You want it darker

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 15. Juni“Endlich Sommer Unendlich” heißt die aktuelle Perlentaucher-Juninachtfahrt, die uns auf eine Stimmungsreise zwischen unendlichen Möglichkeiten und immer wieder eintretender Endlichkeit einlädt. Da ist es kein Wunder, dass mir dabei einiges an unbewältigtem Kindheitstrauma in den Sinn kommt. Meine Sommer werden nie wieder unendlich sein. Oder vielleicht doch, nur anders als damals? Jedenfalls begegnen wir hier einem erstaunlichen Phänomen – dass nämlich Musik und Lyrik aus der Schaffenswelt des Depressiven wohltuend wirken können – auf Menschen, die selbst gerade in sich ausweglos anfühlenden Lebenskrisen unterwegs sind. Darum spielen wir heute das Altersmeisterwerk “You Want It Darker” von Leonard Cohen und wünschen uns einen heilsamen Sommer!

You Want It DarkerIn den vergangen Jahren haben wir Leonard Cohens Werk vielfältig angeleuchtet. Als er im Jahr 2016 starb, haben wir ihm auch einen “Nachruf, der keiner ist” in die Unendlichkeit geschrieben. Beim Begräbnis meiner Cousine Elke Mader haben wir die Liveversion von Anthem (2008) gespielt, weil:

Ring the bells that still can ring
Forget your perfect offering
There is a crack, a crack in everything
That’s how the light gets in

Wer ein Leben lang mit seinen Depressionen kämpft und dabei über 80 Jahre alt wird, der ist ein ausgeprägter, ein sehr deutlicher Überlebender. Das führt uns zu einem weiteren Aspekt seines Lebenswerks, den wir im Rahmen dieser Albumpräsentation gleich mitbeleuchten wollen: Sein lebenslanges und oft verzweifeltes Ringen mit den Bildern eines Gottes, der dem menschlichen Leid unerbittlich und gewaltvoll gegenüber steht. Aus welchen Quellen und Erfahrungen sich die alttestamentlichen Vorstellungen bei ihm speisen, das wissen wir nicht, doch wir haben da eine Spur.

Es geht um Gewalt (in welcher Form auch immer) und um das Vertrauen von Kindern in ihre Eltern (die ja zunächst als ihre irgendwie allmächtigen Schöpfer erlebt werden). Und es geht um die absoluten Normen (die unhinterfragbaren Regeln und Gesetze), in deren Namen (!) Kinder von ihren Eltern Gewalt (seien es Schläge oder sei es das Vorenthalten von unmittelbarer Zuwendung oder whatever) erfahren. In dem Lied “Story Of Isaac” treffen die beiden Ebenen (die persönlich-individuelle wie auch die allgemein-ideologische, religiöse, gesamtgesellschaftliche) vortrefflich aufeinander.

This might get so much darker than you ever expected. Dass Suzanne Vega den Song 1994 covert, nachdem sie sich Jahre zuvor mit ihrem Hit “Luka” auf den Weg zur Verarbeitung ihrer eigenen familiären Gewalterfahrung gemacht hat – das ist immerhin auffallend. Und wie viel unhinterfragbare (weil im Namen Gottes) Gewalt in dieser ganzen Opferung-Isaaks-Geschichte steckt, dem haben wir selbst einmal in der Sendung “Abrahams Nebenwirkungen” nachgespürt. Ihr kennt uns, wir bringen gern auf Gedanken “aber wir deuten nur an” (wie Thomas Bernhard sagen würde).

Eine sehr schöne (weil aus persönlichem Erleben heraus entwickelte) Rezension des Albums “You Want It Darker” hat übrigens Dirk Knipphals für die taz geschrieben …

 

Endlich Sommer Unendlich

Perlentaucher Nachtfahrt am Freitag, 13. Juni um 22:06 Uhr“Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit.” Das ist der ganze Satz hinter dem Akronym DMD KIU LIDT, einem epischen Album der von uns sehr geschätzten Band Ja, Panik. Doch was steckt hinter der Traurigkeit? Etwa die Resignation vor der Angst, schon wieder einen Sommer zu verlieren, weil uns die Getriebemühle des Bezahlenmüssens in immer noch grauslichere Hektischkeiten und Stressereien zwängt? Wonach richtet sich die Geschwindigkeit der Gesellschaft? Nicht nach den unterschiedlichen Kapazitäten der Menschen, aus denen sie ja eigentlich besteht, möchte ich anmerken. Und, dass Geschwindigkeit unweigerlich zur Schwindligkeit wird, wenn man sie lang genug steigert. Wie also diesmal dem Sommer begegnen?

Endlich Sommer UnendlichJetzt, wo er endlich da ist (oder eh wieder nicht) zwischen verregnetem Mai und fettigem Touristenauflauf. Wer darauf angewiesen ist, den Sommer über in der Stadt zu sein, sollte sich nicht verwundern, wenn die Symptome des Vielzuviel und die allergischen Reaktionen aufs Allesaufeinmal und Nochvielmehr  sich in einem sonst so schön sein könnenden Leben ausbreiten. Und denen ist mit keiner der eingeübten Schutzreflexe beizukommen, sei es “den Kampf aufnehmen”, sei es “die Flucht ergreifen” oder sei es “erstarren”, also “sich quasi vollautomatisiert totstellen”. Auch die durchaus beliebte (und weit verbreitete) Methode, seine einmal eingenommene Abwehrhaltung durch Alkohol, Religion, Staatsgläubigkeit oder andere Drogen zu kaschieren (und sie so aufrecht zu erhalten) zerbröselt mit tödlicher Gewissheit an der Endlichkeit der Biologie. Ein unbezwingbar erscheinendes Gebirgsmassiv der Ausweglosigkeit.

Endlich Sommer Unendlich“Das Leben ist seinem inneren Wesen nach ein ständiger Schiffbruch. Aber schiffbrüchig sein heißt nicht ertrinken. Das Gefühl des Schiffbruchs, da es die Wahrheit des Lebens ist, bedeutet schon die Rettung. Und darum glaube ich einzig an die Gedanken Scheiternder.”

José Ortega y Gasset zitiert von Arno Gruen.

Tauchen wir also noch tiefer (auch tauchen bedeutet nicht unausweichlich untergehen) und schauen wir einmal nach, wer oder was denn da “in Deckung gegangen” ist, am Anfang von allem, als wir so dermaßen verstört wurden, dass wir uns seither kaum noch wiederfinden, und wenn, dann in Fragmenten. Es muss übrigens kein einzelnes traumatisches Erlebnis gewesen sein, das uns zum Verstecken unser selbst veranlasst hat. So etwas kann durchaus auch schleichend, über Jahre hinweg, ohne Gewaltexzess, sozusagen atmosphärisch, durch bloße Gefühlsübertragung geschehen – und Jahrzehnte später finden wir uns als Mensch ohne Mitte wieder, irgendwie insgesamt instabil, weil dort, wo wir Vertrauen suchen, nichts ist als ein leeres Loch, aus dem heraus uns die eigenen Ängste angrinsen …

Endlich Sommer UnendlichDabei wollte ich doch Hoffnung verbreiten und eine Perspektive auf einen Sommer der unendlichen Möglichkeitsformen aufzeigen … Moment – da war noch was: Die Perle dieser zugegeben zunächst trüben Tauchfahrt, das kostbare Kleinod, das alles verändern kann. Dieses ursprüngliche “Ich”, das am Anfang “in Deckung gegangen” ist, um zu überleben. Dieses “Ich” bin ich selbst, bevor damals alles entgleist ist. Dieses ursprüngliche, unbeschädigte und auch unzerstörbare “Ich” lebt als eigentliche Kernperson jedes Menschen, wie tief verschüttet (wegen seiner Infragestellung) und wie gut versteckt (zum Zweck seines Überlebens) es auch sein mag. Es ist nach wie vor da, auch wenn wir es mit sprachlich-analytischem Denken nicht erreichen können (weil es sich “in Sicherheit gebracht” hat, lange bevor wir dieses ausgeprägt hatten). Es kann allerdings in einer “Sprache jenseits der Worte” mit uns kommunizieren.

Und wir können es spüren …

 

Die verwaltete Welt

Artarium am Sonntag, 8. Juni um 17:00 UhrWir werden verwaltet – und wir verwalten uns selbst. Wie meinen? Zwischen unseren letzten zwei Sendungen, die einigermaßen begeistert über die Leseperformance “NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns” berichteten, und unseren kommenden Radioarbeiten, die sich auf den anstehenden Sommer mit seinen illustren Festen beziehen, möchte ich quasi als Nachtrag zu all der “Kritischen Theorie” und “Dialektik der Aufklärung”, die uns an jenem denkwürdigen Abend im Literaturhaus regelrecht “einverdichtet” wurden, ein legendäres Gespräch mit dem Titel “Die verwaltete Welt” von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Eugen Kogon (aus dem Jahr 1950) zu Gehör und vor allem zu Gespür bringen. Denn es kommt sehr darauf an, wie sich die Herren dabei anfühlen:

Die verwaltete Welt“Herr Professor Horkheimer, Herr Professor Adorno, ich wollte unser Gespräch über die verwaltete Welt beginnen mit der Feststellung, dass der moderne Mensch herumirrt – suchend nach seiner Freiheit. Und die Art, wie ich eben zu unserem Gespräch gekommen bin, und wie ich weiß, dass auch sie kamen, die erinnert mich sehr an diesen Zustand.

Jetzt, vor einer halben Stunde, sollte ich bereits woanders sein. Und von ihnen, Herr Professor Horkheimer, weiß ich, dass sie in einer Viertelstunde bereits in Bad Nauheim sein sollen. Und wir wollen uns doch ausgiebig, ruhig und vernünftig über dieses so enorm wichtige Thema unterhalten: Die verwaltete Welt. Und da sitzen wir also, sozusagen zitternd, nervös, weil andere Termine auf uns warten. Von diesem Zustand müssen wir frei werden.

Ich für meine Person werde also jedenfalls bei unserem Gespräch jetzt so tun, als ob ich beliebig Zeit hätte. Und ich denke, dass aus diesem “als ob” eine Wirklichkeit werden kann. Und das ist, glaube ich, genau das Thema unserer Unterhaltung: Ob es möglich ist, eine solche Haltung einzunehmen, und daraus eine neue Wirklichkeit zu machen …”

 

Es fasziniert doch immer wieder, wie aufmerksam die drei Herren in ihrem Gespräch auf einander Bezug nehmen und wie präzise, ja geradezu druckreif sie nach all der Erniedrigung und Lebensgefahr, die sie während der Nazizeit erlebt haben, hier ihre Überzeugungen ausdrücken. Dies mitanzufühlen, macht auch jüngeren Menschen, die nicht fachspezifisch in Geschichte, Philosophie oder Sozialkritik vorgebildet sind, eine Denkweise zugänglich, die uns allen immer noch dabei helfen kann, uns in der zunehmend unübersichtlich werdenden Welt, in der wir leben, zurecht zu finden …

Wie aktuell ihre Gedanken für unseren Umgang mit Zeitnot, Termindruck und Stress sein können, das erklärt sich aus dem oben abgedruckten Einstieg in jenes Gespräch sozusagen von selbst.

 

Hören sie genau hin …

 

Wer straft wen, warum und wieso? Und was sind eigentlich Gefangenenschreiben?

Sendetermin: Dienstag, 3. Juni 2025 um 20 Uhr auf der Radiofabrik Salzburg

Wer sitzt eigentlich im Gefängnis – und aus welchen Gründen? Nicht zum ersten Mal werfen wir einen kritischen Blick auf das System Strafvollzug und hinterfragen, wer von unserer Gesellschaft bestraft wird – und wer nicht. Dabei werden wir in dieser Sendung Gefangenenschreiben als Akt der Solidarität und politischen Haltung und Anlaufstellen für Beratung und Unterstützung genauer vorstellen.

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Eine Besichtigung des Wahns

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 25. Mai – Gestern waren wir dann also leibhaftig im Salzburger Literaturhaus, um dem entschieden “unsalzburgischen” Programm NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns beizuwohnen. Wir wollten wissen, wie sich so ein “Abend gegen Irrationalismus und instrumentelle Vernunft” anfühlen würde, wenn wir ihn livehaftig erleben. Und natürlich auch, wie sich diese dichte Darbietung von Erlesenem, Empfundenem und Selbstweitergedachtem im nachhinein auf unser Selbst- und Weltverständnis auswirkt. Waren unsere beschwingten Erwartungen aus der Sendung vom letzten Sonntag doch übertrieben begeistert ausgefallen? Diese Frage beantwortet am besten ein anderer Besucher, der zum Abschied anmerkte: ­“Da fühlt man sich auf ein Mal nicht mehr so allein auf der Welt.” Ja, es hat uns berührt

Eine Besichtigung des Wahns (Christopher Schmall)“Wirklichkeit zur Kenntlichkeit entstellen – das ist Satire. Von wem auch immer dieses Zitat erstmalig stammt, es ist ebenso wahr wie auf diesen Abend, der sich “Besichtigung” nennt, zutreffend. Zumal wir im Zuge unserer Teilnahme die uns tagtäglich aufs Grausigste umbrausenden “Realitäten” nicht nur durch die Brille der kritischen Theorie sondern auch durch die Sichtweisen der Herren Ebermann, Mense und Thamer besichtigen durften, was eine sehr angenehme “ironische Distanz” zu den doch einigermaßen verstörenden Schrecknissen des Weltgeschehens bewirkte, auf dass sich ganz neue Freiräume im Denken, Fühlen und Handeln öffneten, ein zugleich poetischer wie auch therapeutischer Akt! Auf die Art und Weise möchte man “die Realität” (ein von den Realitätern dieser Welt gekaperter und für ihre Interessen uminterpretierter und somit missbrauchter Begriff), möchte man “die Realität” also noch viel öfter als das wahrnehmen, was sie ihrem Wesen nach eigentlich ist: “unsere Wirklichkeit, die wir selbst bestimmen und gestalten können. Und weil der Mensch ein Mensch ist, braucht er dazu was zum Fressenaber keine Moral. Die Richtschnur menschlichen Handelns kam im Programm kurz vor der Pause zum Ausdruck, und zwar wörtlich so:

“Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die Hoffnung gegeben.”

Sie wollten die Aufklärung vor sich selbst retten. Sie wollten eine Idee von Vernunft entwerfen, die Auschwitz unmöglich machen würde.

Ja, ich weiß … aber ich glaube, das funktioniert nicht oder es funktioniert nicht mehr. Die Vernunft ist nicht mehr zu retten.

Aufklärung?

Was bleibt uns denn sonst … aber auch die stößt hier überall jeden Tag an ihre Grenzen.

Was brauchts dann?

Empathie

Solidarität

Zärtlichkeit

Naturschönheit genießen können

Die Fähigkeit, sich und andere zu lieben

Die Fähigkeit, selbst zu denken

Gesellschaftlichen Reichtum ganz anders denken

Verweigerung – die Fähigkeit zum Widerspruch

Widerständigkeit

Ungehorsam

Unangepasstheit

Unanständigkeit

Unvernunft

Unvernunft im Dienste der Vernunft

…..

 

Rings und Lechz

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 18. Mai – – Ernst Jandl hat die Frage nach der Unterscheidbarkeit von Links und Rechts einmal mit folgendem Gedicht beantwortet: “manche meinen, rinks und lechts sind schwel zu velwechsern. werch ein illtum!” Und dem wäre nun auch wirklich nichts mehr hinzuzufügen, wenn die Frage nach Links und/oder Rechts sowie der ganze Wahnsinn (nicht nur der Sprache) sich nicht doch immer wieder aufdrängte und nach einem eigenen Standpunkt verlangte. Ich zum Beispiel habe vor Jahren, angespürs der mich umflutenden Verhältnisse, die ein von der Norm abweichendes Leben mit aller Gewalt zu verhindern trachten, jenes Gedicht in meine Situation übersetzt und quasi weiter gejandlt: “Verzweifelt blick ich rings und lechz – nur Angepasste links und rechts.” Sogar ein Schüttelreim, schau her …

Rings und LechzNun haben einige wackere Streiter für das Gute, Wahre und Schöne (sand de Buam ned fesch?) aus der Radiofabrik zu Salzburg eine sehr unsalzburgische Veranstaltung an Land gezogen, und zwar “NORMAL – Eine Besichtigung des Wahns” von und mit Thomas Ebermann, Thorsten Mense und Flo Thamer. Und dankenswerterweise gleich als szenische Lesung ins Literaturhaus gebracht, wo dieses satirisch und multimedial gesellschaftskritische Programm mit dem Untertitel “Ein Abend gegen Irrationalismus und instrumentelle Vernunft” am Donnerstag, 22. Mai um 19 Uhr stattfinden wird. Sowas dürfen wir uns nicht entgehen lassen, zumal die unglaublich dichte, dabei zugleich weise und witzige Machart des Vorgängerprogramms “Heimat – Eine Besichtigung des Grauens” nicht nur persönliche Erkenntnis (mit bewusstseinserweiternder Wucht) verspricht, sondern eben auch rings im Publikum alles andere als angepasste, gleichförmige, ignorante und sonstwie hässliche, abtörnende Menschen erwarten lässt. Ringsund Lechz!

Gestern hab ich mir die ganze zweieinhalbstündige Heimatveranstaltung reingetan. Im ersten Teil bin ich verdauungsbedingt kurz weggedöst, nur um dann kurz vor der Pause mitten in einer ungemein dichten Text- und Bildcollage beim Thema “Heimat ist ein zutiefst faschistischer Kampfbegriff” im wahrsten Wortsinn hochzuschrecken und meiner Nazifamiliengeschichte zwischen Heimatwerk und Heimatkunde wieder zu begegnen. Verstörend! Und wenn wir den Bogen zu “normal” spannen, landen wir bei Bedeutungen wie “der Vorschrift entsprechend” aber auch “geistig gesund”

 

Der Wahnsinn der Normalität

 

Bluescafe vol. 5

In der fünften Folge des Bluescafe, das wieder auf den Songs basiert, die beim Live-Bluescafe in Hallein gemeinsam musiziert wurden, finden sich diesmal:
Big Bill Broonzy, Sleepy John Estes, Freddie King, Ray Charles oder Taj Mahal.
Auch einen spontanen Live-Besuch im Studio hat es diesmal gegeben – aber leider ohne musikalische Kostprobe.

Nachzuhören unter: https://cba.media/709051

Hit Me Hard and Soft

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 11. Mai – Heute begeben wir uns in ein noch nie zuvor gewagtes Experiment: Wir spielen ein ganzes Album, und zwar “Hit Me Hard and Soft”, das aktuelle Werk von Billie Eilish, das bei uns beiden doch einigermaßen unterschiedliche Gefühlsreaktionen hervorgerufen hat. Und außerdem auf unserer konsumismuskritischen Grundeinstellung ambivalent flirrend herumtanzt wie ein zutiefst liebenswerter Andenkenstandler im allerfürchterlichsten Souvenirshop des Weltmarktwahnsinns. Einigen wir uns auf einen gemeinsamen Blickwinkel: Das popkulturelle Phänomen oder die Kunstperson als schillernde Figur, auf die jeder/jede/jedes auch wirklich jegliches projizieren kann, was möglicherweise kaum erkannt in uns allen schlummert und unbewusst längst feuchtfröhlich in uns umgeht.

Billie Eilish - Hit Me Hard and SoftDenn die sympathische Seite der globalen Merchandiselerin ist ihre Ab- und Hintergründigkeit, mit der sie den allzu platten Bedeutungs- und Zuordnungsmechanismen in immer neuen Selbsterfindungen entkommt, eine Kunnst, die auch wir nur allzu gern anwenden oder die wir uns immerhin sehnlichst herbei wünschen. Grund genug, unsere unterschiedlichen Gefühle “auf einander los zu lassen” und dabei völlig ungeplant zu erleben, was geschiehthard and soft

“She’s the headlights, I’m the deer”

wiedereinmal dieses zaubermächtige gefühl, mit wucht und völlig ungeplant erfasst zu werden, fast schon umgerissen, von musik, von klangkunst, die mich mit jeder neuen wendung weiter in so vertraut-eigensinnliche sphären beamt, dass ich zu schwingen und vibrieren beginne : HIT ME HARD AND SOFT trifft mich hartzart, traumklar, lebhaft-still : nimmt mich in den arm und wirft mich ins weite oder ich sinke hinauf zu den gipfeln der see, in die wolkenschluchten, dort weiß ich dich tanzen, dort sind wir uns nahrung, öffnen wir uns wie türen : wie viele türen im inneren, im zwischen, zwischen uns, zwischen uns und dem schwirrenden glück? sind wildblumenwiesen, wenn wir wollen und gleichgefiedert im freien hall, im heilenden fall ins blau der augen des drachen, in angst und verzweiflung, doch wir scheuen nicht zurück : fühlt sich an wie sterben : fühlt sich wie liebe an : fühle dann nichts mehr oder denke das nur : fühle mich hundertfach im raum und sehe mich hundertfach im raum fühlen, wie ich hundertfach im raum sehe, was ich kaum zu fühlen bereit bin, aber ich vertraue – auf was oder wen? auf dich? mich? unsere liebe? aufs vertrauen? den zufall? auf den ominösen fluss des lebens? fuck it! eh wurscht! egal was mich bei verstand hält oder mir mut gibt weiterzumachen, zuversicht, es quillt aus mir : ich quelle aus mir und verwandle, was auch immer an zerbrochenem, verletztem, abgespaltenem oder eingepflanztem durchs gedärm wuselt : du, schmetterling, du, was kannst du uns von der leere erzählen? liebst du die sonne, so wie ich? und das meer? hinterlässt du abdrücke im sand? lügt der wind, hier, am kap, wo mich jede*r kennt? mein gesicht auf den globus gepinselt als wäre ich mehr als ich weiß, dass ich sein könnte : und größer : das größte ich, das ich sein möchte?

“Did I cross the line?”

Billie Eilish, in erneuter zusammenarbeit mit ihrem bruder FINNEAS, ist ein herrlich vielseitiges und musikalisch anspruchsvolles album gelungen, das durch die detailverliebte produktion der soundstimmstimmungsschichten besticht, aber mit den texten, die verschiedenste facetten von liebe thematisieren, die wunderschönen, lustvollen und glücklichen, wie auch die abgrundtief schmerzenden, gewaltvollen, übergriffigen, verlogenen und obsessiven seiten, noch dieses eine besondere, etwas andere gewürz beinhaltet, durch das es zu einem herausragenden werk wird :
Billie Eilish ist eine ungewöhnliche persönlichkeit in der pop-maschinerie, die sie gekonnt zu bedienen gelernt hat und gleichzeitig mit ihrer unverstellten, eigenwilligen art fast ad absurdum führt : sie ist und bleibt sie selbst, mit ecken und kanten und dunkelheiten und leerstellen : wie wir alle

 

Hit Me Hard and Soft (Deutschlandfunkkultur)

 

Kunnst und Krempel

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 9. MaiKunnst schreiben mit zwei “n”. Das ist das Mantra der Möglichkeitsform, das sich von Anfang an durch unsere gemeinsamen Sendungen zieht wie ein roter Faden (nicht zu verwechseln mit einem faden Roten). Und Kunnst in diesem Sinn ist es auch, aus den zahllosen am Ufer unserer Seinsinseln aufgetauchten Artefakten die eine oder andere Collage zu zaubern, die all den irgendwo anders verschwundenen und auf verschlungenen Wegen zu uns gelangten Seltsamkeiten der Menschheitsgeschichte einen bislang noch nicht gesehenen Sinn, eine sonst so nicht übliche Sichtweise oder gar einen frei erfundenen Zusammenhang verleiht. Auf dass uns die Bretter vor den Köpfen nicht die Welt bedeuten, sondern Baumaterial unserer eigenen Schöpfung werden.

Kunnst und Krempel“Kunnst da des amoi gonz ondas vuastölln?”, hieße das im Dialekt und darin wird unsere Sinnstiftung deutlich: Kunst als “könntest du” nicht nur auszusprechen, sondern auch von vornherein so zu denken. Dadurch wird alles, was wir hier im Radio (und anderswo) aufführen, zu einer Einladung, sich auf neue Sichtweisen einzulassen und dabei die Erfahrung zu machen, etwas bislang nicht für möglich gehaltenes aus sich selbst heraus und völlig eigeninitiativ zu erschaffen. Wir machen also das, was uns Freude bereitet, nennen wir es “unsere Kinder zur Welt bringen, ihnen beim Aufwachsen zuschauen und sie selbständig ihren Weg finden lassen”. Und wir tun das öffentlich und zugleich geborgen (im Schutzraum unseres Radiostudios – es könnte auch in einem Film oder auf einer Bühne sein). Für uns selbst und für alle, die dabei sind indem sie mit(er)leben und so wiederum

Kunnst und KrempelImmer noch werden Hexen verbrannt
Auf den Scheitern der Ideologie
Irgendwer ist immer der Böse im Land
Und dann kann man als Guter und die Augen voll Sand
In die heiligen Kriege ziehn

Konstantin Wecker schrieb seinen Text “Hexeneinmaleins” in den 1970er Jahren. Kurz nach dem “Anschluss” Österreichs an Nazideutschland 1938 verbrannte man am Salzburger Residenzplatz symbolisch die Bücher jener Autor:innen, denen die damals herrschenden Verbrecher so etwas wie “undeutschen Geist” unterstellten. In der Sendereihe Artarium haben wir heuer unter dem Titel “Unzerstörbar” an dieses “Vorspiel zur späteren Menschenverbrennung” (wie es auf der Gedenktafel heißt) erinnert – und dabei ins Hier und Heute der nachfolgenden Generationen geschaut.

Kunnst und KrempelWenn wir nun das Gerümpel der Geschichte mit dem seelischen Sperrmüll vergleichen, der uns allen innelebt, dann stellen wir fest, wie gar nicht so verschieden sie sind. Was sich da über Generationen durch Miterleben wie Verdrängen in uns angesammelt hat, das geht (wenn wir uns wiederum als Inseln betrachten) auf keinen Humboldtstrom. Wie gerne würden wir das alles in die Tonne mit der Aufschrift “hat sich nie ereignet” treten – doch worin sollten sich dann unsere Menschenmitkinder spiegeln, um sich zu erkennen? In der Fernsehwerbung? Der Influencer-Pandemie? Der vergangenheitsbefreiten Scheinwunscherfüllung aus der Propagandaküche der globalen Heilsversprecher/Heilsverbrecher? Hinfort, Konsumissimus! Im Angesicht des unendlichen Hasenspiegels (Spiegelhasen?) werden wir den Unterschied zwischen künstlich und Kunst wahrnehmen. Kunnst?

 

Wenn Kunnst von Kommerz käme, würde sie Wurrst heißen.

 

PS. Mit lieblichsten Nachdruck empfehlen wir den Dokumentarfilm NONKONFORM (ZDF Mediathek) über Dietrich Kuhlbrodt, der als Staatsanwalt Nazitäter verfolgte, mit Rainer Werner Fassbinder flirtete, über Die tödliche Doris philosophierte und in Schlingensiefs “Das Deutsche Kettensägenmassaker” eine Hauptrolle spielte (um hier nur einiges anzustupsen). Kongenial begleitet mit Musik von Helge Schneider