Der Krieg in mir

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. August“Der Krieg ist nicht vorbei, wenn er auf den Schlachtfeldern endet. Er geht weiter in den Herzen und Hirnen der Kinder.” So sprach ich als Jugendlicher zu meiner Mutter, die den 2. Weltkrieg noch selbst erlebt hatte, wenn sie daran Anstoß nahm, dass da etwas in mir wütete oder in Trümmern lag. Rückblickend betrachtet waren das weise Worte aus dem Mund eines damals vielleicht 14-jährigen, denn wie man heute weiß, wirken sich die traumatischen Erlebnisse der Eltern- und Großelterngeneration in ihren Nachkommen weiter aus, prägen oft sogar deren Ängste, Wünsche, Träume oder Verhaltensweisen. Der Dokumentarfilm “Der Krieg in mir” von Sebastian Heinzel beschreibt, wie eine solche “Vererbung” durch epigenetische Veränderung stattfinden kann. Und er sucht auch nach Lösungen

Der Krieg in mirAls ob mir das Trauma des 2. Weltkriegs (das mir meine Eltern hinterlassen haben) nicht schon genug wäre, entdeckte ich unlängst auch noch die Feldpostbriefe meines Großvaters aus dem 1. Weltkrieg. Und der war ab 1914 Offizier in jener österreichisch-ungarischen Armee, die unter dem unseligen Oskar Potiorek (den manche Zeitzeugen als zunehmend unzurechnungsfähig beschrieben) dreimal hintereinander vergeblich versuchte, Serbien einzunehmen. Stattdessen wurde sie jedesmal unter immensen Verlusten hinaus geworfen. Auch mein Großvater landete schon im Oktober 1914 im Lazarett, was er nur sehr knapp überlebte, wie mir berichtet wird. Da gratuliere ich mir jetzt aber ausdrücklich und “mit klingendem Spiel” zu diesem ausgewachsenen Mehrgenerationentrauma in meinem lyrischen Kosmos und wundere mich über ganz vieles gar nicht mehr. In der Geschichte dieses Landes und seiner Insassen sind kasperlhafte Politiker nebst ihren hysterischen Feindbildern dermaßen Tradition, dass auch in dieser Hinsicht an epigenetisch eingeschriebene Verhaltensreflexe gedacht werden muss. Hurra, der Untergang des Abendlands ist unausweichlich und wir werden alle sterben. Aber bitte mit Stil. Das ist halt nicht ganz so einfach, wenn du verreckend im Dreck liegst.

Dass wir Krieg verabscheuen, das haben wir in unseren Sendungen immer wieder deutlich gemacht. Dass es aber nach wie vor Menschen gibt, die derlei befürworten, ja sogar betreiben und davon profitieren, das bestürzt uns aufs erschreckendste, zumal wir die über Generationen fortwährenden Spätfolgen dieses Wahnsinns in und um uns wahrnehmen und deren Auswirkungen auch in unserem Alltag erleiden müssen. Hier können die eingangs erwähnte “Suche nach Lösungen” und die von Sebastian Heinzel im Selbstversuch unternommene “Traumatherapie” zum Einsatz kommen

Die begleitende Voraussetzung ist unsere gemeinsame Forderung: Nie wieder Krieg!

 

Letzte Generation Jedermann

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. August – Was soll das für eine Katharsis sein, die sich im Kampf zwischen Kasperl und Krokodil erschöpft, immer und immer wieder? Oder ist der Salzburger Jedermann jetzt endlich auch immersives Theater, in dem sich die Grenzen zwischen Stück und Publikum auflösen? Erstaunt hören wir vom Auftritt der “Letzten Generation” bei der heurigen Premiere – inmitten einer so gegenwartsbezogenen Inszenierung, dass die altgewohnten Unterschiede von “drinnen und draußen” nicht mehr funktionieren – in Verwirrung verschwommen. Was die einen als “Störaktion” bezeichnen, ist für die anderen “mutiger Protest” – und auch darin begegnet uns schon wieder der ausgelutschte Mythos vom ewigen Kampf zwischen Gut und Böseoder eben zwischen Kasperl und Krokodil

Letzte Generation JedermannIn einem Gespräch mit Michel Friedmann (der inzwischen wieder “clean” sein soll, aber nach wie vor unergründlich grinst) entwickelt der renommierte Biologe Johannes Vogel (Was für ein Bart! Was für eine Krawatte!) diesbezüglich die These, “dass wir uns dauernd die falschen Mythen erzählen” – und setzt somit seine Hoffnung für das Überleben der Spezies Mensch auf “die kulturelle Evolution”. Ein famos weiterdenkstiftender Beitrag, den wir unserem unsichtbaren Publikum – speziell in Zeiten wie diesen – wärmstens ans Herz legen. Denn das Damoklesschwert des drohenden Untergangs hängt über uns allen, im Hintergrund unserer Bemühungen, dem Leben inmitten hochkomplex organisierter Naturzerstörung und unentrinnbar scheinender Sozialerosion Tag für Tag, Stunde um Stunde, in jedem Atemzug, in jedem Augenblick noch so etwas wie Bedeutsamkeit abzutrotzdem: “Gut leben in einer untergehenden Welt – ja dürfens denn das?”

Ausgerechnet aus Australien erreichen uns jetzt ebenso erfreuliche wie verstörende Nachrichten: Während der ganze Kontinent Naturkatastrophen bislang ungekannten Ausmaßes erleidet und weite Teile des Landes zunehmend unbewohnbar werden, hupft ein Klimaskeptiker als Premierminister in Begleitung eines Klumpens Kohle im Parlament herum und ergeht sich im Lobpreis des schwarzen Goldes. Wogegen die Band Midnight Oil (die wir letzten Sonntag gewürdigt haben) eine interessante Verknüpfung aufzeigt: Unser Umgang mit der Natur sowie mit der Urbevölkerung.

Was können wir dazu noch sagen? Am besten wohl: Wir sind die Jetzte Generation.

 

With a little help from my friends

Artarium am Sonntag, 9. Juli um 17:30 Uhr“John Lennon hat es sehr einfach gesagt: All you need is love. Und genau so ist es auch.” Mit diesen Worten bringt es Oskar Haag auf den Punkt. Auch unser heutiges Hohelied auf die Freundschaft hat viel mit dem Vermächtnis jener vier Herren aus Liverpool zu tun, die wir gemeinhin als “The Beatles” kennen. “I get by with a little help from my friends”. Treffender lässt sich kaum beschreiben, was den Wert “wahrer” Freundschaft im Inneren ausmacht: Dieses bedingungslose Dasein für einander ohne Fragen- oder Erklärenmüssen. Es ist bestimmt kein Zufall, dass Arno Gruen die freischwebende Aufmerksamkeit in einer Psychotherapie mit jener in einer Liebesbeziehung vergleicht. Denn “Liebe” (als Grundkraft des Lebens) ist genau das, was wirklicher Freundschaft innewohnt.

With a little help from my friendsUnlängst hat mich eine Nachbarin dabei ertappt, wie ich vergnügt den Beatles-Song Getting Better vor mich hin zwitscherte. Erst in ihrer Wahrnehmung wurde mir klar, wie depressiv ich während der letzten Jahre durch unser gemeinsames Stiegenhaus geschlichen war. Ich habe es meinen guten Freunden  zu verdanken, dass ich mich heute auch inmitten von einstürzenden Weltgebäuden am Leben weiß – und dass ich das spüren und mich darüber freuen kann. Und meiner Therapeutin, die mir die oben erwähnte Aufmerksamkeit über Jahre hinweg zur Verfügung stellte. Das wohlwollende Wahrgenommensein als der Mensch, der man ist (und den man sich selbst oft nicht mehr glauben mag), in Zeiten des Zusammenbruchs muss das von außen kommen – von Menschen, die einen ohne versteckte Absicht befürworten. Ja, ich habe das Grauen gesehen (und ich sehe es nach wie vor). Doch wie heißt es schon in Apocalypse Now: “Sie sind am Leben. Das ist alles, was zählt.”

In diesem Sinn (und darüber hinaus) wollen wir uns der Weisheit eines weiteren großen Propheten der Popkultur zuwenden, der es auch sehr einfach gesagt hat:

Every heart, every heart
To love will come
But like a refugee

Leonard Cohen

 

Und ganz einfach:

I love to be loved

Peter Gabriel

 

Der Sommer kann beginnen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. JuniDie Welt ist im Begriff aus den Fugen zu geraten – und wir freuen uns, dass es Sommer wird. Leben wir nicht alle in diesem Zwiespalt zwischen Lebensfreude und Vergehen? Zwischen Wachstum und Zerfall? Zwischen “Moi, is des scheee!” und “Geh, bitte – ned des a nu!” Es ist an der Zeit, den Sommer zu begrüßen und mit ihm zu feiern, weil wir kostbar sind. Zerbrechlich, aber wunderschön. Trügerisch wie das Idyll und tief vertraut mit uns. Wenn wir uns wirklich ausliefern, dann werden wir uns auch nicht umbringen. Wir sind ihre Hasen des Guten, Wahren und Schönen. Der Rest ist Geschichten. Womit wir auch schon bei jenem “schönen Ort” angekommen sind, “wo das Leben zur Sprache kommt”, dem Salzburger Literaturhaus und seinem heurigen, ganz speziellen Sommerfest.

Die dort gemachte Aussage: “und ausnahmsweise keine Literatur.” ließ uns innerlich aufhorchen (oder fast schon erschrecken) Waaaas? Ein Fest im Literaturhaus OHNE Literatur? Ja, dürfens denn das? Doch dann erfuhren wir unter der Hand, dass die da angekündigte “Überraschung” aus so einer Art Textpotpourri oder anders gesagt “Sommersprachblütenstrauß” bestehen wird, was wunderbar zu unserer ursprünglichen Idee für diese “Sendung als Sommerfest” passt, wollten wir doch ebenfalls eine “Blütenlese” aus sommerthematischen Audiocollagen und Musikstücken präsentieren und dazu die eine oder andere “Überraschung” bereitstellen. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlich stattfindenden Wirklichkeiten ist ebenso beabsichtigt wie auch frei erfunden. Alles andere wäre rein zufällig – und das ist es eh oft. Wobei “rein” … aber lassen wir das!

Es fällt jedenfalls auf, dass in unseren Artarien, Nachtfahrten und Perlentauchereien immer wieder jahreszeitliche Schwerpunkte auftauchen. Das begann schon 2008 mit der mehrteiligen Reihe “Sommerkunst”, die in einer Radioschorsch-Auszeichnung zum 10-jährigen Jubiläum der Radiofabrik kulminierte. Im Juli 2013 hinterfragten wir den Salzburger Festspielzirkus einmal sprach- und gesellschaftskritisch: Sommer Textase Reloaded. Und am 12. Juni 2015 “eröffneten wir uns einen H. C. Artmann Platz. Feierlich. Live. Im Radio.” Unter dem passenden Titel Sommernachtstraum.

Zuletzt soll sich der Kreis noch thematisch schließen. In unserer Sendung Dunkelbunt Sommertag haben wir die eingangs skizzierte Zugleichheit aufgezeigt: “Sommertag assoziiert ja seit Erfindung der Sommerferien alles Vorstellbare rund um Freibad, Freiheit und Freizügigkeit. Oder lieber Freibier? Dennoch wohnt dem Sommersein oft nicht nur Schönes und Helles inne, sondern auch Abgründiges.” Und weiter: “Jede Extase trägt immer auch den Absturz in sich, so wie im Leben das Süße auch immer mit dem Bitteren vermengt ist.”So riecht, so schmeckt, so fühlt sich Sommer an.

Ein frohes Fest. Wir sehen uns …

PS. Jochen Distelmeyer, den wir in der Signation hören und den wir als einen ganz herausragenden deutschen Dichter verstehen, hat mit Jenseits von Jedem die fast 15-minütige Ballade eines realsurrealen Sommerfests verfertigt, die wir euch jetzt zu jedweder Einstimmung – und überhaubst – heftig ans Herz legen wollen.

 

Rinteltitintel

> Sendung: Artarium vom Pfingstsonntag, 28. Mai – Dem kalendarischen Anlass entsprechend umkreisen wir das unglaublich Mögliche sprachlicher Verständigung. Und zugleich auch das glaublich Unmögliche in den verschwitzten Versuchen der Zwischenmenschen, einander redend zu verstehen. Allerorts findet babylonische Sprachverwirrung statt und Chatbots spielen mit sich selbst Stille Post: “Was der eine sagt und der andere versteht, muss für den dritten nicht unbedingt richtig sein. Denn was dieser draus macht und dem zweiten erzählt, hat der erste nie gemeint.” Schon der Fuchs sagt ja zum kleinen Prinzen: “Die Sprache ist die Quelle aller Missverständnisse.” Wäre es also nicht gerade jetzt höchste Zeit, durch die uns von einander trennende Membran des Unwirklichen hindurch zu ….. “Rinteltitintel”

RinteltitintelEs ist nämlich genauso zutreffend, dass Verständigung ohne Sprache (jedenfalls zwischen uns Menschen) nicht hinreichend möglich ist. Und das befördert uns geradewegs zur Kraft der Verwandlung, die dem gesprochenen Wort innewohnt. Wie weltbewegend kann “nur ein Wort” sein, wenn wir dadurch von unserer Angst befreit werden, ein vernichtendes Urteil könnte über uns verhängt sein. Ein gnadenlos fortbestehendes Nichtgenügen, ein ausweglos unentrinnbares “Nein” zu all unseren Versuchen, für unsere Wünsche, Bedürfnisse und Gefühle endlich Anerkennung zu erfahren, Annahme, Bestätigung, Verständnis: Der Freispruch des Lebens in Gestalt eines anderen Menschen – der in menschlicher Sprache zu uns spricht. Zum Beispiel: “Es tut mir leid.” Oder: “Du bist mir wichtig.” Und womöglich sogar: “Es ist gut, dass es dich gibt. Und zwar genau so, wie du bist.” Derlei Reden als eine Antwort ins Dasein des Gegenübers kann selbst Tote zum Leben erwecken.

“Es tut mir leid, dass ich dein Bild von mir zerstört habe. Aber irgendwann war es mir einfach nicht mehr möglich, ihm noch weiter zu entsprechen. Wobei ich durchaus eine erhebliche Veranlagung dazu in mir trage, die ist geradezu gefickt eingeschädelt. Ich versuche mich dadurch den unausgesprochenen Wunschvorstellungen der Menschen anzugleichen, die mir viel bedeuten, deren Liebe und Anerkennung ich nicht verlieren will. Doch ich begreife, dass es nicht gut für mich ist, wenn ich mich zwischen mir selbst und dem, was ich gern für jemand anderen sein möchte, zerreiße. Bitte, verzeih mir …”

Er stand auf, fühlte die Traurigkeitund machte sich trotz alledem auf den Weg.

Die Worte Pfingstwunder und Literatur müsste man hier gar nicht mehr herschreiben – man kann es aber.

Der Geist weht, wo er will.

 

 

Maibam Oida

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 5. MaiWir vorverlegen uns diesmal um eine Woche, weil die Radiofabrik zum Internationalen Tag der Pflege am 12. Mai 2023 eine “Lange Nacht der Pflege” der Pflegestützpunkt-Redaktion von Radio Helsinki übernimmt/ausstrahlt. Da stellen wir keinen Bam auf – das werden wir auf jeden Fall unterstützen. Abgesehen davon – Maibam oder mei Bam? Oder hängt das nicht eh alles unentwirrbar zusammen mit der allgemeinen Selbstermächtigung des Frühlings? “Des is mei Bam”, rief ich aus, als ich ihm unlängst wieder begegnete. Ich hatte ihn nämlich in den 60ern (da waren wir beide noch sehr klein) gemeinsam mit meinem Vater aus einer entlegenen Fichtenplantage befreit und ihn danach in den Garten meiner Tante verpflanzt. Dort steht er noch heute: Lebendiges Trotz alledem.

Maibam Oida KirchenturmOb Bam, Bimbam oder Maibam – wir spüren jener Lebenskraft nach, die allfrühlinglich das Wachsen, Werden und Wiederauferstehen in der Natur (auch in der Natur des Menschen!) bewirkt. Und jenen Kräften, die dem Austrieb entgegen wirken und die uns vom fröhlichen Erigieren himmliger Fruchtbarkeitssymbole abzubringen trachten. Das wird ein Reigen der widersprüchlichen Gefühlszustände, jedoch mit Betonung auf dem Kraftvollen, das eher nicht in äußerlichem Protz besteht (hihi), viel mehr in innerer Bewegung. Oder – was macht das Gras wachsen? Was genau? Eben. Und in diesem Sinn einer Hinwendung zum Kern der Kulturgeschicht’ kannvom Penis bis zum Glockenturm – alles vorkommen, was zu einer ordentlichen Emanzipation von den erfundenen Beherrschvereinen taugt. Hoch die internationale Maibamfeier und Freundschaft dem Frühlingserwachen! Keine noch so perfekte Weltausbeutung kann das Leben an sich zerstören. Doch sie kann es für uns unerträglich machen – und dagegen gilt es nicht enden wollend anzusenden – was wir hiermit wieder tun.

Maibam Oida ÖtscherpenisIm Freien Radio – was ja schon insofern sympathisch ist, als es demokratische Entscheidungen ermöglicht, die sich einer falsch verstandenen Sprachhygiene (“Dirty Words”) verweigern und uns so genügend Freiraum für den legendären Schwanz aus der “Alt-Wiener Futoper” bereitstellen. Es geht hier um Lebenskraft, auch im Widerstand gegen die drohende Auslöschung. Und angesichts des schon bald bevorstehenden 100. Geburtstags von Ernst Jandl müssen wir uns mit aller Entschiedenheit seiner eigenen Forderung anschließen: “Ich will, dass meine Sprechgedichte weiter ertönen, auch über die kurze Dauer meiner Stimme hinaus.” Dabei meinte er die “kurze Dauer” seiner Lebenszeit. Entschuldigen sie hin oder her – es muss weiter gejandelt werden! Wesentliches auch jenseits des “kommerziellen Mainstream” wieder beleben – und bewahren, das ist unser subjektives Interesse. Ähnlich gestaltete derlei Brita Steinwendtner

Maibam Oida PhantasieDie Welt der Kunst, Musik, Literatur bietet sich darüber hinaus zur freien Entnahme in Gestalt einer inneren Zeitreise an. Du wanderst durch dein Leben und nimmst, je nachdem, was dich gerade anspricht, etwas aus den Regalen der unendlichen Möglichkeit, eine Geschichte, ein Lied, eine Lesung, ein Gedicht, ein Stück, ein Bild, ein Erlebnis … Und du nimmst es in dich auf, spiegelst dich darin, erkennst dich selbst wieder in etwas, das jemand ganz anderer vor langer Zeit, oder erst unlängst, aufgenommen, aufgeschrieben, aufgezeichnet hat. Ziemlich zufällig und ohne vorherigen Plan entdeckst du deine Welt in der Welt vieler Welten und wirst dadurch immer reicher an Erfahrung, die du mit ihnen allen teilst. Du hast Gefühle (sind es deine oder sind es ihre?) und willst sie ausdrücken (so wie die anderen oder so, wie es für dich stimmig ist?). Du sprichst vom Zauber der Verwandlung und vollführst (ist es dir bewusst oder ereignet es sich einfach so?) magische Phantasie. Denn in der Imagination steckt schon die Magie. Und in der Vorstellungswelt der Vielen, wie auch in deiner eigenen, warten längst viele Ausdrucksformensprungbereit wie die Knospen der Bäume im Frühling.

Alles was du siehst gehört dir.

 

Auslöschung

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 30. April – An diesem Sonntag im April jährt sich zum 85. Mal die “Salzburger Bücherverbrennung”, die kurz nach dem “Anschluss” Österreichs 1938 von fanatisierten Salzbürgern (und -innen!) inszeniert worden ist. Und auch in diesem Jahr lädt die Inititive Freies Wort wieder zum Gedenken an die Auslöschung von Gedanken, Worten und eben auch menschlichen Existenzen ins Literaturhaus – zum “Widerstand” (am Sonntag, 30. April um 11:00 Uhr). Wir fragen uns, wer damals alles “verbrannt” worden ist und was die da so geschrieben haben, dass es gar so dringend “ausgemerzt” werden sollte. Wir bieten Innenansichten aus dem Werk von Stefan Zweig und überlegen uns, was das mit einem Autor (oder einer Autorin) macht, wenn er/sie in Todesangst aus der eigenen Sprachheimat weg muss.

Licht am Ende

“Aber wenn auch nur ein Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, dem unsere Väter dienten, menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute. Und etwas in mir kann sich geheimnisvoller Weise trotz aller Erkenntnis und Enttäuschung nicht ganz von ihm loslösen. Was ein Mensch in seiner Kindheit aus der Luft der Zeit in sein Blut genommen, bleibt unausscheidbar. Und trotz allem und allem, was jeder Tag mir in die Ohren schmettert, was ich selbst und unzählige Schicksalsgenossen an Erniedrigung und Prüfungen erfahren haben, ich vermag den Glauben meiner Jugend nicht ganz zu verleugnen, dass es wieder einmal aufwärts gehen wird trotz allem und allem. Selbst aus dem Abgrund des Grauens, in dem wir heute halb blind herumtasten mit verstörter und zerbrochener Seele, blicke ich immer wieder auf zu jenen alten Sternbildern, die über meiner Kindheit glänzten, und tröste mich mit dem ererbten Vertrauen, dass dieser Rückfall dereinst nur als Intervall erscheinen wird in dem ewigen Rhythmus des Voran und Voran.” So beschreibt Stefan Zweig im Exil rückblickend seine verlorene Welt der Sicherheit – in seinen posthum erschienen Erinnerungen eines Europäers Die Welt von Gestern. Traurig, aber wahr.

Und die Frauen? Wir haben eine Dichterin entdeckt, die nach ihrer Vertreibung dort geblieben ist, wo man sie aufgenommen hat – und die das Tragische des Dichters im Exil in ihrem gleichnamigen Gedicht meisterhaft zum Ausdruck bringt. Damit wollen wir euch jetzt euren Zuständen überlassen – und euch zugleich zum Zuhören einladen, denn in unserer Sendung gibt es noch mehr zu entdecken von und mit Bertolt Brecht, Theodor Kramer, Stefan Zweig, Carl Zuckmayer und eben jener Stella Rotenberg:

Der Dichter im Exil

Mir muss Vergessenes reichen;
mit Verschollenem halte ich Haus.
Aus Verdämmerndem klaube
ich Scherben von Silben zu Wörtern heraus.

Das sind noch gesegnete Tage.
Scherben sind endlicher Hort.
Wo hole ich, wenn die Verstummung kommt
Buchstaben für mein Wort?

 

PS. Empfehlenswerte Materialsammlung, bereitgestellt vom Friedensbüro Salzburg – rund um die Salzburger Bücherverbrennung und durchaus noch darüber hinaus.

 

Urwald und Gefühle

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. April – Es war mein Freund und Kollege Christopher Schmall, hier besser bekannt als der Hase, der beim Betrachten von einigen wundersamen Fever-Ray-Videos zu ihrem Album “Radical Romantics” ein wiederkehrendes Motiv entdeckte: In eine von technischen Geräten und Abläufen geprägte Welt dringt immer wieder elementare Natur als ungezähmte Wildnis ein. Und dieses Element wild wuchernden Lebens, das da auftaucht, das beglückt und auch verstört, das drängt sich als gelungene Metapher für unser Gefühlsleben auf. Schon bei unserem ersten Gespräch über diesen Umstand erinnerte ich mich sofort an meine intensiven Gefühle, die ich vor Jahrzehnten im Urwald von Dürrenstein” erlebt habe – und die mich in ihrer abgründigen Ambivalenz seither beschäftigen.

Urwald und GefühleSind wir heutigen Menschen nicht immer in zwei unterschiedlichen Welten zugleich zuhause? In der technisierten Welt, in der wir die Summe vieler Errungenschaften der gesamten Menschheit im Umgang mit der Natur wie selbstverständlich anwenden. Und in der Gefühlswelt, in der uns nach wie vor die selben Elementarereignisse umtreiben wie zu Beginn der Kulturgeschichte oder als Kind: Freude ist und bleibt Freude, Angst ist und bleibt Angstdas Unwägbare ist und bleibt unwägbar, auch wenn wir noch so viel Sicherheit einziehen. Wir können unsere elementare Gefühlsnatur nicht portionieren und in Dosen abfüllen – jedenfalls nicht, wenn wir in elementare Situationen unseres Lebens geraten, so wie jene, mit denen sich Fever Ray auseinandersetzt. Etwa gewohnte Sicherheiten loslassen zu müssen, um sich einem anderen Menschen rückhaltlos anzuvertrauen, um Liebe zu erleben, eine neue (oder eh immer schon die eigentliche) Identität einzunehmen.

Die Kunst besteht darin, in beiden Welten zu leben, ohne die eine gegen die andere auszuspielen. Ohne die eine auf Kosten der anderen als die einzig wahre, als allein seligmachend zu begreifen. Sie verstehen lernen, sie verändern und gestalten, und sie nicht zerstören. Das ist meine Idee von so etwas wie Frieden, der bei sich selbst beginnt. Einmal habe ich mich sehr gleichzeitig in diesen beiden Welten befunden: Und zwar als ich eines Nachts in einem fahrenden Auto einer Bärenmutter mit zwei Jungen begegnet bin, die in der selben Richtung die Straße entlang gelaufen sind …

und ich einen Moment innehalten konnte.

 

Far more in common

> Sendungen: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 14. April“We have far more in common than that which divides us.” (Zitat von Jo Cox) Ich kann mir ja auch nie sicher sein, ob man rinks und lechts wirklich so schwel velwechsern kann – und ob das da auf dem Bild noch ein Baum ist oder schon ein Witz, den diese Stadt über sich selbst erzählt. Wir wagen einen Versuch wie immer mit kontrastierender Musik und kontroversen Texten, doch ohne ­“Moral von der Geschicht”. Die ist und bleibt ein offenes Ende und der eigenen Phantasie überlassen. Das Schöpferische in uns will nämlich zur Geltung kommen und soll dabei schön zweckfrei bleiben dürfen! Es geht ums Herzeigen und ums Verstecken, aber gleichzeitig und ausgewogen. Da kann ich mich verbinden ohne zu verschwinden. Das beglückt und schmerzt zugleich.

Far more in common (Hase 1)Ich liege nackt auf dem nassen Boden. Über mir flimmert goldenes Licht. Blätter fallen auf meine Haut – ein Atemhauch vergangener Träume. Ich spüre die Stille um mich herum und nehme sie an. Ich umarme die langsame Ruhe, das Schreien der Vögel, das Surren der Insekten, die Fühler der Ameisen. Ich bleibe liegen. Warte auf etwas, ohne zu wissen auf was. Ich weiß nur es wird kommen … Vom Wesen des Hasen inspiriert zu einem friedvolleren und gewaltfreieren Menschendasein – auf einer Welt voller Verbrecher und folgsamer Idioten. Gefängnis fürs bloße Äußern der eigenen Meinung. Majestätsbeleidigung! Zugegeben, die real existierenden Nazis waren viel brutaler – der geistige Stoff aber, aus dem ihre Terrorherrschaft bestand, war schon längst vorhanden (er ist es immer noch): Obrigkeitsglaube, Gehorsamkeit und gewissenloses Nachplappern der vorgeschriebenen Parolen (jetzt denkt mal selbst, welche das heutzutage sind). Willkommen im Zwischen und auch hinter den Zeilen!

Far more in common (Hase 2)Denn dieser Text besteht fast ausschließlich aus Ausschnitten unserer begleitenden Artikel aus 12 Jahren gemeinsamer Kunnst. Und die Auswahl der einzelnen Passagen wie auch die Zusammenstellung erfolgt möglichst spontan, unter Umgehung der bewussten Kontrolle und Berechnung – soweit nur irgend möglich, wenn man einen Artikel zu einer Sendung verfasst. Könnten nicht noch spannendere Einblicke ins üblicherweise Unerkannte, Unerforschte, Unaussprechbare zum Vorschein kommen, wenn man Bücher an einer völlig beliebigen Stelle aufschlüge, das so Gefundene daraus vorläse – und sich auf diese Weise eine noch nie zuvor gefundene Geschichte – erzählte? Eine Technik, die wir aus dem uralten Brauch des “Bibelstechens” ableiten und die wir heute als “erweitertes Bücherstechen” bezeichnen – und auch anwenden wollen. Es macht nämlich großen Spaß, das zu ergründen, was da in und um uns wirksam und immer vorhanden ist und was wir gemeinhin nicht bewusst wahrnehmen oder erkennen können. Nicht, dass wir dem, was sich da ereignet, einen Namen geben oder sonstwie eine Definition überstülpen müssten. Nein, es mag, wie wirklich es auch immer sei, im Unverfügbaren verbleiben – und uns auf seine Art begegnen.

Far more in common (Hase 3)… zurück zur Versenkung in den Abgrund des Endlichen und zu der restlos unguten Stimmung, die beim Betrachten der eigenen Ausweglosigkeit aufkommt. Noch dazu inmitten einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Betrügern und Berserkern zugrunde gerichtet wird, dass es nur so kracht. Wie heilsam wäre in dieser Situation ein herzhaftes Lachenkönnen und das Gefühl, sich mit Sprachwitz und Verstand zumindest gegen ein paar Erscheinungsformen der allumbrodelnden Verblödungsindustrie eloquent zur Wehr zu setzen. Wer klopfet an? Asylsuchende Assoziationen auf ihrer Fluchtfahrt durch die Dunkelheit ans Licht. Die etwas andere Betrachtungsweise der uns interpretiert überlieferten Geschichte(n). Gruslig schön lustig und freischwebend. Frohgemute Verwurstung von Kulturstrandgut entgegen jeglicher Marktlogik. Keine Ahnung, was sich daraus dann im Verlauf der Sendung ergeben wird, aber irgendeinen dramaturgischen roten Faden braucht es immer …

Wir sind ein geiles Institut.

 

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. März“Adorno? Auf den berufen sich viele.” So hört es sich oft an, wenn die Geschichte an einem (oder einer anderen) vorbeifliegt und ihre Schwingen einen plötzlich anrühren. Komm, schwarzer Vogel. Oder doch ein Engel erlösender Erkenntnis? Die Sehnsucht nach dem möglichen Glück, dessen Erinnerung unter all dem Gerümpel unserer entgleisten, verbeulten und beschädigten Liebe wahrzunehmen wäre, wenn wir uns nur selbst ins Gesicht schauen könnten, ohne die Angst, am eigenen Spiegelbild zu zerbrechen. Haben wir uns nicht immer wieder einmal zwischen Lebensmut und Todeslust befunden? Was kommt von außen – und was von innen? Und wer zur Hölle spricht da? Wer, wenn nicht ich? Himmelhoch jauchzend – dabei zugleich zum Leben betrübt

Es gibt kein richtiges Leben im falschenEine angejahrte Dokumentation aus der kulturellen Treibgutsammlung unserer Individualitätsinsel sollte dabei helfen, den unüberbrückbar scheinenden Selbstwiderspruch in der radikalen Denkwelt aufzulösen:

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen”

Und es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem Fehlen von Liebe und unserem Wissen um ihr Dasein. Eine Spur, die uns der wirklich kluge Alexander Kluge legt, indem er einfühlsam und verständig Adornos Lebensgeschichte mit der uns alle umgebenden Weltgeschichte (“es ist falsch gelaufen”) verknüpft. Eine Spur, die wir als roten Faden zum Verstehen unserer Gegenwart im Spiegel von Adornos weit über seine Zeit hinaus wirksamem Denken aufnehmen – und darstellen wollen. Und wenn es ein glückhaftes Zusammentreffen mehrerer quasi als Flaschenpost überlieferter Wahrheiten gibt – was ist eigentlich die Mehrzahl von Flaschenpost?

Ich bin oft ziemlich zerrissen zwischen meiner Vorstellung vom “richtigen Leben” und dem, womit mich die Realitäter*innen in meiner Erfahrung konfrontieren. Ein Zustand, der mich immer wieder krank und unglücklich macht. Nichtsdestoweniger suche ich unentwegt (oder “sucht es in mir”?) nach einer sinnvollen Verbindung mit dem, was da gewesen sein muss, bevor “es falsch gelaufen ist”. Dabei geriet mir unlängst wieder “Das Buch von der Liebe” von Ernesto Cardenal in die Hände und ich las das Vorwort von Thomas Merton. Könnte das vielleicht eine Erklärung sein?

Eine heiße Spur?