Es war einmal die Musicbox

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 9. OktoberNachruf auf eine ORF-Sendung, der viele vieles verdanken. Vor genau 49 Jahren entstand die Musicbox mitsamt ihrem dazugehörigen Sender. Vor gut 22 Jahren verschwand sie aus dem Programm von Ö3. Was bleibt, ist Erinnerung. Und Bedeutung für Unzählige, die Popkultur nicht nur konsumieren, sondern erforschen, definieren und so selbst mitgestalten wollten. “Wenn um 15 Uhr, präziser: fünf Minuten nach 15 Uhr, die Signation der Musicbox ertönte, schaltete halb Österreich auf die Regionalwellen um. Die andere Hälfte aber lauschte entweder gebannt oder irritiert dem Wort- und Musikschwall, der da folgte.“ Soweit Ex-Musicbox-Redakteur Walter Gröbchen, zitiert in diesem hilfreichen Artikel des Kulturpool zur Veröffentlichung einiger Cassetten-Mitschnitte aus den 80ern.

musicboxMmmm, “Wort- und Musikschwall”, das gefällt uns eh schon mal gut! Auch wenn man mit derlei nicht mehr die Radionation in zwei Hälften spalten kann (dieses Zeitfenster ist längst wieder zu), so knüpfen wir doch gern immer wieder daran an, diese Art einer “Wall of Sound” entspricht der Gestaltung unseres zweisamen Kopftheaters

Nicht nur eine ganze Kultur des Musikjournalismus hat das längst legendäre Magazin hierzulande befruchtet, auch Kunstschaffende jedweder Richtung und Staatsnähe (oder -ferne) zur fortwährenden Verbearbeitung der Wirklichkeit zwischen allen Genres und Generationen angestiftet. Literaturen entdeckt, Musikstile hinterfragt, politische Entwicklungen verfolgt, Geschmäcker und Gewohnheiten kritisiert, Neues begeistert vorgestellt und Zeitloses wieder hervor gekramt. Was hat diese Sendung in den 27 Jahren ihres Gehörtwerdens eigentlich nicht angefasst, ausgespuckt, oder einfach gegen den Strich gebürstet? Weshalb sollten wir da versuchen, dem recht reichlichen Œvre der Herren Gröbchen (Blog), Blumenau (Blog) oder Ostermayer (Portrait) hier noch Fußnoten hinterher zu schreiben? Sie alle waren ja die Musicbox.

Wollen wir also bei unserem Leisten bleiben und euch eine schöne Andenkensendung schustern. Mit eigenen Anekdoten vom damals durchaus prägenden Hinhören und mit Beispielen dafür, wie dortselbst einst Vorgebrachtes die Zeitgrenzen zur Gegenwart überspringt und – verbearbeitet – weiter wirkt. Unter Beihilfe von Michael Köhlmeier & Reinhold Bilgeri, Bob Dylan, Patti Smith sowie naturgemäß Laibach. Allesamt einst vehement vertreten in und von jenem Höreignis, man frage bloß mal die Archivpiraten!

 

Let Yourself Be Huge

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. SeptemberGewaltig endet der Sommer, gewaltig geistern die Arme des Herbstes, komm zu mir liebes Kätzchen, ich nehm‘ dir die Furcht, die alte, die gräßliche; fühle mich manchmal als Teschek, indes singen Blätter und Zweige von Tausch und Täuschung, wer pflückt dereinst die Gaben? Wir glätten die Wellen, nein, lass es uns lassen, was mir halt so ein- und zufällt, zufällig auf Zufälle vertrauend, und ihre verwegene Braue, das Herz der Harpyie frisch gebraten, ein Baby im Schlaf, es schmelzen Gesichter unscheinbar, grau melierte Kinder in Armani-Anzügen die hektisch ihre Smartphones betouchen; darf ich mich aufsprengen?

cloudkickerWelch viskoser Fall, mir scheint alles träge und dämmrig, es zirkuliert = heil(ig)e Welt! Schwalbentanz, ein Blick in die Wolken, weit fort zu gehen, oh Lady of Shalott, dein Leib, dein Lied, stets Schatten im Spiegel / Gemütsaquarelle, schleichende Färbung, der gesichelte Mond gleitet aus Baumkronentrichtern, scheue Laternen, das Finster ruft mit wächsernen Stimmen, so seidene Stimmchen : gekrauste Sturm= orchidee. Theodizee zwischen Tür und Engel, oder der Blutakt weicher Uhren, indes nachmittägliche Ausflüchte, umgeben von einem Rauschen unbekannter Art, mehr Holundersaft aus der Bierflasche … Collagenleben und Splitterkunst, unzähmbarer Sanftmut; ich werde gewaltig.

Wie aus alldem unschwer zu erkennen ist, präsentieren wir diesmal das ganze Album “Let Yourself Be Huge” von Cloudkicker, einem One-Man-Projekt von Ben Sharp, der seine mittlerweile 8 Alben und 4 EPs nach wie vor im Eigenvertrieb anbietet. Auf diesem speziellen Album gewährt der sonst im Progressive-Metal beheimatete Musiker allerdings durch diverse Themenskizzen einen geradezu intimen Einblick in das Entstehen seiner komplex geschichteten Klangwelt, was zudem vom Artwork (oben die vergriffene Pink-Vinyl-Version) kongenial begleitet wird. Auch der längste uns bekannte Songtitel vom Album Subsume stammt aus seiner Denkstatt. Es ist ein Zitat aus dem Roman 1Q84 von Haruki Murakami. Dazu fällt mir ja sofort DIE Löffler ein…

„He would be riding on the subway or writing formulas on the blackboard or having a meal or (as now) sitting and talking to someone across a table, and it would envelop him like a soundless tsunami.“

 

Nils Petter Molvaer – Khmer

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. AugustHaltet ein, haltet ein! Bloß weil da als Musikgenre Jazz oder Elektronic geschrieben steht, müsst ihr weder frohlocken noch die Flucht ergreifen. Denn das heute hier zu hörende Album enthält wohl diese beiden Elemente, geht allerdings in seiner Gesamtheit noch weit darüber hinaus. Der norwegische Jazz-Trompeter Nils Petter Molvaer hat sich schon früh auf die Suche nach den unterschiedlichsten psychoakustischen Klanglandschaften begeben. Und so ist auch sein Debutalbum Khmer (1997) eine abenteuerliche Expedition in allerlei Möglichkeitsformen des Hörens und Erlebens jenseits von schon längst Bekanntem. Was wurde diesem Werk nicht alles zugeschrieben, Cool-Jazz à la Miles Davis etwa, gechillt treibende Lounge-Beats à la mode, Grenzgängerei à la Brian Eno, whatever.

khmerDabei lässt sich unendlich viel mehr aus dieser grenzgenialen Klangsammlung heraus hören, akustische Perkussion, Ethno-Beats, ein Anton-Bruckner-Zitat, innovativste Gitarrensounds, Meeresbrandung, Nebel, Traum, Weite… Oder wie es dem Meister himselbst also nachgesagt wird:

„Für ihn gebe es diese Grenzen zwischen Klassik, Pop und Jazz nicht, wenn die Musik gut sei.“

Ich begegnete dieser inspirierenden Instrumentalmusik zum ersten Mal durch den Musikfeingeist David Reger (Gamelan Altenberg, Maracatu Minimal, Daisy O’Hara) und hatte schon kurze Zeit später die Gelegenheit, Nils Petter Molvaer und Band im Salzburger Jazzit livehaftig beizuwohnen. Nur ein einziges Mal zuvor war ich mir beim Eintauchen in eine Musikperformance nicht mehr sicher gewesen, welche Drogen da plötzlich auf mich einwirkten, wiewohl ich ja eigentlich vollends nüchtern war – und das war 1987 bei Peter Gabriel in der Wiener Stadthalle.

Molvaer

Vielschichtige Klänge, vereinnahmende Rhythmen und überraschende Übergänge, welche sich im Zusammenspiel als ebenso hypnotisch, psychedelisch und verzaubernd erweisen wie ein Kopfsprung in den Kaninchenbau von Alice im Wunderland, das Befreitwerden aus der Matrix oder ein mehrtägiger Aufenthalt in einem wirklich guten Phantasy-Roman.

Vor allem aber wird hier eins verstanden und auch vermittelt: Die Balance zwischen dem Aufmerksamsein und dem Abdriftenkönnen. Die Vermessung der Welt mag ja lustig sein, doch sie kann warten! Inmitten von klar umgrenzten Klangräumen darf sich die Seele ihr eigenes Neuland erschließen – und dabei zugleich im Unvermessenen verweilen.

Im Unermesslichen…

 

Love Grave

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. JuliThey live! Wir bekommen Besuch von einer sehr untoten Band, die schon seit über 25 Jahren immer wieder der eigenen Gruft entsteigt, um sich ebenso lebhaft wie vernehmlich über das ambivalente Erbe von Liebe und Tod herzumachen. Insofern kann es kein Zufall sein, wenn ausgerechnet die Erfolgshymne “Dance The Way I Feel” von Ou Est Le Swimming Pool zu ihrem Repertoire zählt. Deren Sänger Charles Hadden starb beim Pukkelpop-Festival 2010 nach einem Sturz von einem Funkmast, auf den er offenbar zuvor hinaufgeklettert war. Dass er sich selbst tötete, etwa aus Verzweiflung, weil eine junge Frau im Publikum beim Stage-Diving eines Bandmitglieds verletzt wurde, ist auch nur ein nachträglicher Erklärungsversuch. Die genauen Gründe bleiben – wie immer – im Ungefähren.

NoirSo ist es gewiss auch kein Zufall, wenn sich Michael Noir Trawniczek und sein gemeinsamer Gitarrengeist Hans Feichtenschlager in Salzburg mit einem einstigen Urgetüm des ambivalenten Seelensounds treffen, um wieder einmal etwas von ihrem Musikmaterial zu verbearbeiten… Was da in gegenseitiger Inspiration mit Markus Brandt entstehen wird und somit das Licht der Klangwelt erblickt, das dürfen wir in dieser Sendung, quasi ganz frisch und noch warm, behören. Darüber hinaus haben Love Grave mit der für sie typischen Konzeption des Zitierens und Interpretierens von eigenen wie auch fremden Stoffen allerlei Denkwertes zum Thema “Coverversionen” beizutragen. Ihnen geht es dabei nie ums bloße Nachspielen, sondern vielmehr um den Prozess der Aneignung, das “auf schmerzhafte Weise in den eigenen Organismus einpflanzen”. Ein jüngst mit diesen Worten vom Noir empfohlenes Meisterstück sei deshalb hier eingefügt – das Abba-Cover “SOS” von Portishead.

Mit welchen Inhalten und Stilen Love Grave selbst in den 90er Jahren umgingen, das lässt sich in Martin Kochs hervorragenden Musikvideo “Not The End Of The War” erfahren. Respekt! Und dass die immer noch schon wieder Musik machen, wie kommt das eigentlich? Ist das Leidenschaft, Verrücktheit – oder purer Zufall? Auf jeden Fall bin ich vor Unzeiten “als Punk noch eine Philosophie und Gothic noch kein Genre war” mit den beiden Herren auf der Bühne gestanden, die dazumals mehr als nur eine Welt bedeutet hat. Ein Einblick also in die Hintergründe des Undergrounds – oder so.

Und eine Wiederwürdigung der Wiener Neustädter Band x-beliebig (unsere einzige Sendung, über die einst das musikhistorische Fachgedächtnis von FM4 berichtete).

Genügen wir also auch dem Anspruch des Enzyklopädischen! Hier etwa gibts stets aktuelle Band-Infos von und zu Love Grave

 

The Waterboys – Karma To Burn

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 12. JuniDie iroschottischen Missionare des Glaubens ohne Religion waren uns ja schon einmal eine ganze Albumsendung wert, nämlich mit “Cloud of Sound”, dem eklektischen Querschnitt durch das vielschichtige Schaffen rund um deren Mastermind Mike Scott, der seine Band durchaus auch als erweitertes Soloprojekt versteht. Ein Zitat aus meiner damaligen Aufbereitung: “Da stieß ich im Vorjahr bei der Vorbereitung einer gemeinsamen Nachtfahrt irgendwo im Internet auf die geniale Liveversion von “The Pan Within” aus dem Album “Karma To Burn” – und diese gut 13 Minuten sind mit Sicherheit das Extatischste, was mir in den letzten Jahren musikalisch zum Thema “richtig feiner Sex“ untergekommen ist!” Wenn das mal kein Grund ist, ein so rundum erregendes Werk hier explizitiert zu verbreiten…

karma to burnOder wie es mir gestern off records entfuhr: “Ich mag ja Gitarrensoli. Die kriechen in deine Ohren und haben Sex mit deinem Gehirn. Dabei sind sie dir nie böse, wenn du schon bald danach wieder ein anderes geiles Gitarrensolo entdeckst und zu dir in den Kopf einlädtst. Es liegt einfach in ihrer Natur. Da kann ich dann bloß noch sagen: Komm her, hau dich auf meinen Mandelkern – und gibs mir!” In den Songzeilen des Soundschöpfers selbst heißt das:

Put your face in my window
Breathe a night full of treasures
The wind is delicious
Sweet and wild with the promise of pleasure
The stars are alive
And nights like these
Were born to be
Sanctified by you and me
Lovers, thieves, fools and pretenders
And all we gotta do is surrender

Come with me
On a journey under the skin
Come with me
On a journey under the skin

And we will look together
For the Pan within

 

Artarium Spezial: Max Prosa Live

> Sendung: Artarium Spezial vom Donnerstag, 2. JuniDie Lyrikexplosion des Jahres 2012 – der Berliner Singer-Songwriter Max Prosa – kommt über Salzburg und folgerichtig muss die aktuelle Tour auch “Hallo Euphorie” heißen! Vor seinem Livekonzert in der Rockhouse-Bar (Local Support “Nachtfalter”) Beginn 20 Uhr wird er bei uns im Studio zu Gast sein und sein interaktives Kreativkonzept erläutern: “Freut euch auf neue Songs und Texte, neue Sounds und Geschichten, für die Max seine Zuhörer auf dieser Tour so nah wie nie zuvor an sich heran und am schöpferischen Prozess teilhaben lassen will. Immer wieder wird er Lieder und Liedskizzen präsentieren, die erst im Laufe der Tour entstehen und vielleicht nur ein einziges Mal live vorgestellt werden. Jedes Konzert wird anders. Jeder Abend einzigartig.” – Wir sind gespannt…

max prosaDiese Selbstbeschreibung scheint uns genau zu jener rastlosen Reise durch viele Erscheinungsformen zu passen, die der Poet und Sänger seit seinem schönen Debutalbum “Die Phantasie wird siegen” in immer wieder neuen Wendungen vollzieht. Zur Zeit ist er eben auf der Suche nach der für ihn stimmigen Gestalt des noch im Entstehen begriffenen Albums. Gibts dafür eigentlich schon einen Titel? Oder ist auch der Teil dieses geheimnisvoll gemeinsamen Schaffensprozesses? Und vor allem – wie könnte es klingen? Was für eine Art von Sound wird es entfalten? Kann es die Lyrik von Max Prosa in bisher unbekannte musikalische Dimensionen versetzen – und sein Leben zu neuen gebrochenen Reimen auf sich selbst führen?

Manchmal bleibt nur die Enklave
der eig’nen Phantasie,
denn dorthin kommen sie nie.

Tragt nur euer Leben in die totgesagte Welt,
wir haben uns lang genug verstellt,
warm sind die Paläste, doch wir bleiben lieber hier,
tanzen draußen vor der Tür.

Max Prosa – Totgesagte Welt (Video)

Dylaneske Wortbilder

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 29. Mai – Es fällt unangenehm auf, wie sehr Sprache im öffentlichen Raum zum einreduzierten Funktionsquatsch verkommt. Diesen mit zunummernder Heftigkeit vorgebrachten Befehlen und Kommandos der aufs Beherrschen geilen Kontrollokratie muss aus Herzensrührung entgegen gesungen und gedichtet werden, dass der Silbenwald nur so rauscht. Denn der Mensch ist eben keine Maschine, sondern ein gefühlsfähiges Wesen, das sich vermittels Empathie geradezu spielerisch leicht in andere hineinversetzen kann. Eigentlich. Wenn heutzutage allerdings sprachliche Kommunikation immer weniger mit schöpferischem Selbstausdruck zu tun hat, sondern sich nur noch auf depperte Hauptsätze der Auftragserfüllung beschränkt, dann grinst uns bald das Loch an…

hard rainDas diesen Umstand wie auch die weiteren Bezugspunkte unserer Sendung kongenial illustrierende Bild ist Teil des künstlerischen Projekts “Random Poster Series” von Dan Woychick und wurde uns für diesem Zweck freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Der Großmeister des Metaphernscheißens, der sich jedweder endgültigen Interpretation dauerhaft entziehende Bob Dylan nämlich, inspirierte schon so viele Kreativköpfe zur sprachlichen Vielschichtigkeit, dass wir sogar aus einem einzigen seiner Songs einst eine ganze Sendung gestaltet haben: “There must be some way out of here…” Wir gratulieren aber nicht nur ihm anlässlich seines 75. Geburtstags zu einem solchen Vermächtnis, sondern nehmen sein wortbildnerisches Werk auch gleich zum Anlass für unsere heutige Sprachqualitätsoffensive. Entwerfen wir also eine zeichenhafte Welt aus eigener Poesie sowie Übertragungen seiner Songs in neue Zeiten und andere Kulturen. Entdecken wir unverhoffte Anwendungen der dichterischen Sprache in dem oft nüchtern langweilig belehrenden Genre der Geschichtsdokumentation. Zum Beispiel im Film “Hitler & Stalin – Portrait einer Feindschaft” von Ulrich Kasten und Hans-Dieter Schütt. Oder, wie man es aus der deutschen Übersetzung des köstlich kölschen “Unfassbar vill Rään” von Wolfgang Niedecken heraus spüren könnte:

Da war das Kind mit dem Pony, das tot in der Gosse lag.
Ein pechschwarzer Hund lief einem schneeweißen Kerl nach.
Eine Fee wollte mir einen Regenbogen geben.
Ein Eifersuchtskranker nahm sich das Leben.
Ich gehe zu denen zurück, die nichts in den Händen halten,
wo die einzige Farbe schwarz, außer Nullen keine Zahlen,
wo zum Atmen die Luft fehlt, das Wasser vergiftet ist,
wo Zuhause bloß ein anderes Wort ist für Gefängnis.

 

Heimat von Goisern

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. MaiIn Zeiten wie diesen, wo uns die Zündler des Zugrundegehens zum tausendjährigsten Mal die Vergangenheit als Fortschritt anpreisen und in sämtlichen Südtiroler Heustadeln selbstbesoffen die Spritzkerzen schwenken, brauchen wir endlich wieder eine entspanntere Einlassung zum Thema Heimat, Volk und Volksmusik. Und um wenigstens ein Antidiotikum zum – rechts, zwo, drei, vierHerumgepluster der Seelenfänger und Identitätsverkäufer anbieten zu können, haben wir unter dem Eindruck der neuen Kino-Doku “Brenna tuats scho lang” eine Art Best Of Album des notorisch neugierigen Hubert von Goisern gebastelt, das dem Nationalschwachsinn der Heimatvergewaltiger etwas echt Erdiges entgegen setzt. Mit seinen eigenen Worten: “Wir ziagn den Rechten die Lederhosen aus!”

HeimatOder um es mit Jazzkantine bezw. Peter Schanz zu sagen: “Ich singe was ich will und was mich beglücket. Ich lass mir meine Heimat nicht von den Rechten besetzen.” Dass dies gerade in der letzten Woche des Bundespräsidenten-Wahlkampfs von entscheidender Bedeutung ist, zeigt jede nähere Beschäftigung mit den Inhalten, die der FPÖ-Kandidat Norbert Hofer vertritt. Zum Beispiel in seinem Auftritt beim Südtiroler Schützenbund in Meran 2015, wo er fröhlich von der “Enderledigung” der Südtirolfrage und von Österreich als Schutzmacht, als Heimat aller Südtiroler daherschwadroniert. Das ist fürwahr gefickt eingeschädelt, sozusagen Geschichtsrevisionismus 2.0: Halten wir uns nicht mit der Frage auf, ob Österreich 1945 befreit oder besiegt wurde, das ist viel zu spitzfindig für den durchschnittlichen Volkstrottel, greifen wir gleich auf eine Grundidee Adolf Hitlers zurück und holen alle Volksgenossen heim ins Reich, welches ja bis vor dem ersten Weltkrieg bestand…

So sang Hubert von Goisern einst schon unter dem Eindruck von Kurt Waldheims Präsidentschaft zur Melodie des Deutschlandlieds – ach so, ja, der Kaiserhymne:

gott erhalte, gott beschütze
unser land und unsre pfründe
unsre priester unsre päpste
und vor allem auch die sünde
lieber gleich heim ins reich
auf dem kreuzweg himmelwärts
als auf ewig mit den narren
immer nur im kreise fahren

Heimat bist du großer Töne

So oder so

 

Durchs wilde Kurdistan

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. AprilOhne Karl May, dafür mit Teresa Reiter, die uns von ihrer Studienreise durch die Autonome Region Kurdistan (Irak) im März dieses Jahres erzählt. Authentische Berichte und Eindrücke aus erster Hand sind, was die kurdischen Gebiete in der Türkei, in Syrien, im Iran oder im Irak betrifft, ja immer auch mit den Bildern in unseren Köpfen verbunden, und die reichen (je nach Lebensalter) von der Karl-May-Lektüre über die linke Peshmerega-Romantik der 80er Jahre bis zu aktuellen Fernsehberichten vom Krieg gegen die IS-Kämpfer. Freuen wir uns also zur Abwechslung mal auf ein paar atmosphärische Schwänke aus einem Kurdenstaat, der zwar offiziell keiner ist, doch oft besser funktioniert als manch anderer. Die wahren Abenteuer sind im Kopf, wo neue, bislang unbekannte Bilder entstehen.

BekasZur Illustration dieses Artikels haben wir Pressefotos des preisgekrönten schwedisch-kurdisch-finnischen Films “Bekas” ausgewählt, zumal dieser unsere übliche Vorstellung davon, was Kurdistan sei, durch die Geschichte, die er erzählt, gegen den Strich bürstet. Und weil er noch ganz nebenbei allerhand über das kurdische Volk im Irak vermittelt.

BekasUm interkulturellen Austausch ist es uns auch bei der Musiksuche gegangen, einige der populäreren Kulturbotschafter auf dem Gebiet (wie etwa Helly Luv) mochten wir wegen der so abgrundgrausligen Mainstream-Ästhetik ihrer Auftritte allerdings gar nicht erst bemühen! Stattdessen haben wir den in Köln lebenden Weltmusiker Heminderya mit seinem Projekt Nanobeat sowie den Wiener Kult-Elektroniker Karuan aufgetrieben, welche beide auf interessante Weise traditionell kurdische Musikstile mit modernen westlichen Elementen wie Hip-Hop, Jazz, Rock und Electronic zu aufregend neuen Gesamtkunstwerken verschmelzen. Als Einstimmung hier das Session-Video “Hawra” von Nanobeat und die äußerst chillige Rap-SoundCollage “Reflections of a Poem” von Karuan. Naturgemäß lässt sich über den individuellen Musikgeschmack trefflich streiten, doch ersuchen wir mit Nachdruck darum, von eventuellen Verwünschungen unserer Gästin abzusehen, die kann nämlich gar nichts dafür. Und sollte sich doch irgendjemand aus irgendwelchen Gründen auf den Schlips getreten fühlen, am besten in Zukunft einen kürzeren Schlips tragen! Denn wir sind ein geiles Friedensinstitut.

 

Philip Glass – Etudes for Piano

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. April – Der inzwischen fast 80-jährige Musiker und Komponist Philip Glass hat wie kaum ein anderer unsere Hörgewohnheiten mit seinem eigenwilligen Stil durchdrungen: Tabus – also Dinge, die eigentlich verboten sein sollten – sind oft am interessantesten. In meinem Fall sind das musikalische Materialien, die im Alltäglichen zu finden sind.” Neben vielen Opern und Symphonien haben speziell seine Filmsoundtracks eine ganze Generation von Zuschauer_innen beeindruckt – und ihn weit über den Liebhaberkreis moderner Musik hinaus bekannt gemacht. So etwa Koyaanisqatsi (1983), Kundun (1997), The Fog of War (2003), Tagebuch eines Skandals (2006) oder Leviathan (2014). Am dichtesten spiegelt sich seine Erfahrung, die Essenz seiner schöpferischen Phantasie, allerdings in den Etuden für Klavier:

etudes booklet

Da fängt es an, fließt und strömt; ein mäandernder Tonfluss im Hörbett seiner Wahl. So streift mich Aprilwind, erdbeerblond, Erinnerungen an Amsterdam und die Zugfahrt dorthin, Bilder von einem Mann ziehen durch mich, ein einsamer Mann auf einem lichten Balkon, welcher das Meer überblickt, während er versucht sein Fühlen in Worte zu kleiden. Was da so aus meinem Kopf hervorkommt, an diesem kühlfeuchten Morgen, diesem wolkengefächerten Tag, was da so herumspukt zwischen dem Pianodonnern. Seifenblasenberührung, Rauchfäden als Ufer oder aufgeblasene Kondomzeppeline in der weltenschwangeren Luft, auch zeigt sich das Glitzern zwischen den Fingerkuppen, vielleicht entzieht es mich der äußeren Wahrnehmbarkeit, ein wankendes Verlangen, doch noch in Decken geschlungen und hungrig, verwehrt sich mir zu Teilen das Eintauchen in die Zerrissenheit, die Ambivalenz, und dennoch erahne ich dieses Splitterland, ein Universum universeller Gleichzeitigkeit.

etudes cover

Oft zeigt sie sich eigenwillig, verwegen, dann eruptiv, gewaltig, heimlich oder hereinbrechend, verträumt, traurig, überlebendig, todessehnsüchtig. Unzulänglich all die Beschreibungen, unzufrieden ob der Grenzen der Sprache; Musik spricht einfacher und bedarf keiner Übersetzung. So frage ich mich, wie könnte man über Musik schreiben ohne zu be-schreiben? Ich erspähe die imaginierte Weite hinter den Mondblüten, stelle mir vor, was Bäume sich zuflüstern wenn sich ihre Wurzeln berühren oder frage mich, ob das Meer die brechenden Wellen beweint. Vielleicht nimmt mich der Sturm als Segel und trägt mich über das unergründliche Blau an die Grenzen der Welt oder ich werde der Blick meines Fensters; ein flammender Handknospenkuss.

Es sind wohl nicht die Etüden selbst, sondern deren innere Zusammenhänge und Verästelungen miteinander; sie erzählen Geschichten, die man nicht aufschreiben kann. Man muss schon hinspüren und –hören, um Philip Glass’ Poesie zu erkennen, sein Worte zu verstehen, seine Bilder zu schauen. Es ist eine Reise, eine Fahrt durch wundersam surreale Traumlandschaften.

Ein Hörbericht von Christopher Schmall