Tarot Suite (Mike Batt & Friends)

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 14. JanuarDas neue Artariumjahr beginnt mit einem ganzen Album, nämlich ­“Tarot Suite” von Mike Batt & Friends. Und was für Friends da versammelt sind: Neben dem London Symphony Orchestra treten da etwa Rory Gallagher, Roger Chapman, Mel Collins und natürlich der Meister selbst (an den Keyboards) auf. Umso erstaunlicher, dass dieses grandiose Konzeptalbum aus dem Jahr 1979 in der Musikwelt weitgehend unbeachtet geblieben ist, was sich an diesem Artikel/Thread beispielhaft nachvollziehen lässt. Woran auch immer das liegen mag (wahrscheinlich ein sehr multifaktorielles Geschehen), wir erachten “Tarot Suite” für ein sträflich unterschätztes Meisterwerk der Musikgeschichte. Hier begegnen sich Klassik und Rockmusik in einer seltenen Synthese, gehen geradezu ineinander auf.

Mike Batt and Friends - Tarot SuiteDazu kommt noch die vielschichtige Konzeptarbeit, die jedes einzelne Musikstück mit mehreren Aspekten der “Großen Arkana” (Tarotkarten) verknüpft. Dies wurde im Artwork des Albums (wie zu jener Zeit nicht unüblich) hingebungsvoll erläutert – und stellt doch nur eine von vielen Ebenen der ganzen Geschichte dar (was bei der Komplexität der darin verhandelten Themen verständlich ist). Mir ist dieses epische Werk zu Beginn der 80er Jahre durch einen Zufall begegnet, als ich es nämlich  in einem Lokal hörte und sogleich davon fasziniert war. Es war “aufs erste Hinhören” so viel Verschiedenartiges auf einmal wahrzunehmen, dass ich mir diese im wahrsten Wortsinn symphonische Dichtung unbedingt besorgen musste, um sie einerseits allein und andrerseits mit kunstsinnigen Freunden gemeinsam wieder und wieder anzuhören, mir die vielen darin versteckten Geschichten sozusagen Schicht um Schicht zu erschließen. Das ging dann soweit, dass wir vier Unzertrennlichen eines Nachts in Begleitung dieses Soundtracks für Seelenreisende rundum illuminiert ins Steinerne Theater pilgerten.

Gerade im Salzburg der 70er Jahre, wo der scheinbar für alle Zeiten einbalsamierte karajanoide Kanon das einzig wahre und ewiggültige Kunstverständnis nachgerade flächendeckend (bis in unsere Herzen und Hirne) verbreitete und es mit Zähnen und Klauen gegen jede noch so kleine Veränderung verteidigtegerade in dem Kontext war symphonische Musik, die zum Beispiel völlig selbstverständlich eine E-Gitarre als Soloinstrument im Orchester verwendete, schon eine ordentliche Offenbarung. Und dann erst der Inhalt: Eine Erzählung für eine emanzipatorischen Entwicklung.

Vieles davon wird in dem rockigen Titel “Imbecile” erkennbar, der die Tarotkarten des Narren sowie des Magiers zu einem Zwiegespräch versammelt, das an seinem Ende in ein friedvolles Verständnis des jeweils Anderen übergeht und so eine Perspektive des Wandels erzeugt. Der unüberbrückbare Unterschied zwischen Ich und Nicht-Ich verwandelt sich in ein Wir. Das, was uns – in allem was uns trennt – gemein ist, tritt als das hervor, was wir gemeinsam sind. Diese letzte Strophe – meisterlich dargeboten von Roger Chapman – soll uns hier textlich auf die inhaltlichen Ebenen einstimmen:

 

“We both are right”, said the sorcerer
“And both of us are wrong
For though we walk this road we don’t know where it leads
We only know it’s long

You have something to learn from me
And I can learn from you
You with your jokes and simple plans
And me with my tricks and sleight of hands
Together we could get through

Imbeciles, we are dancing down a darkened road
Though the stars are out, not one of us knows the way
Imbeciles up ahead of us and millions more behind
And we’re laughing and smiling
That’s why I say we’re all of us Imbeciles”

 

Karajan wouldn’t have liked it.

 

lt85

Am 5.1.24 in der Livesendung:

keine Physik, sondern  Musik
vom Alpentönefestival in der Schweiz.

Genießen Sie die besonderen Töne.

 

 

Ein neuer Wissenschaftsbeitrag demnächst hier zum Hören und Streamen.

Zukunftsmusik 2024

Tuning Up versucht mal wieder gegen den Strom zu schwimmen und dabei in die Zukunft zu reisen. Nachdem wir nun wieder viele Jahresrückblicke gesehen und gehört haben, soll in Tuning Up nun Zukunftsmusik erklingen – soweit das eigentlich geht. Also sollen kommende Konzerte oder neue Alben im neuen Jahr 2024 ins Ohr gebracht werden.

Mit Musik von Walter Trout, David Murray, Hopkinson Smith, Ralph Towner u.a.

Nachzuhören unter: https://cba.media/646008

תיקון עולם

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. DezemberTikun Olam, was etwa soviel bedeutet wie “die Welt reparieren”, ist mein neuer Lieblingsbegriff. Und weil er aus der jüdischen Kultur kommt, ist das auch die Gelegenheit, einen Titel in hebräischer Schrift zu verwenden. Dies allerdings liksbündig:                                           תיקון עולם    Und ab da wirds anspruchsvoll. Wir reparieren uns eine Welt oder Wilkommen beim Gehirnhälftentraining. Der Begriff Tikun Olam vermittelt nämlich ein weites Spektrum an Bedeutungen, und da sollte man schon selbst ein bisserl auf die Suche gehenWir verdichten das, was wir dabei empfinden, in ein nach vielen Seiten mögliches Jahresmotto, mit dem wir zudem noch ein Statement zum Wert des Judentums für unsere eigene Kulturwahrnehmung verknüpfen. Womöglich auch eine Geschichte.

תיקון עולם (Tikkun Olam)Als ich 10 Jahre alt war, lebte ich eine Zeit lang in den USA und besuchte dort auch die Schule sowie in den Ferien das übliche Summercamp. Eines Tages betraten einige Mitkinder, die sich zu einer Art “Gang” zusammengeballt hatten, unsere Hütte, beschimpften mich als “Kraut” oder eben “Scheißnazi” und wollten mir in den Koffer brunzen. Denen stellte sich David, ein kleiner jüdischer Bub, entgegen. Und indem er sagte, dass ich sein Freund sei und er mich beschützen würde, stellten sich immer mehr andere Kids mit ihm auf meine Seite, so dass die Möchtegernmobster schließlich kleinlaut wieder abgehaut sind. Versteht ihr? Der kleine David hat mir die Welt repariert. Und diese Lichtgeschichte ist mehr als nur eine Randnotiz. Sie ist das Evangelium schlechthin (wenn wir einen Begriff wie “Gute Neuigkeit” wirklich erfassen und jeden Menschen als möglichen Erlöser – für sich selbst wie auch für andere – verstehen wollen). Und das tun wir. Weihnachten hin, Wintersonnwend her. Die Ironie der Geschichte oder der diese Geschichte erst so richtig abrundende Treppenwitz des Universums ist ja, dass ich erst 50 Jahre später die Naziverstrickungen meiner Vorfahren entdeckte. Und genau da taucht dieses תיקון עולם als ein übergreifendes Lebensmotto wieder auf.

Apropos Weihnachten, wie habt ihr das diesmal so erlebt? Schön schrecklich oder eher schrecklich schön? Mich quält ja gerade zu dieser Jahreszeit der inflationäre Gebrauch von Weihnachtsklischees für die vorgebliche “Normalbevölkerung” im Fernsehprogramm. Weihnachtsbezogene “Unterhaltung für die ganze Familie” ist für mich, bei allem Verständnis für die Lebenssituation einzelner Menschen, eine fortwährende Beleidigung meines Geistes. Und da hat mir heuer – mittendrin – der löbliche Fernsehsender arte “die Welt repariert”. Mit dem Film “Der Schneeleopard”.

In diesem Sinn wünschen wir es uns allen.                                              תיקון עולם

 

Ö1 Morgenjournal: Weihnachten als Fest des Feindbilds

Weihnachten: Zeit des Friedens und der Versöhnung. Mit diesem Klischee zu brechen hat sich das Ö1 Morgenjournal (23.12 um 7 Uhr) vorgenommen. Warum nicht mal Weihnachten verwenden um wiedermal zu zeigen, wie toll unser freier Westen ist und wie abgrundtief böse und unterdrückerisch das chinesische Regime.

Zur Sicherheit und vorausgeschickt: Dass China kein bürgerlicher Staat wie Österreich ist, da hat das Ö1 Morgenjournal recht. Wenn ein nationales Interesse von oben durchgesetzt werden soll, dann kommen schon mal die Rechte von Bürger*innen unter die Räder.

Sich nun zu fragen was das für Interessen sind, die das chinesische Regime da durchsetzt und in welcher Form, das wäre lohnenswert. Das Ö1 Morgenjournal macht aber etwas ganz anderes.

Weihnachten wird ins private zurückgedrängt

Ach wünscht sich das Morgenjournal eine Staatsreligion? Gibt es nicht viele Menschen in Österreich, die von Religion wenig halten und das Christentum und dessen falsche Vorstellungen lieber heute als morgen aus den Köpfen der Leute bekommen würden. Diese Gegenüberstellung von „Bei uns darf gefeiert werden“ vs. „Religion wird verboten“ ist ekliger Nationalismus. Es wird ein „Wir“ beschworen, dass es so in Österreich nicht gibt, aber für Nationalist*innen geben SOLL.

Es geht aber noch dümmer: Chines*innen werden gefragt was der Ursprung, die Bedeutung von Weihnachten ist. Und – oh Wunder – viele kennen sich nicht aus. Als ob in Österreich viele Menschen wüssten um was sich Chanukka dreht. Wird in der Anmoderation sogar erwähnt, dass nur ein kleiner Teil der chinesischen Bevölkerung christlich ist (4%), scheint das Unwissen über christliche Bräuche Verwunderung auszulösen.

Aus dem Beitrag geht auch bald hervor, warum keine Weihnachtsbäume und kein Christbaumschmuck in Peking zu sehen sind. Warum die Leute Weihnachten nicht verstehen.

Es gibt zwar kein offizielles Verbot von Weihnachtsdekoration, aber…

Die religiösen Eifer*innen des Morgenjournals können zwar weder ein offizielles Verbot präsentieren, noch irgendwelche konkreten Anhaltspunkte präsentieren, dass Menschen unter Druck gesetzt werden, Weihnachtsdekoration abzuhängen, aber das stört sie nicht. Sie behaupten munter: Die Bevölkerung hat ein „feines Gespür“ was sich das Regime wünscht und übt vorauseilenden Gehorsam.

Eh klar, wenn eine Bevölkerung eines anderen Landes nicht so tickt und sich nicht so verhält wie man sich das wünscht, dann kann das nur am unterdrückerischen Regime liegen.

Als rauschendes Konsumfest in Einkaufszentren geht Weihnachten in Peking gerade noch durch, klingen dürfen die Kassen, aber nicht die Glocken. Und bitteschön nichts religiöses, da kennt das kommunistische China kein Pardon. Die Geburt eines Erlösers, um Himmels Willen, bloss nicht. China hat bereits einen Heiland, er steht an der Spitze der Partei.

Nichts hat man gelernt über China. Aber viel darüber, wie wichtig einer öffentlichen Presse in Österreich der Aufbau und Aufrechterhaltung von Feindbildern ist. Kein Anlass ist stupide genug um ein „Wir“ aufzubauen, dass sich dankbar dem eigenen Staat zeigen sollte, der ja „so viel erlaubt“. Sogar Weihnachtsbäume dürfen wir aufstellen. Danke Österreich, danke Ö1 Morgenjournal!

Wer den Ausschnitt selbst nachhören will, kann das hier tun

Schreib das auf …

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. Dezember – Es begann damit, dass ich vor einiger Zeit abgründige Ängste und Sorgen in meinem Denken entdeckte, die aus den Umständen und Erfahrungen meines Lebens nicht hinreichend erklärbar waren. Es kam mir so vor, als fände in mir mehr als nur mein eigener Krieg statt, als ließen mich unentrinnbare Urteile eines unsichtbaren Weltgerichts nicht im Frieden mit mir leben. Um etwaige seit Generationen in die Geschichte meiner Familie eingravierte Schreckstarren von mir und meiner eigenen Erinnerung unterscheiden zu können, ging ich auf die Suche nach der Zeit, über die meine Verwandten mir gegenüber so beharrlich geschwiegen hatten. Dabei hat mir das Kriegstagebuch von Egon Erwin Kisch (aus dem 1. Weltkrieg) mit dem Titel “Schreib das auf, Kisch!” sehr geholfen.

Schreib das auf - Postkarte 1912Denn “der rasende Reporter”, der 1908 die sogenannte Redl-Affäre aufdeckte und ein Wegbereiter des investigativen Journalismus in Österreich war, beschreibt darin die Zustände an der Balken/Serbien-Front 1914, wo zur selben Zeit auch mein Großvater im Einsatz war. Um mich selbst besser zu verstehen, wollte ich mehr darüber erfahren, was der dort alles erlebt hat – und worüber nach Ende des 1. Weltkriegs nicht gesprochen werden konnte, wiewohl es in der Gefühlswelt aller Beteiligten auf zerstörerische Weise fortwirkte. Hier liegt ein detailliertes literarisches Zeugnis aus der Hand eines journalistisch geschulten Beobachters vor, das nicht nur die Kampfhandlungen selbst sowie die Lebensumstände der Soldaten an der Front schildert, sondern auch die zunehmend verlogene Kriegspropaganda und deren Auswirkungen auf die Stimmungslage der kämpfenden Truppe kritisch reflektiert.

Wir gestalten eine Zeitreise in die persönliche Wahrnehmung des Einzelnen, der zwischen Kriegsgräueln und Friedenssehnsucht seine eigene Sicht auf die Welt bewahrt. Und wir schauen durch seine Augen auf eine geistesgestörte Hierarchie, die sowohl die eigenen Soldaten als auch die serbische Zivilbevölkerung ohne mit der Wimper zu zucken in die Zerstörung stürzt. Weiterführende Literatur über die Hintergründe dieser Wahnsinnigen haben wir auf Empfehlung eines Großmeisters der Geschichtsschreibung, Prof. Manfried Rauchensteiner, zudem mit einbezogen.

Bei aller äußeren Betrachtung einer “Welt voller Krieg” (in der Gegenwart wie in der Vergangenheit) soll hier die grundlegende Motivation dieser Untersuchung nochmals hervorgehoben werden: Es geht mir um meinen inneren Frieden mit dem, was meine Vorfahren gemacht und was sie erlitten haben, wovon ihre Ängste und Hoffnungen gespeist wurden – und was sich über Generationen hinweg in vielen von uns oftmals unbemerkt weiter auswirkt. Eine Welt voller Unrecht, Gewalt und Zerstörung, die wir offenbar in uns tragen und die in eine Welt voller Frieden verwandelt werden muss.

Den Hasen dieser Welt wünsch ich mehr als nur einen kurzen “Weihnachtsfrieden”.

Schreib das auf …

 

Battle&Hum#136

Samstag 16.12.2023 (Stairway zum Nachhören)

Es gibt Keks mit Stahlkanten und einen Pun(s)ch in die Fresse! DJ Ridi Mama & MC Randy Andy bringen besinnliche Stimmung in die Stube.

 

DJ Ridi Mama’s Dunkelheit:

  1. Wolfgang Ambros & Andre Heller (single) – für immer jung
  2. Prince & The New Power Generation (single) – cream
  3. Sigfrid Maron (schön is‘ das leb’n) – mei hund is a epileptika
  4. AC/DC (single) – jailbreak
  5. Duran Duran (single) – the wild boys
  6. Anthrax (fistful of metal) – metal thrashing mad
  7. The Blues Brothers (OST) – she caught the katy
  8. Salzburger Kinderchor (die schönsten weihnachtslieder) – aber heidschi bumbeidschi

 

MC Randy Andy’s Finsternis:

  1. Beirut (hadsel) – arctic forest
  2. Nick Cave and the Bad Seeds (murder ballads) – henry lee
  3. Jack White (fear oft he dawn) – into the twilight
  4. The Black Keys (el camino) – dead and gone
  5. Misty In Roots (live at the counter eurovision 79) – how long jah!
  6. Bob Dylan (christmas in the heart) – I’ll be home for christmas
  7. Kraftwerk (autobahn) – mitternacht
  8. Lou Reed (transformer) – goodnight ladies

 

“The first memory of sounds would have to be your mother’s heartbeat.” (Lou Reed)

 

Frohes Fest!

 

Zur Abstimmung klickt den Link!

 

 

Adventsingen in Battlehum

Liebe Battlemaniacs,

 

früher war mehr Lametta aber wir holen heute ab 22:00 Uhr das weihnachtliche Metall zurück.

Unser traditionelles „Adventsingen“ wird wieder 2 Stunden dauern und euch das Herzerl wärmen!

 

(h)ear you,

DJ Ridi Mama & MC Randy Andy

Veröffentlicht unter Teaser

Gedichte durch die Dunkelheit

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. DezemberRobert Gwisdek (auch als Käpt’n Peng bekannt) sagt in einem Interview: “Gedichte können in jeder noch so absurd schlechten Lebenssituation entstehen – und vielleicht sogar helfen, weil sie einen kleinen roten Faden um sich selbst spinnen. Nicht, dass es einem hilft, dass man eines hört. Aber es kann einem helfen, eines zu schreiben.” Dies charakterisiert auch das Verhältnis von Dichtung und Dunkelheit im Leben jener beider Lyrikerinnen, denen wir uns heute zuwenden wollen. Christine Lavant und Hilde Domin haben auf verschiedene Weise sowohl persönliche Schicksalschläge als auch “die dunkelste Zeit unserer Geschichte” überstanden – und die dabei erlebte Dunkelheit hat ihre Gedichte geprägt. Eben dadurch üben sie eine ganz besondere Kraft auf uns aus.

Gedichte durch die DunkelheitChristine Lavant litt schon seit frühester Kindheit an schweren Krankheiten und bekam deshalb kaum nennenswerte Schulbildung mit auf ihren zähen Lebensweg, der immer auch ein Leidensweg war. Nichtsdestotrotz begann sie schon bald, inspiriert von Rainer Maria Rilke, selbst zu schreiben. Die Zeit des Nationalsozialismus, die für sie als chronisch kranke und an Depressionen leidende Frau im höchsten Maß lebensgefährlich war (durch die damals beschönigend “Euthanasie” genannte “Vernichtung unwerten Lebens”), überstand sie in radikalem Rückzug und empfand sich dabei als “zu völliger innerlicher Stummheit verurteilt”. Nach Ende des (heute beschönigend “Zweiter Weltkrieg” genannten) allgemeinen Vernichtungswahnsinns brach das Dichten nachgerade “aus allen Rändern” aus ihr heraus. Bestimmt nicht zufällig enthält ein Kindereuthanasie-Mahnmal in Leipzig diese ersten zwei Zeilen:

Das ist die Wiese Zittergras
und das der Weg Lebwohl,
dort haust der Hase Immerfraß
im roten Blumenkohl.

Die Rosenkugel Lügnichtso
fällt auf das Lilienschwert,
das Herzstillkräutlein Nirgendwo
wird überall begehrt.

Der Hahnenkamm geht durch den Tau,
das Katzensilber gleißt,
drin spiegelt sich die Nebelfrau,
die ihr Gewand zerreißt.

Der Mohnkopf schläfert alle ein,
bloß nicht das Zittergras,
das muss für alle ängstlich sein,
auch für ein Herz aus Glas.

Hilde Domin hingegen besuchte ein Mädchengymnasium und studierte anschließend Rechts-, Sozial- und Staatswissenschaften, bevor sie “in allerletzter Minute” über England in die Dominikanische Republik fliehen konnte (sie wäre sonst im Deutschen Reich zur Vernichtung als Jüdin vorgesehen gewesen). Schon im Jahr 1930 hatte sie “Mein Kampf” gelesen und war dadurch zur Überzeugung gelangt, “dass Hitler das, was er da geschrieben hatte, auch ausführen würde”. Sie begann erst mit Ende 30 im Exil zu schreiben, “als Alternative zum Selbstmord”, wie sie es später einmal sagte. Ihre Gedichte sind durch die Unsicherheit der zerbrechlichen Existenz inmitten von unvorhersehbaren Ereignissen geprägt und ringen dabei auf beeindruckende Weise um ein nächstes Vertrauen, das irgendwo unter, hinter, neben dem Zerstörten ist.

“Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug.”