Urwald und Gefühle

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 23. April – Es war mein Freund und Kollege Christopher Schmall, hier besser bekannt als der Hase, der beim Betrachten von einigen wundersamen Fever-Ray-Videos zu ihrem Album “Radical Romantics” ein wiederkehrendes Motiv entdeckte: In eine von technischen Geräten und Abläufen geprägte Welt dringt immer wieder elementare Natur als ungezähmte Wildnis ein. Und dieses Element wild wuchernden Lebens, das da auftaucht, das beglückt und auch verstört, das drängt sich als gelungene Metapher für unser Gefühlsleben auf. Schon bei unserem ersten Gespräch über diesen Umstand erinnerte ich mich sofort an meine intensiven Gefühle, die ich vor Jahrzehnten im Urwald von Dürrenstein” erlebt habe – und die mich in ihrer abgründigen Ambivalenz seither beschäftigen.

Urwald und GefühleSind wir heutigen Menschen nicht immer in zwei unterschiedlichen Welten zugleich zuhause? In der technisierten Welt, in der wir die Summe vieler Errungenschaften der gesamten Menschheit im Umgang mit der Natur wie selbstverständlich anwenden. Und in der Gefühlswelt, in der uns nach wie vor die selben Elementarereignisse umtreiben wie zu Beginn der Kulturgeschichte oder als Kind: Freude ist und bleibt Freude, Angst ist und bleibt Angstdas Unwägbare ist und bleibt unwägbar, auch wenn wir noch so viel Sicherheit einziehen. Wir können unsere elementare Gefühlsnatur nicht portionieren und in Dosen abfüllen – jedenfalls nicht, wenn wir in elementare Situationen unseres Lebens geraten, so wie jene, mit denen sich Fever Ray auseinandersetzt. Etwa gewohnte Sicherheiten loslassen zu müssen, um sich einem anderen Menschen rückhaltlos anzuvertrauen, um Liebe zu erleben, eine neue (oder eh immer schon die eigentliche) Identität einzunehmen.

Die Kunst besteht darin, in beiden Welten zu leben, ohne die eine gegen die andere auszuspielen. Ohne die eine auf Kosten der anderen als die einzig wahre, als allein seligmachend zu begreifen. Sie verstehen lernen, sie verändern und gestalten, und sie nicht zerstören. Das ist meine Idee von so etwas wie Frieden, der bei sich selbst beginnt. Einmal habe ich mich sehr gleichzeitig in diesen beiden Welten befunden: Und zwar als ich eines Nachts in einem fahrenden Auto einer Bärenmutter mit zwei Jungen begegnet bin, die in der selben Richtung die Straße entlang gelaufen sind …

und ich einen Moment innehalten konnte.

 

Es gibt kein richtiges Leben im falschen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 26. März“Adorno? Auf den berufen sich viele.” So hört es sich oft an, wenn die Geschichte an einem (oder einer anderen) vorbeifliegt und ihre Schwingen einen plötzlich anrühren. Komm, schwarzer Vogel. Oder doch ein Engel erlösender Erkenntnis? Die Sehnsucht nach dem möglichen Glück, dessen Erinnerung unter all dem Gerümpel unserer entgleisten, verbeulten und beschädigten Liebe wahrzunehmen wäre, wenn wir uns nur selbst ins Gesicht schauen könnten, ohne die Angst, am eigenen Spiegelbild zu zerbrechen. Haben wir uns nicht immer wieder einmal zwischen Lebensmut und Todeslust befunden? Was kommt von außen – und was von innen? Und wer zur Hölle spricht da? Wer, wenn nicht ich? Himmelhoch jauchzend – dabei zugleich zum Leben betrübt

Es gibt kein richtiges Leben im falschenEine angejahrte Dokumentation aus der kulturellen Treibgutsammlung unserer Individualitätsinsel sollte dabei helfen, den unüberbrückbar scheinenden Selbstwiderspruch in der radikalen Denkwelt aufzulösen:

“Es gibt kein richtiges Leben im falschen”

Und es gibt einen Zusammenhang zwischen diesem Fehlen von Liebe und unserem Wissen um ihr Dasein. Eine Spur, die uns der wirklich kluge Alexander Kluge legt, indem er einfühlsam und verständig Adornos Lebensgeschichte mit der uns alle umgebenden Weltgeschichte (“es ist falsch gelaufen”) verknüpft. Eine Spur, die wir als roten Faden zum Verstehen unserer Gegenwart im Spiegel von Adornos weit über seine Zeit hinaus wirksamem Denken aufnehmen – und darstellen wollen. Und wenn es ein glückhaftes Zusammentreffen mehrerer quasi als Flaschenpost überlieferter Wahrheiten gibt – was ist eigentlich die Mehrzahl von Flaschenpost?

Ich bin oft ziemlich zerrissen zwischen meiner Vorstellung vom “richtigen Leben” und dem, womit mich die Realitäter*innen in meiner Erfahrung konfrontieren. Ein Zustand, der mich immer wieder krank und unglücklich macht. Nichtsdestoweniger suche ich unentwegt (oder “sucht es in mir”?) nach einer sinnvollen Verbindung mit dem, was da gewesen sein muss, bevor “es falsch gelaufen ist”. Dabei geriet mir unlängst wieder “Das Buch von der Liebe” von Ernesto Cardenal in die Hände und ich las das Vorwort von Thomas Merton. Könnte das vielleicht eine Erklärung sein?

Eine heiße Spur?

 

vom echten reden

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 19. FebruarAuf gute Nachbarschaft! Begegnen wir einander, indem wir uns gegenseitig einladen und mitsammen “vom echten reden”. Die Kleinschreibung ist hier auch programmatisch, denn ob unsere Sendung heute “vom echten Reden” handelt oder ob wir mehr “vom Echten reden” oder ob beides halt zwei Aspekte von dem sind, was wir mit unserer Kollegin Mickey gemeinsam haben, das soll sich in unserem gegenseitigen Sendungsbesuch dann live und spontan ergeben. Wir (die Hasen) werden also heute bereits um 16:00 Uhr bei “What’s Next – Diskussion? Musik? Interview? Unvorhersehbar” zu Gast sein, danach gibts zur Entspannung die BBC-News, und schwuppdiwupp haben wir schon die Plätze getauscht, um unsere neue Sendeplatznachbarin bei uns zu bewirten

vom echten redenUnvorhersehbar, das sind wir ja sowieso gern (unlängst erst haben wir “das Unverfügbare” vorgestellt) und es ist auch ein gutes Stichwort für die einzigartigen Möglichkeiten, die Freies Radio (im Gegensatz zum privat-kommerziellen oder öffentlich-rechtlichen) der Entwicklung der Sendungsmacher_innen und ihrem Gestalten bietet. Hier wird nicht zuerst berechnet, was die “relevanten Zielgruppen” hören wollen (sollen) und daraufhin ein geschmeidig gleichklingendes Beliebtheitsformat erzeugt, damit am anderen Ende des Empfängnisgeräts die erwünschten Ergebnisse eintreten: “Österreich ist schön! Geiz ist geil! Schuld ist nur der Sündenbock!”

In der Radiofabrik sind Menschen am Werk, die so verschieden sind wie ihre vielen Interessensgebiete. Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen etwas davon mitteilen, was sie beschäftigt. Die das deswegen tun, weil sie es von sich aus wollen und weil sie dadurch andere Menschen mit etwas aus ihrem Leben berühren können. Dass sich das je nach Lebenssituation und Stimmungslage immer wieder mal anders anfühlt und eben auch anhört, das ist eigentlich selbstverständlich. Hier begegnen einander also Menschen, die man beim Hören noch spüren kann. Und das tut gut!

Daher freuen wir uns schon auf die Begegnung mit einer jungen Kollegin, die dieses Alleinstellungsmerkmal des Freien Radios, nämlich einfach “zu reden, wie ihr der Schnabel gewachsen ist”, auf ihre ganz eigene Art verwirklicht. Und das wollen wir diesmal mit ihr zusammen: Darüber reden, wie das so ist mit dem “darüber reden”. Schauen wir einmal, was dabei zu hören sein wird – und eben auch zu spüren. Wir sind davon überzeugt, dass die unsichtbaren Berührungen und Verbindungen, die so zustande kommen, Germ der Gesellschaft sind. Und das ist mehr als nur Radio.

Einen solchen gesellschaftlichen Mehrwert oder neudeutsch “Public Value” kann man auch wissenschaftlich erklären. Und wir sind daran beteiligt, ihn zu erschaffen!

 

Wenn Worte reden könnten

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. Februar“Ich bin grundsätzlich der Auffassung, dass ein Bühnenprogramm von mir auch immer energetisch zu sein hat. Es muss Druck aufgebaut werden. Dann bleiben die Leute wach, wenn man Glück hat, wobei ich hier ein bißchen Pech habe, glaub ich, in der ersten Reihe, aber das ist mir ganz wichtig, es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Fernsehen ankucken find ich…” So sprach Jochen Malmsheimer bei unserer ersten Begegnung nach einem seiner furiosen Auftritte in der ARGEkultur. Und seitdem ist er in unseren Sendungen immer wieder als Beitragstäter aus der Welt des entfesselten Worts gut zu hören gewesen – und das wird er auch heute wieder: “Wenn Worte reden könnten oder Vierzehn Tage im Leben einer Stunde” macht Literatur zum Bühnenerlebnis.

Wenn Worte reden könntenDass er diesmal auch prominent in der Nachtfahrt vorkommt, das hat mit der inneren Auswirkung seiner Wortfluten zu tun. Die reißen einen nämlich geradezu mit hinein in einen Strudel aus Szenen, Stimmen und Stimmungen, dazu noch in derart mehrfacher Gleichzeitigkeit, dass es einem beim bloßen Zuhören die Glückshormone durch sämtliche Synapsen spült. Jochens präzise formulierte Beobachtungen aus dem seltsamen, bizarren und absurden Verhaltenszoo der an- und verwesenden Menschenleute sind für sich allein schon köstliche Kunst, entfalten jedoch durch die Übersteigerung ins Phantastische noch eine weitere Wirksamkeitsebene, mit der wir unvermittelt in die unendliche Bilderwelt unserer Vorstellungskraft eintreten. Vor allem aber müssen wir immer und immer wieder lachen, zumal wir die meisten der hier dargestellten Schrägheiten aus dem Menschentum schon selbst beobachtet und dabei innerlich kommentiert haben, nur eben nicht so verdichtet ausformuliert.

Der Witz ist das Zusammentreffen einer möglichen mit einer unmöglichen Ebene. Es von der Bühne herab (oder aus dem Ohrenkopf) präsentiert zu bekommen, dass wir den unsäglichen und oft unerträglichen Irrwitzigkeiten des uns umplempernden Weltgedümmels durchaus auch wortgewaltsam entgegentreten können, das lässt uns, jedenfalls in der Phantasie, Selbstwirksamkeit erfahren. Erinnern wir uns dabei an das Mediopassiv (Hartmut Rosa), so stellen wir fest, dass wir weder allmächtig noch ohnmächtig sind, sondern sowohl aktiv als auch passiv am Dasein beteiligt.

Wir sind grundsätzlich der Ansicht, dass Jochen Malmsheimer erlebt gehört. Es muss knallen, weißte, alles andere kann man sich auch im Radio anhören. Daher rufen wir: Treten sie zu – im Hörtheater unseres Vertrauens! Wenn Worte reden könnten, dann könnten Zahlen rechnen? Worte können unsere Welt verwandeln, wenn man sie lässt.

Radio Artarium feat. Gunkl & Malmsheimer

 

Das Unverfügbare

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. Januar – Zwischen der Versenkung in den Abgrund der Endlichkeit und dem ausgewachsenen Weltuntergangshumor gibt es einen Übergang, der mitunter kaum wahrnehmbar ist. Ähnlich wie derjenige zwischen Euphorie und Depression, der sich im winzigkleinen “synaptischen Spalt” abspielt. Oder überhaupt der zwischen Wollen und Vollbringen. Überall dort, wo es zu einem Übergang zwischen dem Einen und einem Anderen kommt, ist das Unverfügbare. Der Soziologe Hartmut Rosa (dessen Arbeiten über Beschleunigung und Resonanz wir bereits eine Sendung widmeten) hat inzwischen ein wohltuend gescheites Buch über das Phänomen der Unverfügbarkeit geschrieben, dem wir uns heute in einigen Aspekten zuwenden wollen, etwa im Vergleich der Druckausgabe mit dem Hörbuch.

Das UnverfügbareGetreu unserem bekannten Bestreben, einen Autor auch jenseits seiner Bücher erlebbar zu machen, stellen wir die von Axel Wostry gelesene Hörprobe einem von Hartmut Rosa vor Studenten gehaltenen Vortrag gegenüber. Einem Vortrag übrigens aus der Ringvorlesung der Europa-Universität Flensburg, deren zweiteiliger Aufbau (jeweils vor und nach der Corona-Pandemie) das Thema Unverfügbarkeit auf drastische Weise veranschaulicht. Der Wettbewerb “Eine Uni – ein Buch” (aus dem die Veranstaltung in Flensburg hervorging) ist sowieso ein Höhepunkt an fächerübergreifender Bildungsvermittlung, wie er hierzulande leider nirgends, und zwar nicht einmal in Ansätzen, stattzufinden scheint. Warum ist das so?

An dieser Stelle (gar nicht unabsichtlich) zurück zur Versenkung in den Abgrund des Endlichen und zu der restlos unguten Stimmung, die beim Betrachten der eigenen Ausweglosigkeit aufkommt. Noch dazu inmitten einer Welt, die an allen Ecken und Enden von Betrügern und Berserkern zugrunde gerichtet wird, dass es nur so kracht. Wie heilsam wäre in dieser Situation ein herzhaftes Lachenkönnen und das Gefühl, sich mit Sprachwitz und Verstand zumindest gegen eine der Erscheinungsformen der allumbrodelnden Verblödungsindustrie zur Wehr setzen zu können! Versuchen wir es diesfalls mit Jochen Malmsheimer und seiner fulminanten Parodie einer Radio-Talk-Show zum Thema “Hebe-Kipp-Fenster und Schiebe-Dreh-Türen”. Inmitten all des uns zerquasselnden Entertainzements so etwas wie “Weltuntergangshumor”.

 

Wir Spätmodernen

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 22. Januar – Es war einmal ein Büchermensch, der in ein Gefängnis gesperrt worden war, mitten zwischen all die Berufsverbrecher mit ihren unterschiedlichen Gewaltausbildungen. Eines Tages fragte ihn der Anführer einer Einbrecherbande: “Was sollen wir mit dir anfangen, du blasses Bürscherl?” Worauf er antwortete: “Vielleicht bringt euch das eine oder andere, von dem ich euch erzähle, auf neue Gedanken. Vielleicht sogar dort, wo ihr bisher noch nicht hingedacht habt. Wenn nicht, ist es einfach Unterhaltung.” Und mit der Zeit wurde er, ob er wollte oder nicht, zu einem angesehenen Mitglied der Häfenbruderschaft. Was können wir daraus lernen? Die Moral von der Geschicht – ist die Geschicht. (Axel Corti). Und alles ist relativ – auch das mit der Freiheit und der Unterhaltungsindustrie. (frei nach Albert Einstein).

Wir SpätmodernenWir stehen doch alle im Fluss des Lebens und suchen nach dem einen oder anderen Körnchen WahrheitWillkommen in der Metapher – das für uns von besonderem Wert sein könnte. Nach einem neuen Impuls, der uns über den Stillstand hinaus befördert und uns glücklich macht. Nach dem nächsten Thema oder einfach einer winzigkleinen Idee, damit wir unserem Leben jenseits des “da kommt eh nichts mehr” wieder einen Sinn geben können. Und wenn nicht, dann befinden wir uns im Suchen selbst schon mitten “im Flow” und von Natur aus im Glückszustand zwischen Überforderung und Langeweile. Ein vielfach Hoch auf die daran (auch ganz ohne äußere Drogen) beteiligte Hirnchemie. Wir sind allesamt Kinder, die allein schon in der Tätigkeit des Goldwaschens oder Perlentauchens oder eben Sinnsuchens aufgehen. Betrachten wir also, was meist unbeobachtet vor sich geht – und zeigen wir einander, was wir dabei alles entdecken können.

In unserem Fall sind das Bücher, Gedanken und Themen, die wir in uns aufnehmen und die wir durch uns weiter entwickeln. Gedichte und Geschichten, die etwas in uns zum Klingen bringen und die sich dadurch auch in etwas Eigenes verwandeln, das wir wiederum weitergeben können. Und Musikstücke, die in ihrer Stimmung dazu beitragen, die vielen einzelnen Gedankenfäden zu einem größeren Erzählteppich zu verweben und Gefühlszustände, Erinnerungsfragmente sowie innere Bilderfluten mit dem Außenwelttheater in Zusammenhang zu bringen. Was hast du so gemacht?

Ach ja – Jeff Beck ist jetzt auch gestorbenDoch Venus in Furs wird uns bleiben.

 

Ein unkastrierter Kater

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 8. JanuarMichael Köhlmeier hat es also wieder getan: Er hat ein Buch geschrieben. Einen weit ausladenden Roman. Noch dazu aus der Perspektive eines Katers, der in seinem siebten Leben seine sechs vorangegangenen erzählt, also quasi seine Memoiren schreibt, die wir auf knapp 1000 Seiten lesen oder (fast noch besser) als gut 40-stündiges Hörbuch von ihm selbst vorlesen lassen können. Der Kater heißt Matougenauer Monsieur Matou – und das bedeutet, dass er ein unkastrierter Kater ist, worauf er großen Wert legt, wie wir in seinem Bericht, unter vielem anderen, erfahren. Denn die sieben Leben dieses sprechen und schreiben könnenden Katers fangen bei der französischen Revolution an – und reichen bis zur studentischen Gegenwart in Wien und Berlin.

Katzen und ein unkastrierter KaterInklusive seiner jeweils dazwischen liegenden Aufenthalte “im Weggemachten”, einer von uns Menschen eher unbeholfen als “Jenseits” beschriebene Dimension. Eine Zwischenwelt des Übergangs von einem vergangenen in ein neues Leben, das sich die darin befindlichen Katzen selbst aus einem “Katalog” auswählen können. Hier berührt uns der in dieses Buch verdichtete Schatz aus all den verschiedenen Lebensthemen und Arbeiten seines Autors – und den wollen wir in dieser Sendung endlich zu Gespür bringen. Denn nichts ist sinnloser und missverständlicher als die unbeholfenen Versuche, diesen vielschichtigen Roman, der viel mehr als nur die Summe seiner Teile ist, auf irgendeine pseudosachbezogene Weise vorstellen, verkaufen, kritisieren oder interpretieren zu wollen. Diesem vielfach vollzogenen Schuss ins eigene Knie (gern auch in den Ofen, lieber Matou, der du dich sieben Leben lang an der Verwendung von Metaphern durch uns Menschen abarbeitest) liegt ein weltumspannender Irrtum zugrunde – nämlich das Nichtverstehen und somit das Nichtunterscheidenkönnen von rechtshemisphärisch und linkshemisphärisch geprägten Denkprozessen. In linkshemisphärisch geprägten Kategorien ist Köhlmeiers Welt nicht zu begreifen.

Was in vielen Rezensionen als ermüdender Mangel an Ordnung und Struktur beklagt wird (etwa das sprunghafte Erzählen des Katers Matou quer durch philosophische Gedanken, spontane Einfälle, Erinnerungen sowie geruchs-, geräusch-, gefühls- und vorstellungsbedingte Assoziationen, in Vor- und Rückblenden und sich zeitlos dehnenden Augenblicken undsoweiter), das ist die rechtshemisphärisch gestaltete Vielwelt aus Wechselwirkung und Gleichzeitigkeit, mit der das vielleicht gar nicht so geheime Leben der Phantasie im Erzählen wie im Zuhören Wirklichkeit wird

Michael Köhlmeier – Take a walk on the wild side

 

Lauf, Hase, lauf …

> Sendung: Artarium vom Weihnachtssonntag, 25. Dezember – Und wieder einmal ist es soweit: Christentum, Brauchtum, Konsumall das ineinander geschichtet und übereinander aufgetürmt, so undurchdringlich zuviel und alles auf einmal – da möchte manch Menschenkind gern die Flucht ergreifen oder lieber gar nicht dabei gewesen sein. Lauf, Hase, lauf … Es war übrigens Georg Danzer, der zusammen mit Wilfried Scheutz erstmals die Perspektive des Hasen in einen Popsong einführte, um so das ohnmächtige Ausgeliefertsein angesichts von Gewalt und Verfolgung deutlich zu machen. “They crept on your tail, I know you wonder why, you’re so easy to hurt” heißt es in der englischen Version. Und das veranschaulicht auf erschreckende Weise, wie schutzbedürftig wir alle wären – als Kinder, die wir immer sind – oder eben als Hasen.

Der Gott allerdings, der da im Text “der Jagd ein Ende macht” muss etwas ganz anderes sein als all die blöden (und bösen!) Bilder, die uns andauernd von ihm gemacht werden, egal von welcher Über-Ich-kompatiblen PR-Abteilung oder Weltanschauungsindustrie. Es geht doch stets ums Ausgenutztwerden, um falsche Heilsversprechen oder um den mit Todesstrafe drohenden Kinderschreck. Das “Fest der Liebe” ist, so wie es sich den Empfindsamen heute oft tatsächlich darstellt, eher eine Gefahr, der es zu entrinnen oder die es zu überleben gilt. Liebe Mitopfer der Menschenvernichtungsmaschine, wir sind auf eurer Seite – weil wir “die dunkle Seite” von Weihnachten genauso erleiden wie ihr. Wir können euch leider das Leid über die Ungerechtigkeit auf der Welt nicht einfach wegblasen, auch wenn wir nur allzu gern den Frieden auf Erden ausrufen und ihn von dem Moment an zusammen mit euch erleben möchten. Wir können euch leider auch den Schmerz über die Gemeinheit und Gefühllosigkeit von Menschen, die euch Schaden zufügen, nicht einfach so wegmachen. Aber wir können unseren Schmerz und unser Leid mit euch teilen, um auf diesem Weg gemeinsam durch die Finsternis unserer Einsamkeit zu gelangen.

Wollen wir dem Abgrund in uns standhaltendenn noch leben wir – und uns ein paar wirklich “besinnliche” Betrachtungen rund um die speziellen Seinszustände gefühlsmenschlicher Nachtfahrten zu Gemüte führen. Die eigenen Kinder nicht “in den Krieg geben zu wollen” etwa. Oder als Jugendlicher mit Elektroschocks ”von der Homosexualität geheilt werden zu sollen”. Im Rückblick eine Lebensbilanz voll von vergeblichen Versuchen zu entdecken. Und plötzlich ratlos und bestürzt vor dem drohenden Ende der Welt zu stehen: “We must stop this mindless consuming!”

United Vibrations – I am we

 

Frieden auf Erden und …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. DezemberGibt es so etwas wie eine “Weihnachtsthematik”? Wir wollen an diesem 4. Adventsonntag unserer Sehnsucht nach Frieden nachspüren. Mit “Frieden” kann dabei vielerlei gemeint sein – nicht bloß (aber durchaus auch) die oft zitierte “Abwesenheit von Krieg”. Das Einvernehmen mit sich selbst etwa. Das Wissen um ein für sich selbst und andere sinnerfüllendes Leben. Das Wahrgenommen- und Ernstgenommenwerden als Mensch auf dieser Welt. Das nicht von vorn herein zu irgendeinem Nutzzweck abkommandiert werden. Das nicht missbraucht, nicht geschlagen, nicht terrorisiert, nicht verletzt werden. Wir sehen schon – das sind eigentlich Selbstverständlichkeiten, die in der Welt, in der wir leben, so überhaupt nicht selbstverständlich sind. Jedes Kind müsste daran verzweifeln

Frieden auf ErdenWenn es nicht das Grauen, in das es hinein blickt, durch Abspaltung eines Teils seiner Gefühlswelt (und damit auch seiner Persönlichkeit) zu neutralisieren vermöchte, um weiter leben, um überhaupt überleben zu können. Seitdem, liebe Kinder und Mitkrüppel, leben wir teilamputiert und befangen im Zwischendrin von Über-Ich und Es, von Anpassung und Rebellion. Das klingt zunächst eher betrüblich und ausweglos. Ist es auch. Jedoch müssen wir für unsere Betrachtung unbedingt die Perspektive des Kindes einnehmen, um nachvollziehen zu können, wie sich das Nichtvorhandensein von Frieden und der verzweifelte Wunsch und die abgrundtiefe Sehnsucht danach anfühlen. Schließlich sind wir alle nach wie vor Kinder, ist all unser Erleben als Kind in unserer Erinnerung, auch in unserem Körpergedächtnis, dauerhaft abgespeichert. Und ganz egal, was wir da erlebt und erlitten haben (und durch welches Ereignis die einstige Ohnmacht und Ausgeliefertheit wieder hervorgerufen wird) – wir sehnen uns nur nach einem: Es soll endlich Frieden sein. Frieden auf Erden und Frieden in uns.

“Ich küsste gerne Mädchen. Ich küsste gerne Jungs. Und nach jedem Kuss habe ich mich gefragt, warum man sich da entscheiden muss.” Rainald Grebe formuliert diese tröstliche Wahrheit als Rückblick auf seine Kindheit und Jugend in einem schönen Lied namens “In Between” und legt uns damit eine erste Spur zum Frieden mit sich selbst. Und Max Prosa nimmt in seinem unter dem Eindruck von Krieg und Gewalt gedichteten “Wann könnt ihr endlich friedlich sein” konsequent die Position eines bedürftigen Kindes ein. Diese Sichtweise könnte der Beginn einer Lösung für das Problem mit dem nichtvorhandenen Frieden auf der Welt sein. Ein Kind weint

Wir sehnen uns nach Frieden.

 

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 20. November“Sarah Bosetti hat eine Superkraft: Sie kann Hass in Liebe verwandeln! Während sich ganz Deutschland fragt, was wir gegen die Wut und Feindseligkeit in unserer Gesellschaft tun können, versammelt sie die schönsten Hasskommentare, die sie bekommt, und macht aus ihnen lustige Liebeslyrik und witzige Geschichten. Misogynie wird zur Pointe, Sexismus zu Schmalz und irgendwo dazwischen wird das Patriarchat zu Poesie.” So steht es im Artikel zu ihrem Auftritt, den sie jüngst in der ARGEkultur fulminant über die Bühne gebracht hat. Zwei von uns waren dabei – und geben hier ihre Eindrücke wider. Darüber hinaus wollen wir dieser Kraft der Verwandlung noch weiter nachspüren – auf dass sie uns kräftigen möge zur listigen Selbstverteidigung.

Wohin mit dem Hass, Sarah Bosetti?Es sind nachgerade sprachliche Judo-Techniken, mit denen sie in ihrem Programm “Ich hab nichts gegen Frauen, du Schlampe” die Energie ihrer Angreifer elegant und eloquent in die engegengesetzte Richtung umlenkt – nicht ohne das Publikum dabei noch zusätzlich mit herzerfrischender Belustigung zu erfreuen. Einige der auch als Buch erschienenen lyrischen Antworten auf den “Hass im Netz” haben wir uns anverwandelt – und geben sie als Empfehlung zur näheren Betrachtung hier hörbar weiter. Denn die spezielle Art und Weise, wie Sarah Bosetti mit dem Unflat der “sozialen” Medienwelt verfährt, empfinden wir als überaus anregend für unseren eigenen Umgang mit “negativen Energien”, die uns aus widerlichen Umständen entgegengehasst werden. Dazu ist es aber notwendig, sich all die durchaus begeisternden Beispiele ihrer Kunst in die eigene Lebenswelt zu übersetzen. Also zunächst einmal überhaupt zu verstehen, wer da zu einem spricht…

Und so hören wir noch andere Beiträge einer Frau, von der es heißt: “Sarah Bosetti findet Feminismus anstrengend und ist zugleich eine der präsentesten und witzigsten feministischen Stimmen auf deutschsprachigen Kabarettbühnen.” Beiträge nämlich, auf die online mit sexistischem Hass und Gewaltdrohungen reagiert wurde, wie den legendären “Brief an meine Tochter” oder die geniale Allegorie “Ich bin die Armut”. Jeweils im Zusammenklang mit Dota Kehr, der Kleingeldprinzessin. Das passt auch gut zu allerlei persönlichen Vorlieben, wie wir vom Deutschlandfunk erfahren haben.

“Frau Bosetti ist ein Genre für sich.”  Gerburg Jahnke

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