Kaiser Wilhelms Rosa Winkel

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. April – Unlängst stolperte ich fernsehend (endlich wieder einmal) über eine etwas SEHR andere Dokumentation. „Des Kaisers schmutzige Wäsche“ beleuchtet die Harden-Eulenburg-Affäre (Eine Medienkampagne mit daraus folgenden Gerichtsverfahren rund um einige homosexuelle Freunde und Berater des deutschen Kaisers Wilhelm II. kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs). Dies gelingt Autor und Regisseur Claus Bredenbrock hier allerdings auf so spektakulär unbelehrende und zum eigenen Weiterdenken anregende Weise, dass er gleich vom Bund Lesbischer & Schwuler JournalistInnen mit dem Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet wurde. Über diese in vielerlei Hirnsicht [sic] Aufsehen erregende Produktion möchte ich also zu Beginn unserer Sendung berichten:

Des KaisersIm deutschen Kaiserreich waren (anders als in anderen Ländern zu dieser Zeit) homosexuelle Handlungen seit 1872 wieder durch den § 175 des Strafgesetzbuchs kriminalisiert. Aufgrund dieser Rechtslage musste sich Wilhelm II. nach wiederholten öffentlichen Bezichtigungen (siehe nebenstehende Karikatur) von vielen seiner bis dahin einflussreichen Berater trennen, um nicht selbst solcher „sodomitischer Schmutzereien“ verdächtigt zu werden. Die geradezu hysterische Abgrenzung von allen auch nur entfernt im Geruch der Unmännlichkeit stehenden Personen führte mittelbar bis zur Abberufung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow, übrigens ein Verwandter des von uns hoch geschätzten Loriot (Krawehl, Krawehl). Und schon sind wir mitten in der spannenden These der Dokumentation: Die (zum Teil tatsächlich) homosexuellen Schöngeister aus dem „Liebenberger Kreis“ waren allesamt Teil einer informellen Friedenspartei und strebten die Aussöhnung mit Frankreich sowie ein geeintes Europa an. Durch deren Entmachtung gewannen die Militärs der Kriegspartei nun die Oberhand im Einflussbereich des Kaisers – und steuerten Deutschland zielstrebig in den Ersten Weltkrieg. Doch dieser hätte womöglich überhaupt nicht stattgefundenwenn Homosexualität damals eben nicht strafbar gewesen wäre!

KZ MauthausenWas wir uns da nicht alles erspart hätten! Den zweiten Weltkrieg gleich noch dazu, den Hitler, den Holocaust, überhaupt die Nazidiktatur – und mit ihr die krankhafte Verfolgung von allem und jedem, was nicht in ihre Normvorstellung paste. Nicht zuletzt – und hier schließt sich der Kreis – die Ermordung der sexuell normabweichenden Männer in den Konzentrationslagern. Das Klima gegenüber dieser NS-Opfergruppe ist in unserer Gesellschaft auch 70 Jahre nach Ende dieses speziellen Wahnsinns immer noch verstörend gleichgültig. Am Gelände des ehemaligen KZ Mauthausen wurde immerhin „schon“ 1984 die abgebildete Gedenktafel angebracht. Ein freistehendes Denkmal im öffentlichen Raum für die wegen ihrer Homosexualität Verfolgten ist hingegen nach wie vor nicht verwirklicht (Artikel Verein Gedenkdienst). Und in Salzburg wurden gar erst seit 2012 inzwischen 7 „rosa“ Stolpersteine verlegt. Rosa, weil „Rosa Winkel“ die KZ-Kennzeichen für inhaftierte Homosexuelle waren. Davon berichtet abschließend das gleichnamige Radiofeature von Georg Wimmer, das wir hier auch wegen seines journalistischen Engagements sehr gern wiederholen.

Ach, hätte Wilhelm II. doch nur sagen können: „Das Sexuelle ist reine Privatsache!“

 

Ottos Most

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. MärzAus den Bastelschachteln der Wiederverwurstung. Salzburg biedert sich an – wie eigentlich immer. Aber Achtung: Ab heute herrscht die Sommerzeit und seit zwei Uhr früh wird alles zurück geschossen, was die Technik nur hergibt! „I hea eich scho, es durchrationalisierte Leichenzüg, es Geldfratzen, klapper di klimper di klapper…“ Wobei – vom Schatten der Mozartkugel (demnächst auch der Thomas-Bernhard-Schnitte) aus betrachtet, ist es schon eine Überlegung wert, welche Art von Interpretation bloß der feilen Geldmehrung dient – und welche sich auch in Form des Zitierens vor der Kunnst ihres Schöpfers verneigt. Eine Sendung über Beiträge und Collagen aus dem öffentlichen Allgemeingut unserer Hör-, Seh- und Sprachwelten sowie über Urheberunrecht und Zernutzungszwang.

AnbiederungDie gewählten Formulierungen sagen im Grunde auch schon alles zum Thema aus, was sich durch widmungsgemäßen Gebrauch seines Denkkübels zurechtdichten lässt. Wer allerdings nicht selbst (und somit selbstständig) zu solch eigener Anschauung über die Verfasstheit der Welt kommen möchte, der soll sich doch bitte vom oberen Huhu irgendeine absolute Wahrheit auf den Kopf scheißen lassen! Die gibts bei uns nämlich nach wie vor nicht – und das finden wir auch ganz ausgezeichnet. Vielmehr stellen wir hier wieder einmal eine Reihe von Beispielen zur geneigten Beselbstung in den Ohrzwischenraum, so etwa Remixe, Soundscapes und Spoken-Word-Music aus Berit Fridahls Klangwerkstatt. Oder hausgemachte Bearbeitungen aus Eigenem und Fremdem. Ein festfröhlicher Existenzess am Abgrund des Widerspruchs in sich 😉 Wer hats erfunden? Ja, genau! Aber deshalb der freien Menschheit besitzverkaufen? Schon ertönt inmitten unserer ach so putzigen Marktwirtschaft lauthals Dr. Joseph Klumpfuß-Hupfkasper mit dem knöchernen Jedermannruf: „Wollt ihr den totalen Kommerz?“ Wir halten entgegen: „Des geht überhaupst ned!“ Alles eine Frage des guten Geschmacks. Und pfui 😛

Link zu Berit Fridahls SigneyLimeRemix von Games without Frontiers (Peter Gabriel)

 

Neben dem Thron

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. MärzVon der Schwierigkeit, eigene Sendungen für einen Wettbewerb auszuwählen. Ein Präsidentsfall. Irgendwann einmal fliegt einem im Zuge der mehrjährigen Radiomacherei zwangsläufig jeder Überblick um die Ohren. Auch wenn man gerade noch wiedergeben kann, worum es im Gesamtkonzept seiner Sendereihe eigentlich geht, so ist es doch ein annähernd unmögliches Unterfangen, dahingehend eine Entscheidung zu treffen, welche spezielle Ausgabe diesen Sinn und Gehalt am vortrefflichsten darzustellen vermag. Wir sind eben ein etwas anderes Kunnst-Biotop, dessen einzelne Beiträge sich fortwährend collagenhaft in einem Work in Progress zu einer Aussage verdichten. Und die ist naturgemäß wiederum mehr als die Summe ihrer Bestandteile. Was also tun? 😛

not just anotherMachen wir auch noch aus dieser Not eine Tugend – und entsprechen wir so unserem Selbstverständnis: Berichten wir also über das, was uns gerade beschäftigt – wir sind schließlich weder langweilig noch uninteressant, nur weil wir nie Teil jenes ekelhaft pseudowichtigen Kommerzkasperltums sein wollten, das tagtäglich den Breischleudern der gemainstreamten Medienwelt entschlatzt. Ganz im Gegendings! Bumms! Guten Morgähn 😀 wünsch ich! Aber jetzt mal Ernst beiseite und in medias Residenz – warum die ganze Aufregung mit der Qual der Wahl? Es ist nämlich so: Die CIVILMEDIA – UnConference for Community Media & Civil Society vergibt heuer erstmals den (noch dazu dotierten!) Civilmedia Award für Programme aus den freien österreichischen Radio- und TV-Stationen, und zwar in den Kategorien „Access & Empowerment“ sowie „Entertainment & Arts“. Hier schließt sich der Kreis wieder – mit den oberbei angestellten Überlegungen 😉 Denn beide Begriffspaare beschreiben Wesentliches aus den inhaltlichen Zielsetzungen unserer Sendereihen Artarium und Nachtfahrt/Perlentaucher. Doch in welcher der über 60 möglichen Sendungen kommt das wohl am Besten zum Ausdruck? Eben…

 

Best Of Zeitzeuge

>  Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Februar – Die deutsche, nein, bayerische Band Zeitzeuge beeindruckt uns vor allem durch die lyrische Kraft ihrer Songtexte. Darum wählen wir diesmal für unsere Reihe „Das ganze Album“ gleich aus zwei CDs dieses wundervollen Musikprojekts aus – und zwar jene Lieder, die sich aufgrund ihrer besonderen sprachlichen Stimmungsbilder am besten in unser etwas anderes Hörwelttheater einfügen. Sowohl „Man singt, man weint, man schreit dafür“ (2008) als auch „Bürgerkrieg im Herzland“ (2011) tragen ja schon dafür programmatische Titel – also erfreuen wir uns (und euch an den Empfängnisgeräten) mit einer spontan-assoziativen Zusammenstellung von 9 Tracks aus diesen beiden denkwürdigen Werken. Des weiteren gibts noch den Sound von ihrem sehr inwendigen Video „Wie schwer es ist zu gehen“

Zeitzeuge Band LiveDass Songtexte auch ohne Musik, quasi trocken gelesen, funktionieren können, das zeigen wir anhand von zwei Beispielen, nämlich indem wir selbst „Gegen den Wind“ und „Wenn der Löwe fällt“ (auszugsweise) als Gedichte vortragen. Dabei zeigt sich eben die Intensität der offenbar auch hinter dem Zeitzeuge-Musikschaffen steckenden Aussagen und Auseinandersetzungen. Chapeau! Wir gratulieren, allerdings schon mit zwei weinenden Augen, zumal sich diese in ihren Botschaften so erfrischend eigensinnige Kapelle inzwischen auch aufgelöst hat. Bedauerlicherweise – wie etwa auch Rotz aus Salzburg oder Tagtraum aus Schweinfurt (sic!) – es betrifft immer wieder die Bands, die sich nicht dem geklonten Gleichklang der Industrie und ihrer Verwertstopfung anbiedern. Doch wie dem auch sei, Zeitzeuge erfreuen sich in ihrer Zuhörerschaft jedenfalls bleibender Bedeutung, vovon gerade auch die per Homepage angekündigte DVD ihres Abschiedskonzerts (2013) ein überaus lebendiges Zeugnis ablegt. Und wenn wir schon beim Zitatwortspiel sind, so wünschen wir uns und ihnen doch noch viele kraftvolle Lebenszeichen, denn, wie sie es selber so schön sagen: „Du kannst nicht davonrennen. Du bist ein Zeuge deiner Zeit.“ In diesem Sinne hier der in der Sendung gelesene Text „Gegen den Wind“:

Du schweifst ab in die Ferne
und ich folg dir dahin
Ach, Kind was hab ich dich gerne
ruf nicht gegen den Wind

Ohooo
nicht mehr rot
spring aufs Boot
und auf Los
auf Los gehts los

Und ich spiel die Akkorde
hier im Westen nichts Neues
ein Lied von vielen
hörs dir an und bereu es

Doch es ist unser Weg
unsere neue Tür
unser kleines Etwas
man singt, man weint, man schreit dafür

Unser großes Schifflein
es ist nicht mehr weit
wir sind die Zeugen
unserer eigenen Zeit

Und wir fahren nicht geradeaus
nicht nach oben, nicht zurück
unser Ziel ist ein Gefühl
und ich nenn es nicht mal Glück

Sondern da wo man hin will
da wo man hin will, also da,
also was Ähnliches wie zuhaus
wie zuhaus

PS. Mein Einspruch bezüglich „BR2 Zündfunk Montagsdemo“ als Download 😉

 

Über Sport reden?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. Februar – Lässt sich Sport überhaupt sprachlich kommunizieren – und wenn ja, wie lieber nicht? Wo eingeweihte Fachidiome allsendunglich durch die Berichterstatter wuchern, beginnt für den Außenbleibenden oft schon die wunderbare Welt des angewandten Kannitverstahns. Und einmal ganz ehrlich – wenn ich mich für diese Sportart oder jene Sportveranstaltung von vornherein schon nicht begeistern mag, was soll mir dann das unbegabt euphorische Gephrasel irgendeines Sportberichts? Ob es sich jedoch, jenseits von Langeweile oder Lärmerregung, nicht doch vielleicht auch anders anfühlen und anhören kann, wenn „in den Medien“ über Sportliches gesprochen wird, das wollen wir als drei Männer im Artarium diesmal untersuchen: ein Kulturkritiker, ein Passivsportler, ein Totalverweigerer.

Hört, hörtEine solche etwas andere Betrachtungsweise pflegt zum Beispiel die von Pirmin Styrnol und Christian Weiner für Radio Orange produzierte Sendereihe „Momente des Sports“. Auf deren erweiterter Homepage finden sich erfreulich hintergründige Features und Reportagen zu allerlei Sportthemen für den feineren Geist abseits des Interessenmainstreams der quotenorgelnden Zeitgeistsurfer. So unter anderem die heuer mit dem Radiopreis der Erwachsenenbildung ausgezeichnete Sendung „Vollkontakt auf 40 Rollen – Die Mädels vom Vienna Rollerderby“, aus welcher wir uns einen Zusammenschnitt zu Gemüte führen. Wie diese jungen Frauen (und ihre männlichen Cheerleader!) hier nämlich lustvoll mit Geschlechterklischees jonglieren und sich an Begrifflichkeiten wie Aggression und Feminismus abarbeiten, das verschafft auch dem gewachsenen Sportmuffel noch ein erfrischendes Sporterlebnis.

Der etwas andere TurnvereinDem Fußballmuffel hinwiederum erschließt sich beim Betrachten der löblichen WDR-Sportsendung „Zeiglers wunderbare Welt des Fußballs“ eben genau diese. Denn der sprachverliebte Stadionsprecher (Werder) und Radiokommentator (Bremen-Vier) Arnd Zeigler schafft es scheinbar spielerisch, noch dem biersten Ernst deutscher Bundesliga einen dergestalten Wortwitz abzuringen, dass selbst dem Fernstehendsten dieses Fußballchinesisch noch zur zweiten Muttersprache wird. Wir gratulieren also dem Friedensstifter unter den sportdeutschen Kulturvermittlern aus Anlass seiner 250. Fernsehsendung – Zeigler gibts übrigens auch als Radiokolumne – und empfehlen ihn vorsorglich schon mal für den Literaturnobelpreis. Balleluja! Inwieweit uns diese Sendung gelingen wird, das wird sich in ihrer Stattfindung zeigen. Wir haben keinen Plan – doch wir werden ihn ausführen!

Und – wir sind ein geiler Turnverein! Diesesmal jedenfalls 😉

 

SoundDiary – A Book In My Hand

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. Januar – Das komplette brandneue Album der Wiener Band SoundDiary – eine in vielerlei Hinsicht außergewöhnliche Abenteuerfahrt durch die Glücksgefühle und Gefährdungen des postmodernen Nomadentums auf der Suche nach der Seinsinsel zwischen Sinn und Zusammenhang. Meine Reaktion aufs erste Durchhören dieses akustischen Bewusstseins-Roadmovies erfand sich in folgenden Worten: „Ich kenne zur Zeit keine österreichische Band – Blank Manuskript einmal ausgenommen – die den nötigen Scheißdrauf hat, ein derart authentisches Progressive-Rock-Konzeptalbum herauszubringen, dem man zwar immer anhört, dass es 2014 produziert wurde, von dem man aber meinen möchte, seine Kompositionen stammten aus der Blütezeit von Genesis & Co.“ Allein das schon eine Empfehlung 😉

A Book In My HandDoch es verbirgt sich noch weit mehr hinter der gefälligen Oberfläche eines stimmigen Musikalbums, das auch durch gelungenes Crowd-Funding produziert und im Eigenverlag fairöffentlicht werden konnte:

Philosophische Fragestellungen zum Beispiel – und Reflexionen über das Verhältnis des Individuums zur Welt – in Gestalt einzelner Mitmenschen, gesellschaftlicher Gegebenheiten oder verinnerlichter Moralgebote, die Songtexte sprechen da für sich.

Where You Lead MeIch in Beziehung UND unabhängig – dieser rote Faden ist das Konzept des Albums und zugleich wohl auch programmatisch für die Interessen der Bandmitglieder. Nicht nur, was kommunikative Publikumsberührung in Verbindung mit größtmöglicher künstlerischer Freiheit anbelangt, sondern gewiss auch in persönlich erlebten Versuchen, neue Formen zu entwickeln fürs Zusammensein der Gegensätze – mit einander, in der Welt – und – zwischen sich selbst! Aufbrüche ins Ungewisse…

Obiedient To IIndifferenceEndlich wieder einmal, textlich wie musikalisch, ein Gesamtkunstwerk, dem man die emotionale Echtheit und das individuelle Engagement seiner Schöpfer_innen (!) abnehmen kann, möcht man lauthals aufjubeln. In Zeiten wie diesen, wo fast jede Neuerscheinung allzu affensichtlich aufs Arschloch des Marktes schielt, um sich sogleich in irgendeiner Pose zu verfieberzapferln zwecks ihres besseren Verkaufs. So erbrechenbar wie Fastfood, Fernsehen und jede andere Mainstream-Prostitution. 😛 Hallelujah! Oder so. Jedenfalls wissen wir jetzt wieder, warum wir ein Konzeptalbum wie dieses hier lieben. Weil es uns auf eine handwerklich gut zubereitete Zauberreise mitnimmt – durch die wechselvollen Zustände und Zwischenwelten unseres Daseins. Weil wir uns in ihm wiederspiegeln, in unserem Kampf um die eigene Sinnstiftung, inmitten von Größenwahn, Niedertracht und Volksverhumpfung. Eben weil es etwas zu sagen hat – und das auch tut. Eine Message (jawohl), die Fragen und Antworten im Zwiegespräch mit sich selber belässt – und die einen so auch zum Selbstdenken der eigenen Welt anregt. Was ließe sich über ein Kunstwerk wohl Schöneres sagen? Lehnen wir uns also zurück in unsere Leben und genießen wir diese Erfahrung:

What counts and what matters can neither be said nor written, composed, performed or played.“

 > Hinweis: Einen Vorgeschmack auf dieses Kunnstwerk (nebst allerlei musikalischen Assoziationen) gibt es in unserer illustren Nachtfahrt-Sendung „Winterschlaftraum“ 😉

 

Krampuslauf Disintegration

> Sendung: Artarium vom dritten Adventsonntag, 14. Dezember – Zwei Stunden Sendung zwischen Teufelszauber und dem überlangen Album von The Cure. Eine Spurensuche durch die verhangenen Welten dieser irgendwie magischen Jahreszeit. Schon längst einmal wollten wir Disintegration (inklusive aller Bonustracks) ungekürzt spielen, doch bei dessen Gesamtlänge von fast eineinviertel Stunden können wir das nur im Rahmen einer genauso überlangen Sonderausgabe bewerkstelligen. Daraus ergibt sich natürlich die Frage, womit wir die übrigen 45 Minuten zubringen möchten. Es sollte ja immerhin zur Stimmung und zum Thema passen, schaurig und schön zugleich, sich rituell geheimnisvoll offenbarend, Kunnst einfach! Da schau her, wir sind in Bildern fündig geworden – und haben den Hersteller dieser Arbeiten ins Studio eingeladen:

S.Koidl2014_ScreamStefan Koidl aus Hallein ist aber nicht nur ein aufregender Zeichner (hier ein Album) mit dem Ziel, sich dem Fotorealismus technisch so weit es geht anzunähern – er ist auch ein inzwischen ziemlich erfolgreicher Krampusmaskenschnitzer (einige davon sind hier zu sehen). Passt doch perfekt zur Jahreszeit! 😈 Zudem führt er seine eigenen Kreationen neuerdings sogar selbst auf – in der von ihm mitbegründeten Krampuspass Schergen des Kronos. Da wollen wir doch einmal hinter der Maskierung nachschauen – und ergründen, was das wohl für ein Mensch ist, der mit solch einer schon an Besessenheit grenzenden Leidenschaft derart düstere Themen bearbeitet. Vor allem interessiert uns, aus welchen Inspirationsquellen sich seine Motive speisen, und was für kreative Prozesse da im Hintergrund ablaufen, während so ein Bild seinen Weg vom Kopf aufs Papier findet (oder so eine Maske eben in die fertige Gestalt). Wie hat das angefangen, wie fühlt sich das an – und wo will es hin? Wir ergehen uns in höllischen Phantasien und nachtkalten Krampusläufen, während wir im warmen Radiostudio gemütlich beisammen sitzen. Dazu gibts die gewohnt geeignete Musik…

DisintegrationAnschließend an unser Gespräch, wie angedroht und versprochen, das ganze Album Disintegration von The Cure in vollster Länge und ohne jedweden Hineinquatsch. Warum just dieses doch 72-minütige Ohrwerk im tiefsten Mittwinter lauthals zu Gehör gebracht wird? Weil es ein Innehalten ist inmitten schleunigen Lärms, ein Inzwischen aus leisen Tönen und dröhnendem Bombast. Weil ihm aufregende Stille ebenso innewohnt wie beruhigender Wahn, weil rauschhaftes Einvernehmen hier so grenzgenial in angepasstes Widerstreiten übergeht, dass Revolution nur noch innerlich stattfinden kann – aber stattfinden muss! Weil es genau die Medizin ist, die wir in den längsten Nächten des Jahres brauchen, eine psychedelische Filmkulisse zum Sterben und Erwachen – mit unserem Selbst als erlebendem Darsteller und handelndem Zuschauer in ein und derselben Person: Ich bin viele – und wir sind eins. Alles klar?„The Cure waren zu dem Zeitpunkt, als Disintegration entstand, keine verzweifelte Depri-Band, genausowenig, wie sie das heute sind. Disintegration ist happy-sad, vielschichtig, manchmal hymnisch und manchmal düster, the best album ever und will in meinen Augen irgendwie nicht mit der ganzen Cure-Klischee-Anhäufung zusammenpassen.“ (Cure-Fan-Replik auf obiges Review)

 

Dub Side of the Moon

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 16. NovemberDem abgründigen Humor der wundersamen Easy Star All-Stars sei es getrommelt und gepfiffen, dass wir diesmal ein ganzes Album aus dem Jamaikanischen Geräuschegarten rund um den Roots-Reggae und seine diversen ekletifizierten Absprösslinge (wie Dub, Dubstep, Trip Hop etc.) spielen. Oder auch dem Umstand, dass Pink Floyds jüngstes Werk The Endless River in deren Musikschaffen zwar jetzt den Schlusspunkt, keinesfalls jedoch den Höhepunkt darstellt. Somit greifen wir zurück auf ein ungemein kreatives und inspirierendes Tribute-Album, welches 2003 zum 30-jährigen Erscheinungs-Jubiläum von Pink Floyds Meilenstein The Dark Side of the Moon vom erwähnten Dub-Reggea-Kollektiv des All Star Labels eingespielt wurde – das schön schamlose Rework namens Dub Side of the Moon 😉

ja wir wollen lustig sein

Das Cover eines weiteren Easy Star Reworks: „Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band“

„If you’ve ever, via hallucinogens, expanded your mind to Dark Side Of The Moon, all you need to do is change your drug of choice and Dub Side… might easily sound like the best thing you’ve heard, if you inhale deeply enough. Even without a spliff, it still sounds pretty fine as a bunch of rastas take a voluptuous dubbed-up trip around the Floyd’s psychedelic masterpiece. Highlights include Ranking Joe’s toast on „Money“ and Kirsty Rock’s bonged-out yodelling on „The Great Gig In The Sky“. It fits so perfectly you wonder why it took 30 years for someone to think of it.“ >UNCUT

Es mag mit allerhand immergleich wiederkehrenden und quasireligiösen Ritualen einer verschworenen Subkultur zusammenhängen, dass das erweiterte Reggaetum bei uns eher selten zu hören ist. Oder auch mit einem allzu bierernsten, muss hier heißen weihrauchschwangeren Selbstverständnis, das mehr nach Glaubensgemeinschaft als nach Freiheitsbewegung schmeckt. Oder wie war das mit „Emancipate yourself from mental slavery…“ ursprünglich gemeint? Unser Zugang zu allen Kunstformen ist immer der kreative, der des selbstbestimmten Gestaltens und nicht der des Normnachhupfens. Deshalb lassen wir uns auch gern vom fröhlichen Plünderertum der Easy Star All-Stars anstecken, liebgewordene Hörgewohnheiten wieder einmal völlig neu zu interpretieren. Und empfehlen zur weiteren Neugierde dieses Interview zu ihrer Arbeit auf pop-break.

 

Poem – Leonard Cohen auf Deutsch (ein Auszug)

> Artarium am Sonntag, 28. September um 17:00 Uhr – Wir präsentieren nunmehr einen Ausschnitt aus der Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 26. September:

Livegast im Studio ist diesmal Misha G. Schoeneberg, der uns das brandneue Album Poem – Leonard Cohen in deutscher Sprache vorstellen – und von seiner jahrelangen Beschäftigung mit den Songs und Texten aus Cohens lyrischem Kosmos erzählen wird. Denn immerhin übersetzt und überträgt er schon seit Anfang der 90er fortwährend einzelne Titel aus dessen Gesamtwerk – und zwar in inhaltlich wie auch musikalisch stimmige, also vor allem gut singbare deutsche Versionen. Nun ist also endlich eine einstweilige Endfassung dieses weitreichenden Projekts erschienen, und zwar in Form einer Hommage zum 80. Geburtstag des wirkmächtigen Songpoeten, dem wir jetzt noch einige Facetten mehr abgewinnen als ihm ohnehin schon nachgesagt werden…

Misha G. SchoenebergAuch über Misha G. Schoeneberg lässt sich so einiges erfahren und nachlesen: Hippie in Goa, mit Ton-Steine-Scherben auf Tour, Lebensgefährte von Rio Reiser, Songtexter und Buchautor, Sprachlehrer, Südostasienwissenschafter, Textcoach und Mentor, zuletzt Künstlerischer Leiter beim gegenständlichen Poem-Album. Und trotzdem ist der Mann hinter der vielschichtigen Biographie noch weit mehr als sich über ihn sagen ließe. Wollen mal sehen, ob wir nicht noch das eine oder andere Unbekannte im Wesen des Wortwetzmeisters entdecken. Schließlich ist unsere Idee zu einer gemeinsamen Radiosendung auch schon über fünf Jahre alt – gut Ding will eben Weile – und was lange währt, wird endlich :)

Poem Album CoverWas nun das Album selbst betrifft, auf dem 17 verschiedene Bands und Einzelinterpret_innen die von Misha übertragenen/übersetzten Cohen-Songs über die Grenzen von Genres und Generationen hinweg darbieten, so werden wir dieses in unserer Spezialnachtfahrt gründlich würdigen: Die Menschen dahinter, die schier unendliche Mühe, schließlich all die Texte und ihre Themen. Liebe und Tod. Das Mitgefühl. Durchleiden und Darstellen. Dichten und Trachten. Sinn und Ziel. Das Vermächtnis. Die Übersetzung. Das nicht fertig werden mit der Arbeit. Die Frage nach der Spiritualität. Was bleibt, jenseits von Anfang und Ende, wenn es nur “das Unterwegssein” gibt? Brauchen wir womöglich ein “größeres System”? Oder verweist uns das milde Lächeln des Sängers auf jenes Unfassbare, dass wir in all seiner Unsagbarkeit aber dennoch, immer wieder, dann halt wenigstens zu singen oder zu spielen versuchen? Das uns stets Unerreichbare, das wir, wenn überhaupt, nur ewig unvollendet, unvollkommen, um es irgendwie auszudrücken, so gut es geht, darleben können…

“Liebes Leben, abgemacht? Darfst mir nicht verfliegen. Hab noch so viel Mitternacht sprachlos vor mir liegen.” Konstantin Wecker

 

An diesem einen Punkt der Welt

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. August – Wir haben das neue Buch von Brita Steinwendtner gelesen – und wollen es euch in dieser Sendung wärmstens empfehlen. Warum? Weil wir, wie sich denken lässt, irgendwo zwischen überzeugt und begeistert sind davon. Und weil wir als freie Radiomacher sowieso nur das besprechen, was uns persönlich und unmittelbar berührt. Wovon wir also ein Bedürfnis haben, zu berichten – aus unserer Welt. Und so entwickelte sich auch unsere Beziehung zu dieser zutiefst lebenswerten Geschichte erst langsam, über einzelne Gespräche und Begegnungen, bis endlich aus immer mehr Zufälligkeiten ein überraschender Zusammenhang entstand: Denn die Hauptperson von „An diesem einen Punkt der Welt“ ist niemand anderer als der allzu früh verstorbene „Bez“ Bernhard Samitz, zu dessen Andenken wir bereits ein Radioportrait mit dem Titel Alternative kulturelle Schutzgebiete gestaltet haben…

Beim TortenmacherDas ist Biographie: die tausend tanzenden Sonnenpunkte in uns – denn, ja, weißt du, wie ich mich gerne beschrieben sähe? Als Erzählung – als Roman -, als Text, der mit mir macht, was er will, denn – ja, Parmenides, ich möchte leben wie ein ausufernder Text, möchte Literatur werden – 

Was Tom zu Hause schrieb und dachte, wenn die Dissonanzen in den Saiten hingen und man im Grau des Nebels keinen grauen Engel finden konnte, ist nicht zu wissen. Der Lamanderbach schickte gleichmütig sein Wasser in den Wildgänseweiher und weiter in den Fluss und immer weiter,

     und Tom mischte ein Dorfleben auf wie nebenbei, es ging ins Leere und es gelang, je nachdem, aber er gab ein Beispiel, das über den Tag hinaus wirkte. Erhob den Einspruch des Poetischen gegen die traurigen Verhältnisse des Realen, lebte die Skepsis gegen simple Kausalitätsordnungen, und war, so Matthias, „dem Streit nicht zugetan, der Umarmung mehr und dem Liebkosen, wenn es um Gedanken ging“.

An diesem einen Punkt der WeltEs entspricht wohl auch mehr unserer Wesensart, nicht gar so viel über ein Buch zu reden, wenn wir es euch vorstellen, sondern es statt dessen lieber für sich selbst sprechen zu lassen (Textauszug oben Seiten 170 und 208, unten Seite 163). So wollen wir uns zwar über unsere Erlebnisse beim Lesen unterhalten, ansonsten aber Passagen daraus vortragen und in Gestalt einer Reise durch den Roman Musikstücke dazu assoziieren. Zu Entstehung und Hintergrund dieses ebenso lesens- wie liebenswert verdichteten und vielgestaltigen Entwicklungs-Roadmovies aus der Innenwelt eines integrierten Außenseiters und radikal friedvollen Poesiepropheten melden wir uns am Freitag, 29. August Live vom 4553² Literaturfestival in Schlierbach/Oberösterreich, wobei wir auch Brita Steinwendtner im Anschluss an ihre Lesung zu einem Gespräch erwarten. Die zweistündige Sondersendung beginnt auf Radio B-138 um 22 Uhr und wird am Sonntag, 31. August auf der Radiofabrik ab 17 Uhr wiederholt. Hier noch das Veranstaltungsprogramm der Literarischen Nahversorger. Bis dahin muss es genügen, wenn wir mit Denis Scheck sagen: „Vertraut uns, denn wir wissen, was wir tun!“ Und lest dieses Buch selbst – denn wer Ohren hat zu fühlen…

Wohin wollte er? Raus aus dem Dorf, dem Haus, dem Graben? Waren sie sein Gefängnis oder seine Geborgenheit? Äußerer Ring von Bäumen um seine Augen, innerer von Verstärkern, Gitarren und Büchern um seinen Atem, Bücher als Metastasen, so Matthias, sie wohnten überall, auf Tischen, Stühlen, am Boden, im Bett, im Auto, ein Haus als Depot für Schrift mehr denn eine Wohnstatt. Lese-Marathons bis spät in die Nächte hinein, Hunger nach dem unmessbaren Zauber von Sprache, weltvergessenes Lesen ohne Ziel und Verwertbarkeitsstatistik, ein dadaistisches Spiel, um die Welt auf den Kopf zu stellen. Vielleicht auch, um sich zu wappnen gegen alles Diktatorisch-Tyrannische, weg von allen Autoritäten und alten Bindungen. Von der Mutter, Dem Vater. Den Professoren. Dem Müssen. Dem Erreichen-, Glauben- und Erfüllen-Müssen.