – und hätte nur allzu gern zu ihrem Jubiläumsfest 2017 “die 95 Prothesen” zu Fuß nach Wittenberg getragen, um dies zu veranschaulichen. Doch viele der Miterfinder dieser zutiefst “protestantischen” Aktion hatten sich über die Jahre verlaufen und “die 95 Prothesen” wären mir allein viel zu schwer gewesen. Ein grandioses Scheitern für eine gescheiterte Reformation? Lass fahren dahin… Der Weg ist der Weg. Das Ziel kennen wir nicht. Es geht ums Übersetzen unserer jeweils eigenen Erfahrung mit dem Lebendigen, mit dem, was hinter allem steckt.

Es geht um “vertikale Resonanz”, wie sie der Leiter des Max-Weber-Kollegs an der Universität Erfurt, Prof. Hartmut Rosa, in seiner “Soziologie der Weltbeziehung” darstellt. Ein genialer Übersetzer des oft Unbemerkten (für das wir als Menschen nichtsdestoweniger so etwas wie einen Sinn haben) ins allgemein Anschauliche (und das sei hier als unsere Auffassung angemerkt) als eine Einladung zum selbst weiter Denken, Leben und Interpretieren, zum übersetzenden Darleben in immer wieder neuer, eigener Gestalt – um jegliche Erkenntnis stets weiter zu entwickeln.

Und jetzt ist es für mich unvermeidbar, auf einen gewissen Jesus hinzuweisen – und auf Michael Köhlmeier, der mit seinem Erzählalbum “Der Menschensohn” ein wirklich herausragendes Beispiel für ein rundum gelungenes und im obigen Sinn stets weiter wirkendes, also lebendiges, gelingendes Übersetzen vorgelegt hat. Wir hören die bekannte Episode mit der Ehebrecherin, die zwar gesteinigt werden soll, aber aufgrund von Jesus’ legendärem Ausspruch “Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein…” gründlich befreit und begnadigt wird. Ich tauche auf.

 

Paternosterreich

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. Oktober“Österreich ist frei!” Das soll er gesagt haben, der Leopold Figl. Und abends im Zwölf Apostelkeller, da soll er auch schon mal gekifft haben (hat Hans-Georg Behr erzählt). “Wir freuen uns alle …”, hat die Lehrerin in der Volksschule gesagt, und wir “durften” uns rotweißrote Fähnchen basteln für den nationalen Feiertag. Wir lernten “Heimat bist du großer Söhne” singen, die Dichterin der Hymne hat die Töchter natürlich damals schon “mitgemeint”. Der eine oder die andere hat durchaus versucht, hinter die verordnete Volksfreude und Glückseligkeit zu schauen im Land der vielen Vaterunser, diesem Paternosterreich. “Auffe, owe, auffe, owe …” Wer soll sich da noch auskennen? Besinnen wir uns aufs Wesentliche, nämlich aufs Essen. Bereiten wir uns einen festlichen Ohrenschmaus!

PaternosterreichEin mehrgängiges Menü mit Musik, dessen Zutaten immerhin einige der große Söhne und Töchter unserer schon sehr speziellen Weltgegend sind. Als Ohrspeise (amuse geule) ein Pasticcio aus Elfriede Jelinek “Oh du mein Österreich! Da bist du ja wieder!” und Ernst Molden sowie Der Nino aus Wien mit ihrer Würdigung an Wolfgang Ambros “Wie wird des weitergehn?” nebst der bekannten Gewürzmischung aus den üblichen Artarium-Signations, serviert mit etwas Lukas Resetarits.

Um vorab nicht zuviel zu verraten, denn es ist eine hohe Kunst, die jeweiligen Zutaten auszuwählen, ihrem Eigengeschmack entsprechend aufzubereiten, sie zu einander in Beziehung zu bringen und sie sodann in bekömmlicher Aufeinanderfolge auftreten zu lassen, um also vorab nicht allzuviel auszuplaudern, wollen wir hier nur die weiteren Ingredienzien und Spezereyen anführen, aus denen wir dies Festmahl zur Feier des Feierns zubereiten, und die in ihrer Gesamtheit den berühmten “roten Faden” durch das Thema der Sendung ergeben (oder halt auch mehrere) – hören sie genau Hirn:

So der jahrelang in vielen Gassen hansdampfende Musiker, Autor und Filmemacher Peter J. Gnad, dessen Frage “Wie lange noch?” unsere “Insel der Seligen” wieder in den globalen Kontext befördert, in dem sie sich schließlich – ungeachtet jeglicher Mehlspeisromantik – doch befindet. Oder der durchaus berühmte Schriftsteller und Mythenerzähler Michael Köhlmeier, der sein jüngst erschienenes Trumm von einem Roman höchstselbst als über 40-stündiges Hörbuch eingelesen hat, dessen Rolle als “Gewissen der Nation” ihm allerdings weit weniger Ruhm einbringt. Große Söhne…

Große Töchter! Sandra Kreisler, Dreifachstaatsbürgerin (Deutschland, Österreich, USA) und Tochter des großen Sohnes Georg Kreisler (ein Wiener, der seine von den Nazis aberkannte Staatsbürgerschaft nie wieder zurück bekam und, fast möchte man sagen zufleiß, in Salzburg starb). Sie ist engagierte Verfechterin jüdischen Lebens und jüdischer Kultur und stilsichere Interpretin der genialen Lieder ihres Vaters, die wir bekanntlich sehr schätzen. Als Sängerin von Wortfront gibt sie die “Klofrau vom Kanzleramt”. Im Paternosterreich gehts halt auch “auffe, owe, auffe, owe…”

Das obligatorisch Regionale wird bei uns heute verkörpert von Wilfried “Lauf Hase Lauf” sowie von Fritz Messner und den Querschlägern “Da tamische Franz”, denn auch (und vor allem) in der “Heimat” gibt es Gründe genug, seine “Füße in die Hand zu nehmen” und sich “an den äußersten Rand der Mehrheizgesellschaft zu verziehen”. Wir haben immer schon unser besonderes Augenmerk auf all das Verdrängte und Verleugnete rings um uns gerichtet, auf all das in Menschen- wie in Gefühlsgestalt Abgelehnte, Abgewertete, Ausgestoßene. DAS fehlt nämlich zum großen Ganzen.

Aber gehört sich das – ausgerechnet am verordneten Feiertag? Was sagt denn der Sepp Forcher dazu? Ach so – na ja – dann sind wir doch wieder beruhigt …

Und Mahlzeit!

 

Ein fester Festspielflash

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. August – Seit inzwischen 101 Jahren sind “die Festspiele” ein fester Bestandteil des Salzburger Selbstbilds. “Die ganze Stadt ist Bühne”, soll einer ihrer altvorderen Gründer einmal gesagt haben. Fest, fester, am festspielsten. Nun, wenn alles ein einziges Theater ist (und noch dazu auf höchstem Niveau), welches Stück wird da gegeben? Jahr für Jahr für Jahr wird vom “Sterben des reichen Mannes” erzählt – wo ist das “Leben der armen Leute” in eurer Selbst-Inszenierung? Die werden seit der Erfindung des großen Welttheaters in der kleinen Provinzhauptstadt mit Lebensmitteln aus Wien beschwichtigt – und dürfen heutzutage als mehr oder weniger freundliche Volksdarsteller auf Umwegen rentabel sein. “Die Festspiele sind für uns ein Reibebaum, und wir sind die Sau, die sich an ihnen reibt.”

Ein fester FestspielflashDenn einerseits wird hier wirklich erhellendes Theater auf die Wege gebracht, werden weltbewegende Themen in ergreifender Gestalt bis ins Tiefste und Innerste verhandelt und echter Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur neue Räume eröffnet. Andererseits bleiben die bleierne Blödheit des Weiter-So und Immer-Noch-Mehr und auch die unhinterfragbare Herrschaft von Geldmacht und Grundbesitz als die treibenden Kräfte hinter dem sommerlichen Spektakel. Jedermann? Ich bitt’ sie – Jedermann, der es sich leisten kann! Der sich für gutes Geld gern gruselt in Hofmannsthals kuschlig morbidem Katholizistentum. “Eine Triumphpforte österreichischer Kunst” – Die Umwidmung des Untergangs der Donaumonarchie in ein europäisches Erfolgsprojekt für eine exklusive Elite? Genau deshalb haben wir unsere Begegnung mit Thomas Oberender vor 10 Jahren mit “Das Salzburg Syndrom” betitelt. Denn – wer zahlt, schafft an. Oder doch nicht?

Er bescherte den Festspielen ihre bislang erfolgreichste Theatersaison und brachte Jan Lauwers & Needcompany nach Salzburg (unvergessen Sad Face | Happy Face 2008 auf der Pernerinsel). Und er öffnete die Stadt als Spielraum für immersive Kunst, die teilweise sogar allgemein zugänglich war, wie zum Beispiel A Game Of You von Ontroerend Goed. Auch Philipp Hochmairs Jedermann Reloaded entwickelte sich aus dem Young Directors Project, das einst von Thomas Oberender betreut wurde. Vielleicht ein Sämann, dessen Saaten den Satten zum Steinbrech geraten? Und:

“Ein genialer Spagatkünstler“, der sich zwischen dem Aggressor (mit dem Geldkoffer) und den Abgründen des eigenen Selbst vor allem mit der Wirkmacht des Theaters (und der möglichen Katharsis) identifiziert. Das ist ein besserer Gründungsmythos als die ständige Selbstlobpreisung einer längst unfruchtbar gewordenen “besseren” Gesellschaft. Das etwas andere Kunnst-Biotop verleiht jenen eine Stimme, die sonst nichts zu sagen haben: “Die Festspiele sind für uns ein Heiliger Bimbam, bei dessen Gedröhn uns unweigerlich Hören und Sehen – und Reden – vergehen …”

Es ist uns ein fester Festspielflash

PS. Mehr dazu gibts bei den Perlentauchern

 

Das ist doch nicht normal

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. Mai – Das Gesunde Volksempfinden ist wieder da! Die Entscheidung darüber, was normal (und daher erlaubt) ist, wurde an den Volksgerichtshof der Sozialen Medien ausgelagert. Fürderhin urteilt Richterin Shitstorm darüber, was geht – und was ganz sicher nicht. Solches dem schnöden Pöbel dann auch noch als demokratisch zu verkaufen, das riecht nach Stephen Bannon und den Neuen Rechten. Deren Strategie heißt: “Flood them with Shit!” Und die breite Masse besorgt sichs selbst. So schnö konnst goa ned schaun. Da wird gejubelt und vernichtet wie bei den Gladiatoren. Das ist doch nicht normal! Was jetzt? Sprechen sie Sprache? Können sie Kontext? Gibt es nicht sowas wie Übertreibung als Stilmittel? Scherz? Satire gar? Ironie und tiefere Bedeutung?

Das ist doch nicht normalDerzeit haben es sogar Menschen mit Kommunikationshintergrund nicht leicht, ihre Aussagen ins Ziel des Verstandenseins zu bringen, bevor irgendeine Meinungsflut sie nach völlig Woandershin umlenkt. Noch viel schwerer haben es aber jene Menschen, die aufgrund einer schon vorhandenen Überflutetheit durch innerseelische Vorgänge gar keine Möglichkeit zu so etwas wie regelkonformer Ausdrucksweise mehr haben. Sie sind auf unser aller Verständnis der jeweiligen Situation wie deren Begleitumstände angewiesen. Und bekommen sie das auch – etwa wenn sie vor Gericht stehen? Da treffen sie nur allzu oft auf Richter oder Richterin Gnadenlos und werden flugs in den Maßnahmenvollzug abgeschoben. Potentiell lebenslänglich. Like, Dislike, erledigt, R. Ächzstaat. Du sollst normal sein. Abweichler an die Wand! Wir wenden uns daher lieber der “experimentellen Psychose” zu, wie sie im Rausch, in der Kunst, überhaupt im Exzess (und sei der auch noch so leise) anzutreffen ist.

Der bekannte deutsche Raptilienforscher Danger Dan (Antilopen Gang) hat, ganz in der Tradition des großen Satirikers Georg Kreisler, einen Beitrag zur Kunstfreiheit gestaltet, den wir euch ungeachtet der zu erwartenden Online-Meinungsrülpser nicht vorenthalten möchten. Und ich wär nicht wirklich Norbert K.Hund, wenn ich nicht Lust hätte auf ein Publikum, das die Grenzen auszuloten, was erlaubt und was verboten ist, als Einladung versteht, dies auch zu tun

Satire ist, die Wirklichkeit bis zur Kenntlichkeit zu entstellen. Das linke Hosenbein ist weiter, hat ein weiser Schneider gesagt (oder wer auch immer). Im Namen des Wahnsinns, sie sind verhaftet! Sie haben zu laut und zu weit gedacht. Verzieren wir die Apokalypse mit einer dezenten Provokation. Pro-vocare, das heißt hervor rufen”. Das ist doch ein geeigneter roter Faden für dieses querassoziative Sammelsurium zum neoliberalen Status Quo. Dankwart ist Tankwart. Exzentrisch betrachtet.

 

Heather Nova – Pearl

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 16. August – Liebe Musikfreunde (und *innen naturgemäß ebenfalls), es ist uns ein zutiefstes Bedürfnis, dem unlängst erschienenen Album Pearl von Heather Nova über die gewöhnliche Wahrnehmung hinaus zu Gehör zu verhelfen. Es ist nämlich an einem besonderen Punkt in ihrem Leben entstanden, an dem ihre langjährige künstlerische Erfahrung und ihre ursprüngliche Einstellung (zum Leben, zum Gefühl, zur Musik) kostbar kraftvoll zu neuer Gestalt verschmelzen. Mehr dazu auf ihrer Homepage unter Bio > Show More – “Eine Perle ist idealerweise das, was sich nach all den Jahren in einer Auster bildet.” So beschreibt Heather Nova nicht nur den äußeren Anknüpfungspunkt (zu ihrem Album Oyster von 1994), sondern auch das innere Geheimnis der Entwicklung eines Kleinods aus etwas Lebendigem.

Heather Nova - PearlEinst haben wir euch ihre Musik zur Entspannung vom feuchten Fußball kredenzt. Auch das Album Redbird, das von ihrer Schwangerschaft und der Geburt ihres Sohns Sebastian geprägt war, kam bei uns schon vor. Und in der Nachtfahrt zum Thema female. feel male. veranschaulichte ihre Performance (mit Berit Fridahl an der Gitarre) das Zusammenspiel weiblicher und männlicher Energien, weit jenseits von Zuschreibungen oder Rollenklischees. Sie begleitet uns also seit geraumer Zeit und hat uns dabei immer wieder angerührt, erstaunt, überrascht – sei es nun unplugged mit Cello, als Lyrikerin (The Sorrowjoy), beim Interview im Gibson Room Amsterdam, als Sendungsthema bei den Kolleg*innen vom Deutschlandfunk oder als verträumt verliebtes Gutelaunekind (London Rain) für die planlosen Nebeltage der Sehnsucht. Es ist diese ausgehaltene Spannung in vielerlei Gestalt, die uns an ihrem Schaffen nach wie vor fasziniert, diese Gratwanderung zwischen den Gegensätzen festhalten und freilassen, Freude und Verzweiflung, Rastlosigkeit und bei sich sein, dieses bedingungslose Auskosten eines weit ausgespannten Gefühlsspektrums. Einfach unverfälscht leben – und das alles mitnehmen: “A pearl is hopefully what forms inside an Oyster after all the years, the accumulation of experience, the saltwater, the sand…”

Sister all the ways I adore you
Why can’t you see yourself?
Why can’t you see yourself?
Sister shine a light on your grace and beauty
Why can’t you see yourself?
Why can’t you?
You were just a child holding tight
In those ocean swells
Why can’t you see yourself?

You think everybody else has got it made
But can’t you see we’re all in pieces

Cause when you’re broken then you’re open
When you’re open then you’re living
When you’re living you are light
And it’s alright, and it’s alright, and it’s alright

See Yourself