Listening to You

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 12. September – “Listening to You” ist zuallererst ein Thema, das die Besonderheit der Radiosituation verkörpert. Erleben wir uns dabei doch einerseits als Erzählende, andererseits als Zuhörer*innen des uns jeweils Dargebrachten – je nach dem, ob wir gerade eine Sendung machen oder eine solche als Publikum zu uns nehmen, auf uns wirken lassen, einfach gesagt anhören. In beiden Fällen geschieht (merklich und/oder unmerklich) einiges in unserer Innenwelt, das uns zu ganz neuen Sichtweisen der Wirklichkeit herausfordern kann. Der BBC-Pionier John Peel hat diese gewaltige Kraft – ein Alleinstellungsmerkmal des Mediums Radio – einmal so beschrieben: “It allows the imagination of the listener to flourish.” Doch das ist nur ein Aspekt unserer Betrachtungen rund ums “Hören”.

Listening to YouEin anderer ist die Herkunft unseres diesmaligen Sendungstitels. Der stammt nämlich aus der Rock-Oper “Tommy” von The Who – genauer gesagt aus dem für die persönliche Entwicklung ihres Protagonisten wesentlichen Schlüsselsong, und zwar “See Me, Feel Me – Listening To You”, der zudem das Finale des wegweisenden Werks bildet – hier in der filmischen Umsetzung aus dem Jahr 1975:

See me, feel me
Touch me, heal me

Listening to you, I get the music
Gazing at you, I get the heat
Following you, I climb the mountain
I get excitement at your feet

Listening to YouRight behind you, I see the millions
On you, I see the glory
From you, I get opinions
From you, I get the story

Womit wir bei einer weiteren Inspirationsquelle angelangt wären, der Ausstellung 8 Milliarden, kuratiert von Andrea Lacher-Bryk, aus deren Installation “Silentium?” diesmal die Fotos zum Artikel (mit freundlicher Genehmigung) herkommen. Zwischen “the deaf, dumb and blind kid” (Tommy) und den Allzuvielen gar nicht mehr Vorstellbaren hier auf unserem Planeten gibt es ein Bedürfnis, einen Drang, eine Notwendigkeit, nämlich Kommunikation im Sinn einer dialogischen Verbindung jenseits des breitwandigen Massengeplärrs, das uns allerorten umtost, des multimedialen Dauertinnitus, der uns rund um die Uhr bemarktschreiert, des pseudofröhlichen Unterhaltungslärms, der uns von außen wie von innen bedrängt und belästigt und der nur einem einzigen Zweck zu dienen scheint – uns von jeglicher Resonanz mit Menschen, mit Tätigkeiten und so auch letztendlich mit uns selbst abzulenken. “Denken ist Zwiesprache mit sich selbst. So hat Hannah Arendt das beschrieben.

“Sich selbst spüren” wäre dabei allerdings Voraussetzung.

Listening to YouDenn die weiteren Aspekte des Begriffs “Listening” – oder eben “zuhören”, jemand oder etwas “anhören”, auf jemand oder etwas “hören” im Sinn von “aufmerken”, “beachten”, also “achtsam sein” und überhaupt “wahrnehmen” – gehen weit über die gebräuchlichen Beschreibungen des Hörvorgangs hinaus: Trommelfell, Hammer, Amboß, Dingdingbummbumm! Vielmehr dringt die Vielheit der Bedeutungsschattierungen tief in die Bereiche des wesensmäßigen Hörens, des Hörens als Haltung, als innere Einstellung, man könnte auch sagen “des Hörend Seins” vor – und berührt dort so gleichnishafte Darstellungen wie das Jesuswort “Wer Ohren hat zu hören, der höre …” Lassen wir uns von der Vielschichtigkeit der möglichen daraus entstehenden Zusammenhänge zu neuartigen Wahrnehmungen inspirieren, die nicht “auf den ersten Blick” zu verstehen sind, sondern die uns eine Geschichte erzählen, die sich uns erst im Dialog (auch jenseits der Worte) erschließt.

Mit allen (anderen) Sinnen hören also …

 

Best Of Albanien

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 31. August – Bevor uns am Ende des Sommers der Schmäh ausgeht, spielen wir noch ein Album von einem feinen Schmähtandler namens Rainald Grebe. Allerdings kein ganzes, denn “Albanien” dauert insgesamt eine Stunde und 13:44 Minuten, was uns zur heutigen (siehe Titel) Best-Of-Auswahl inspiriert hat. Der zwischen allen Zuordnungen umhupfende Multikünstler (Musiker, Komponist, Kabarettist, Schauspieler, Regisseur, Collagendichter und … was weiß ich) hat schon in vielen unserer Sendungen eine wesentliche Rolle gespielt. Auffallend oft war er auch in der legendären Sendereihe “Ethnoskop” aus Innsbruck zu hören, was uns auf die Sendungsmacherin und Kulturvermittlerin Hemma Übelhör aufmerksam werden ließ und auch zu ihrer Auszeichnung mit dem Radioschorsch 2019 führte.

Best Of Albanien (Rainald Grebe)Die hat ja auch spannende Namensgleichheiten, betrachtet man etwa das bewegte Leben des Journalisten Alfons Übelhör. War der jetzt einer von den Guten oder einer von den anderen? So einfach ist das alles nicht, wenn Geschichte aus erzählten Geschichten besteht und nicht aus irgenwessen (und damit sind auch wir gemeint) als endgültig behaupteten Interpretationen. Memory ist immer “under construction” und “Wir müssen auch unsere Eltern in ihrem historischen Kontext verstehen.” (Peter Hodina)

Siehe dazu auch “Tantes Inferno”.

Schnitt.

Was genau ist (auch in dem Zusammenhang) das Besondere an Rainald Grebe, das seine Musik und seine Texte für verschiedenste Gelegenheiten (vor allem, wenn es sich um komplexere Themen handelt) geeignet sein lässt? Ich möchte hier noch einmal den Begriff der Collageim speziellen Sinn der Textmontage – ansprechen, mehr noch dreht es sich bei seinen Arbeiten (so wie diesfalls auch auf “Albanien” wieder gut zu hören) um die meisterliche Kunst des Pastiche. Nur verwendet er dafür nicht bloß “von anderen textlich ausgesagtes”

… sondern darüber hinaus Zitatfragmente, Gedankensplitter, Gefühlsmetaphern und sich verändernde Erinnerungen, schlüpft zudem während eines Liedes auch schon mal in mehrere Rollen, die all das wiedergeben – und konstruiert so jeweils vielschichtige Wirklichkeiten, die je nach unserem jeweiligen geistigseelischen Aggregatzustand immer wieder aufs neue anders und für die jeweilige Situation, Fragestellung oder Themenwahl als “wie die Faust aufs Auge” passend erlebt werden. Das ist eine Besonderheit, die mir bei Rainald Grebe inzwischen auffällt.

Auch sehr schön und im weiteren Sinn zum Begriff eines multimedialen Pastiche passend ist seine (hatte da nicht auch die Kapelle der Versöhnung ihre Finger im Spiel?) formale Zitierlust. Aber wo endet das Zitat (die “Coverversion”) und wo beginnt die eigenkreative Inspiration durch das Original? Ein frühes Beispiel ist “Captain Krümel”, das unverkennbar an Billy Joels “Captain Jack” erinnert. Auf “Albanien” begegnet uns wieder ein (wenn auch partieller) Billy-Joel-Einfluss und zwar aus “We Didn’t Start The Fire” in einigen Passagen von “Typisch Deutsch”.

Unterkomplex dürfte es also (auch am Ende des Sommers) nicht werden …

 

Tantes Inferno

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 24. August“Wir müssen unsere Eltern in ihrem historischen Kontext verstehen.” Dieses Zitat von Peter Hodina erweist sich als umso zutreffender, je mehr und je länger ich mich mit der Geschichte meiner Familie beschäftige. Und dabei habe ich über die Jahre so einiges entdeckt, was man vor mir unbedingt hätte geheimhalten wollen. So etwa die Verstrickungen meiner Tante in die Ideologie des Nationalsozialismus, deren schädigende Auswirkungen auf mich und meine Mutter ich erst langsam (im Rahmen einer Traumatherapie) zu verstehen beginne. Noch vor einigen Jahren habe ich einen viel zu euphemistischen Nachruf auf sie verfasst. Heute sage ich rückblickend: “Es war die Hölle.” Das Kind darf sich wieder spüren – und auch das titelgebende Wortspiel mit “Dantes Inferno” machen …

Tantes InfernoEs gilt also einiges zu berichtigen und auch die Geschichte(n) so zu erzählen, dass sie nie mehr hinter dem muffigen Vorhang des Schweigens und Vergessens zum Verschwinden gebracht werden können. Es gilt, sich selbst wieder zu begegnendort, wo man im tiefsten Inneren schon immer gewusst hat, was gespielt wird, wo man sich aber schon zu lange nicht bewusst hinzuschauen getraut hat, weil die eingeflößte Todesangst vor der Wahrheit viel zu groß war. Wie zersetzend sich eine nationalsozialistische Erziehung von frühester Kindheit an auswirkt, das hat Sigrid Chamberlain in ihrem Buch “Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind” minutiös dargestellt. Der eigentliche Skandal aber besteht darin, dass jener zutiefst menschenverachtende “Erziehungsratgeber” von Johanna Haarer, der darin die Hauptrolle spielt, auch nach Kriegsende immer wieder neu aufgelegt wurde (zuletzt 1987), bis in die 2000er Jahre als Lehrmaterial für die Ausbildung in Säuglingspflege verwendet wurde, und dass die kinderfeindlichen Erziehungsmethoden, die solchem auf Gehorsam und Funktionieren abzielenden “Kinderabrichten” innewohnen, nach wie vor von einigen sogenannten Experten als sinnvolle Maßnahmen angepriesen werden. DAS macht hilflos – und wütend.

Dabei muss es aber nicht bleiben: “Denn ist ein Buch, das geschrieben werden muss, erst einmal geschrieben, ist das Grauen in Worte gebannt. Das bedeutet nicht unbedingte Heilung, doch Linderung für die Seele. Schreiben ist selbstbestimmtes Handeln, es befreit aus der Opferrolle.” Zitat aus Misha Schoenebergs “Mein Vater, Auschwitz und der 7. Oktober”. Ein solches Buch, das ich gerade lese, ist der Roman “Wenn das der Führer wüsste” von Otto Basil (ein sträflicherweise kaum bekannter österreichischen Publizist und Schriftsteller), der mir Tantes Inferno zu lindern vermag.

Meine eigene Erzählung beginnt mit dieser RadiosendungWas hat es mit dem von mir erlebten und überlebten Inferno – und mit meiner Tante – auf sich?

Wir öffnen eine Zeitkapsel …

 

Das untergehende Festspielhaus

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 17. August — “Die Felsenreitschule fühlt sich an wie ein schwarzes Loch, das einem, sofern man dort tagein, tagaus arbeitet, die Lebensenergie aussaugt … to be honest, es ist ein sinkendes Schiff.” So ungefähr beschrieb der Hase seine gesammelten Eindrücke als Kantineur im Festspielhaus, und zwar in unserer jüngsten Nachtfahrt (das ganze Gespräch ist hier ab 02:08:27 gut zu hören). Von dieser Wahrnehmung ausgehend machen wir uns auf die Suche nach den Ursachen für derlei im wahrsten Wortsinn kraftraubende Gegebenheiten. Ist das Haus vielleicht verhext? Sind wieder mal die Nazis schuld? Welche blutigen Rituale fanden dort statt? Worin besteht das Menschenopfer, das wie unter einem Wiederholungszwang alltäglich dargebracht wird – und von dem niemand spricht?

Das untergehende FestspielhausMeine Tante war nazistisch und meine Mutter war narzisstisch gestört – könnte darin womöglich eine Erklärung für den in diesem schönen Salzburg und in seinem weltberühmten Festspielhaus konzentrierten Weltwahnsinn liegen? Ich meine den Eindruck des aussaugenden Abgrunds, der den totalitären Narzissmus prägt. Die Weltmacht Wirtschaft funktionierte dann ebenso wie eine narzisstische Persönlichkeitdu musst um dein Leben ihre Wünsche erfüllen bis du ausgesaugt bist, während sie sich auf deine Kosten ihren schönen Schein poliert (hinter dem sie nichts anderes ist als schlicht Nichts (und dieses Nichts saugt alles, was nicht Nichts ist, in sich auf, um wenigstens vorgeben zu können, irgendwas zu sein). Und aus all der von uns geraubten Lebenskraft bastelt sich die narzisstische Weltherrschaft dann ein scheinbar sauberes Image, das vorgibt, bedeutsam und wichtig zu sein, geradezu unverzichtbar für unser Wohlergehen. Aber all das ist nichts als Lüge

 

Jedermanns Totentanz

 

Im Schatten der Mozartkugel
ein schönes Bühnenbild vergangener Zutodequälung
versteinerte Herrlichkeit kunstsinniger Kirchenfürsten

Wir halten inne und atmen Salzburg
in aller Stille tief in unsere Seelenlungen ein
und fühlen dabei stets ein seltsames Befremden
in dieser Stadt, in deren Trubel Freiheit schon Ersticken ist und Luftholen zum Leben den Beigeschmack vermorschter Knochen birgt

 

*asthmatisches Röcheln*

 

Gleich füllt sich unser Sein mit Friedhof
und auf den Urnen der verbrannten Kinder tanzt Frau Moloch die bösen Fackelumzüge wieder für die dauernde Macht der Räuber, mit klapperndem Gebein ihre Eisenreifen, Ketten, Schlösser schwingend.

Mumifizierte Brüste hängen gummigleich von den Balkonen und spenden ledrig längst verdorrt den Dürstenden die Milch des Geldes: Stinkende Milch von früher, wir trinken dich morgens, wir trinken dich abends, wir trinken dich nachts, wir trinken und trinken, wir tanzen ein Loch in die Zukunft, wir tanzen und tanzen, der Tod ist ein Meister aus Salzburg, ihre Augen sind braun, sie spielt mit den Kunden und ruft:

„Kommt her zu mir alle, die ihr mühselig und belabert seid, ich will euch begütern. Ich will euch das Gewissen erleichtern und euch die Vergangenheit ungeschehen machen. Ich will euch die Steuern abziehen wie eine zweite Haut und mir feuchtfröhlich einen Lampenschirm daraus basteln zur höheren Ehre Gottes und zur Freude des zahlenden Publikums. Und fürchtet euch nicht, es ist alles herzig und putzig hier – und überhaupt nur Theater, das man als solches erkennt. Denn denen, die da schon besitzen, wird auch noch alles andere gegeben werden, vor allem aber das, was genommen wird jenen, die sowieso nichts mehr haben. Und so wird über die Weltbühne kommen ein ewiges Friedensreich, in welchem Gerechtigkeit herrschet nach meiner Facon – nämlich dass alles so bleibt, wie es immer schon war. Und das ist dann ein Theater, wie wir es hier haben wollen. Amen.“

Das letzte Licht ist verlöscht. Kein Raunen geht durch die Menge. Regungslos sitzen die Festspielgäste auf ihren Polstersesseln. Sie sind in diesem einzigen, unendlich lang atmenden Augenblick endgültig ganz und gar zu Stein geronnen. Und niemand vermisst sie! Wenn in hundert Jahren ein neugieriger Mensch die Saaltüren öffnen wird und wenn der erste Sonnenstrahl mit einem Hauch frischer Luft ihre erstarrten Körper berührt, dann werden sie zu Staub zerfallen und sich in ihrem ewigen Nichts auflösen.

 

This is Capitalism …

 

Golden Years

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 10. August – Die Band Tocotronic ist seit ihrer Mitbegründung der Hamburger Schule ein nicht wegzudenkender Beitrag zur sowohl selbstdenkorientierten als auch gefühlsganzheitlichen Lebenswahrnehmung vielster Mitmensch*innen geworden. Vor allem aber sind sie eine Band, die nie in einer Pose verharrte, um jahrzehntelang als Folklorezombie ihrer selbst (und ihrer Szene) zur Gaudi ihres Stammpublikums (und zum Klingeln der Kassen) wiederaufzuerstehen. Untote Endlosschleifner immer einunddesselben gibt es eh schon zum Speiben zuviel. Spätestens seit ihrem enigmatischen Song/Video “Ich tauche auf” (gemeinsam mit Soap&Skin Anja Plaschg) wissen wir, dass Tocotronic irgendwie “out of the box” sind. Und somit stellen wir euch (und uns) heute ihr aktuelles Album “Golden Years” vor.

Golden Years von TocotronicWenn ich da hineinhöre und mir die Texte von Dirk von Lowtzow durchs Bewusstsein wehen lasse, dann bin ich mir nie so ganz sicher, was das jetzt eigentlich ist … Philosophie? Selbstaufdieschaufelnehmung? Spiritualität? Lebenserfahrung? Weisheit? Verlorensein? Glück? Abgrund? Oder alles zusammen? Über all die Jahre sind uns immer wieder einzelne Aufblitzungen ihres fürwahr vielgestaltigen Schaffens begegnet, haben sich eingebrannt oder sind leise in uns eingesunken, nur um dann andernorts, andernzeits wie wohlvertraut wieder aus uns aufzutauchen. Das eine oder andere Mal haben wir davon berichtet, so wie wir im Radio immer von dem berichten, was sich gerade in uns ereignet. Zu Beispiel in den Sendungen “Songtexte auf deutsch” oder “Zwischen Leben und Überleben”. Abgesehen von den ganzen Alben “Schall und Wahn”, “Nie wieder Krieg” und eben jetzt “Golden Years”. Und auch Musikalben wollen, so wie Gedichte, erlebt werden.

Denn die zuvor aufgeworfene Frage, was das jetzt eigentlich ist, diese unserem Hirn und seiner Arbeitsweise so tief innewohnende Suche nach dem Vergleichbaren, nach Einteil- und Zuordenbarkeit, sie muss an der flirrenden Vielgestalt tocotronischer Verweise zerschellenund führt so zwangsläufig ins Leere. Oder ins Unendliche. Ist da, jenseits der vorgegebenen Bedeutung, jenseits der vermeintlichen Sicherheit, jenseits der vielleicht lebenslang falsch verstandenen Systeme womöglich doch auch ein Urgrund – unter dem grund- und bodenlosen Abgrund? Das Leben spüren …

Das Leben lebt … Golden Years.

 

Drawing the Line

> Sendung: Perlentaucher Nachtfahrt vom Freitag, 8. August – Ich sitze vor einem leeren Blatt Papier und weiß nicht mehr, was ich mit diesem Sendungstitel eigentlich vorgehabt habe: “Drawing the Line”. Und ich zeichne eine vertikale Linie, ungefähr in der Mitte des quer liegenden Blattes, von oben nach unten. Und das Bild, das ich sehe, ist ein anderes geworden. Zuvor noch unendlich weiße Weite, die sämtliche Möglichkeit in sich trägt – und mich zugleich doch verunsichert, welchen von all den noch nicht sichtbaren Schritten ich gehen soll. Mit einer einzigen Linie wird aus der Leere ein Buch, ein Behältnis, eine Einladung zum Einsortieren. Links und Rechts sind auf einmal gut zu unterscheiden und zugleich auch wieder Teil eines größeren Ganzen. Es erscheint mir wie ein Wunder – eine Verwandlung aus dem Unbewussten.

Drawing The LineAuf ähnliche Weise funktioniert wohl auch “das Trennen”, von dem mir ein alter Freund unlängst erzählte. Gemeinsam mit seiner ersten Frau geriet er unmerklich (schleichend, wie er es nannte) in einen Zustand des Hinunterschluckens von vielen zunächst als störend empfundenen Wesensunterschieden, nur um die Harmonie der Verbundenheit oder der Symbiose nicht zu gefährden. Nach vielen Jahren stellte sich dann heraus, dass solches Vermeiden die Verbundenheit nicht nur nicht schützt, sondern sie sogar, ebenso unmerklich oder schleichend, geradezu zielstrebig zersetzt. Hmm. Abgesehen davon, dass wir über seinen Vorschlag “Wir sollten uns noch viel öfter trennen!” herzlich lachen mussten (und sofort beschlossen, dies im Rahmen unserer Freundschaft tatsächlich zu tun) – was ließe sich aus diesen Beobachtungen lernen? Kann es nicht sein, dass “Drawing the Line” als sanfter Akt der Selbstaussage oder als Einladung zum Unterscheiden unsere Beziehung zum jeweils anderen bereichert?

In unmittelbarer Nachbarschaft zu unserem Radiokunnstbiotop findet gegenwärtig in der Berchtoldvilla die Ausstellung 8 Milliarden statt, die uns einige Inspirationen rund ums Thema “Verschmelzen und Unterscheiden” bescherte. Speziell die Arbeiten von Johanna Hartung bringen es meiner Ansicht nach auf den Punkt: Unserem Werden und Entstehen liegt ein Naturprinzip zu Grunde. Aus der Verschmelzung von zwei Keimzellen wird durch fortwährende Zellteilung ein zuletzt einzigartiger Organismus. Sie (die Zellen) müssen sich trennen/unterscheiden, um die hoch spezielisierten Aufgaben des Systems Mensch zu erfüllen. Und in jeder einzelnen Zelle befindet sich die selbe DNA, die durch die eine ursächliche Verschmelzung zweier verschiedener Stränge entstanden ist – und die sich bei jeder weiteren Zellteilung als die immergleiche und zugleich wieder neu abbildet. Faszinierend. Wir sind also alle ohne Ausnahme bis in die einzelste Zelle hinein schon immer zugleich gleich und dabei genauso verschieden. Und wenn das so ist – und es ist tatsächlich so – dann sollte das doch auch für die anderen Aspekte unseres Lebens gelten: Für unsere Beziehungen, für unser Verhältnis zu uns selbst, für unsere Sicht auf die Welt und für unsere Kunst. Ich sitze vor einem leeren Blatt Papier und ich zeichne eine Linie

Drawing The LineDu kannst dich fast nicht mehr bewegen
Ich will mich wieder zu dir legen
Es gibt noch etwas zu erledigen
Bleib am Leben

Du hast dich fast schon aufgegeben
Aus dem Staub und in den Regen
Doch ich muss ganz deutlich sein
Ich lass dich nicht allein

Bleib am Leben

Drawing the Line. Damit man etwas trennen kann, muss es doch vorher verbunden gewesen sein, oder etwa nicht? Was aber, wenn dort, wo allgemein und üblicherweise davon ausgegangen wird, dass da unser “Urvertrauen” (aus der Geborgenheit bei der Mutter und in der Familie) herrührt, auf das wir im Verlauf unseres Lebens angeblich jederzeit zurück greifen können, nichts ist als das nackte Grauen? Können sich zwei zutiefst bindungsgestörte Menschen überhaupt jemals voneinander unterscheiden? Da ist es zunächst einmal gut, mit sich selbst entschieden “per Du” zu sein, finde ich.

Drawing the Line …

 

Medienfachperson

> Sendung: Artarium vom Sonntag, 27. Juli – Zwei Menschen lernen einen Beruf und erschließen sich mancherlei Möglichkeiten. “Medienfachmann/frau” wurde das bisher genannt, demnächst soll es dann “Medienfachkraft” heißen (was wir nicht soo poetisch finden). Darob, und weil die Radiofabrik (der Germ der Gesellschaft) den Beruf mit -mann/frau/* beschrieb, haben wir “Medienfachperson” zum Titel gemacht. Nach Hermes Phettberg hieße es wohl “das Medienfachy”Doch nun begegnen sich die zwei durchaus verschiedenen, wiewohl schon auch sinnverwandten Lernenden zum ersten Mal Live im Radio – und vergleichen ihre unterschiedlichen Ausbildungen: Luca Standler ist Lehrling in der Radiofabrik und Christopher Schmall nimmt am BFI-Kurs “Medienfachmann/frau Two in One” teil. Und wir dürfen neugierig sein

Medienfachperson… und uns in die Erlebniswelt ihrer Berufswahl hinein versetzen (lassen). Anmerkung: Wenn wir über “Sprache schafft Bewusstsein” nachdenken, dann wäre das ein klarer Fall fürs Mediopassiv. Wie ließe sich sowas “auf Deutsch” ausdrücken? Der Soziologe Hartmut Rosa … aber das würde jetzt den Rahmen sprengen. Jedenfalls hat das, was unsere beiden Menschys beschäftigt und begeistert (also womit sie sich herumschlagen und was ihnen wieder neue Perspektiven aufzeigt) viel mit Kreativität und neuen Ausdrucksmöglichkeiten zu tun. Wenn man sich in die oberbei verlinkten Lehrinhalte vertieft, dann entsteht der Eindruck, hier würde nicht bloß ein einzelnes Instrument erlernt, sondern eher ein ganzes Orchester und dazu noch wie man es sinnvoll dirigiert. Derlei versetzt einen im ersten Moment gern einmal in eine Art von “Hilfe! Hilfe!”-Überforderungsgefühl, das jedoch schon bald in ein neugierigmachendes “Boah, is des geil!”-Lernlustempfinden übergeht – und sich in weiterer Folge sogar zu einer echten “Ha! So geht des!”-Befriedigung auswachsen kann – und bei regelmäßiger Anwendung unweigerlich auch wird. Es geht doch nichts über den Gesichtsausdruck von jemandem, der/die gerade das entdeckt, was er/sie am liebsten mag, und dann sagt: “Des is sowos vo meins!”

Wie war das nochmal mit dem Andy Warhol?

Unlängst traf ich nach längerer Zeit wieder einmal eine dieser damals mit 14 recht ratlos wirkenden, von den Irgendwers gern mit dieser oder jener Begründung sprich Problemen sprich Diagnose ins schuldhafte Nichts ausgespuckten Gestalten, der mir von seiner “neuen Schule” erzählte, in der es genau um das geht, was ihn wirklich interessiert. “Weißt du”, sagte er, “ich hab mich zum ersten Mal freiwillig hingesetzt und gelernt. Das hab ich vorher noch nie jemals gemacht.” Ob Maschinenbau oder Medienfachperson oder  … was du noch nicht zu kennen glaubst, wiewohl du

es ja doch immer schon bist!

Wie war das nochmal mit dem Pinguin?